Dominic Nahr / NZZ
Einst wurde mit ihnen kurzer Prozess gemacht. Dann entdeckten gestürzte Diktatoren das Leben im Exil, protegiert von mächtigen Freunden. Heute heissen ihre Optionen nurmehr Russland oder Saudiarabien.
Er ging bei Nacht und Nebel. In den frühen Morgenstunden des 8. Dezembers flüchtete Bashar al-Asad aus seinem «Volkspalast» in Damaskus, zuerst auf eine russische Militärbasis – und dann weiter nach Moskau. Die «Abreise» sei nicht geplant gewesen, nie habe er sein Land verlassen wollen, hiess es einige Tage später auf seinem offiziellen Telegram-Kanal. Man habe ihn nur in Sicherheit bringen wollen.
Der Kreml liess verlauten, Asad sei aus «humanitären Gründen» aufgenommen worden. Das klingt zynisch bei einem Mann, der Syrien während fast eines Vierteljahrhunderts mit harter Hand geführt, der Giftgas gegen sein Volk eingesetzt hat. Und unter dessen Regime Hunderttausende umgebracht und in Gefängnisse gesteckt wurden. Doch der Fall Asad steht exemplarisch für den heutigen Umgang mit gestürzten Gewaltherrschern.
Tyrannen im Ruhestand – das gab es in der Geschichte lange nur, wenn die Macht dynastisch weitergegeben wurde. Sonst drohte Monarchen, Despoten und Diktatoren bei schwindender Macht nur Ungemach: Zurücktreten wie Politiker in Demokratien, das konnten sie schlecht. Verloren sie einen Machtkampf, wurde mit ihnen meist kurzer Prozess gemacht. Die Vertreibung war noch das angenehmste Schicksal, das sie ereilen konnte. Viel häufiger war der gewaltsame Tod, wenn sie ihrem Leben nicht schon selbst ein Ende gesetzt hatten – wie Hitler.
Natürlich gibt es auch andere Beispiele: Napoleon ergriff zweimal die Macht, verlor sie wieder und wurde zweimal «nur» verbannt. Robert Mugabe, prunksüchtiger Langzeitherrscher in Simbabwe, musste nach einem Militärputsch zurücktreten, ihm wurden aber Immunität und eine hohe Apanage gewährt. Der letzte deutsche Kaiser, Wilhelm II., befand sich, als er 1918 entmachtet wurde, gerade im belgischen Spa. Er setzte sich in die Niederlande ab und träumte von seiner Rückkehr: «Wenn Ihr mich braucht, ruft mich, ich bin jederzeit bereit zurückzukehren», schrieb er einstigen Untergebenen. Doch niemand rief ihn, es blieb ihm als letzte Leidenschaft: das Holzfällen auf seinem Anwesen.
Ins Exil zu gehen, wurde erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer Art Königsweg für taumelnde oder gestürzte Potentaten.
Mit Geld und Gold ins Ausland
Jeder fünfte Diktator, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seine Macht verloren hatte, flüchtete ins Ausland, wie die Politologen Abel Escribà-Folch und Daniel Krcmaric 2017 festhielten. Sie dokumentierten in ihrer Studie insgesamt 98 Personen, die in 52 Staaten Aufnahme fanden – am meisten in den USA, Russland, Grossbritannien, Frankreich und Argentinien.
Rund 84 Prozent dieser exilierten Diktatoren traten erst ab, als es nicht mehr anders ging: mitten in der Revolte. Zum Mahnmal für schlechtes Timing wurde Nicolae Ceausescu. Der rumänische Diktator ignorierte den Unmut seines Volks so lange, bis es zu spät war. Während der Flucht wurden er und seine Frau verhaftet und in einem Scheinprozess zum Tode verurteilt. Jenen, die sich rechtzeitig verabschiedeten, winkte indes fast immer ein geruhsamer Lebensabend.
Der Kalte Krieg war gewissermassen das goldene Zeitalter für Diktatoren. Auch noch so brutale Herrscher liess man gewähren, solange sie einem dienten – den ehemaligen Kolonialmächten, vor allem aber den beiden Supermächten USA und Sowjetunion. Sie erhielten Unterstützung aus dem demokratischen Westen wie dem totalitären Osten, solange sie als «Bollwerk» gegen den Kommunismus oder den Kapitalismus gesehen wurden. In der bipolaren Welt sah man diesen Kleptokraten zu, wie sie ihre Länder plünderten. Und wenn sie gestürzt wurden, suchte man ihnen einen sicheren Ort für den Ruhestand.
Ferdinand Marcos, Herrscher auf den Philippinen und lange grosszügig von den USA unterstützt, musste 1986 wegen eines Volksaufstands sein Land verlassen. Auf Geheiss von Ronald Reagan wurde er ausgeflogen, in einer Maschine, die gefüllt war mit Gold, Geld und Schmuck sowie einer Jesus-Figur aus Elfenbein. Der nunmehr arbeitslose Diktator lebte fortan in einer Luxusvilla auf Hawaii. Er plante einen Umsturz und die Rückkehr in seine Heimat, was aber misslang – wie die politischen Destabilisierungsversuche vieler anderer Exil-Tyrannen.
Ebenfalls im Jahr 1986 stürzte im mausarmen Haiti Jean-Claude Duvalier, genannt «Baby Doc». Er hatte die Macht von seinem Vater François geerbt, dem «Papa Doc» (der tatsächlich Arzt war), und sah sich als «président à vie», also auf Lebenszeit. Die Staatskasse hatte er um Hunderte von Millionen Dollar erleichtert. Dank guten Beziehungen zu Washington und Paris führte er schliesslich an der französischen Riviera ein Leben in Saus und Braus, zumindest vorübergehend.
Weniger glamourös endete die Geschichte des Schahs von Persien. Er hatte 1941 den Pfauenthron bestiegen, war davongejagt und schliesslich von den Amerikanern wieder installiert worden. Richard Nixon nannte ihn einmal einen «Diktator auf gutartige Weise», was in dessen Land aber immer weniger Menschen so sahen. In der Revolution von 1979 wurde der Schah gestürzt. Bevor der «König der Könige» aus Teheran abflog, sagte er: «Ich bin müde und brauche eine Pause.» Offiziell reiste er mit seiner Familie nur für «Erholungsferien» nach Ägypten. Es folgte eine monatelange Odyssee über Marokko, die Bahamas, Mexiko, die USA, Panama – nie gefiel es ihm oder durfte er länger bleiben. Er starb 1980, wieder in Ägypten, an den Folgen eines Krebsleidens. Da half es auch nicht, dass der Schah Millionen, wenn nicht Milliarden Dollar auf ausländischen Konten parkiert hatte.
Die sogenannten Fluchtgelder wurden erst später zum Gegenstand internationaler Rechtsstreitigkeiten. Lange konnten die abgetretenen Despoten ungehindert auf die frühzeitig ausser Landes geschafften Vermögen zugreifen. Auf dem Schweizer Finanzplatz etwa sah man wegen des Bankgeheimnisses keinen Handlungsspielraum, bis die Behörden nach dem Sturz des philippinischen Kleptokraten Marcos erstmals einschritten und seine Gelder per Notrecht blockierten.
Neue Jagd auf Kriegsverbrecher
Selbst die irrsten Potentaten kamen in jenen Jahrzehnten glimpflich davon. Idi Amin, der «Schlächter von Afrika», der sich 1971 an die Macht geputscht hatte, musste 1979 fliehen, als die tansanische Armee gegen ihn vorging. Er fand zunächst Unterschlupf bei seinem Freund Ghadhafi in Libyen, dann bei Saddam Hussein im Irak und zuletzt in Saudiarabien. Der Mann, der in seiner alten Heimat über 300 000 Menschen ermorden liess und in Ungnade gefallene Minister auch einmal den Krokodilen im Viktoriasee zum Frass vorwarf, lebte komfortabel als Diktator in Rente: in einer von der saudischen Königsfamilie bereitgestellten Villa in Jidda am Roten Meer. Einzige Vorgabe: keine politischen oder militärischen Aktivitäten, keine öffentlichen Erklärungen.
Ähnlich erging es Mobutu, dem «König der Diebe» mit seiner Leopardenfellmütze und dem Beinamen «Sese Seko Kuku Ngbendu wa za Banga» (übersetzt etwa: «der mächtige Hahn, der alle Hennen besteigt»). Er hatte Kongo während dreier Jahrzehnte ausgeplündert und fand nach seinem Sturz 1997 ebenfalls ein geruhsames Domizil. Zwar nicht wie erhofft in Frankreich, das den alten afrikanischen Verbündeten als zu grosses Reputationsrisiko betrachtete, aber immerhin in Marokko.
Aufnahme in Frankreich fand hingegen ein anderer Gewaltherrscher und Geldverschwender: Jean-Bedel Bokassa, der sich einst in seinem zentralafrikanischen Tropenreich zum neuen Kaiser Napoleon hatte krönen lassen. Er musste nach seiner Vertreibung zunächst mit Côte d’Ivoire vorliebnehmen, durfte später aber in seinem Schloss Hadricourt bei Paris residieren – bis er meinte, triumphal in seine Heimat zurückkehren zu können, wo er verhaftet und verurteilt wurde.
Doch die Zeiten änderten sich. Die Schurken dieser Welt haben heute mehr Schwierigkeiten, ein attraktives Exilland zu finden, wenn sie stürzen.
Der Grund ist das Völkerstrafrecht, das nach dem Kalten Krieg eine viel konsequentere Anwendung fand, durch die Schaffung von Sondertribunalen für die Verbrechen in Jugoslawien und in Rwanda in den 1990er Jahren – und vor allem des Internationalen Strafgerichtshofs mit Sitz in Den Haag, der seine Tätigkeit im Jahr 2002 aufnahm. Verfolgt werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, wenn eine nationale Strafverfolgung nicht möglich oder nicht gewollt ist. Rund 120 Staaten, unter ihnen alle Mitglieder der EU, haben das multilaterale Römische Statut des Internationalen Gerichtshofs unterzeichnet und sich damit verpflichtet, gesuchte mutmassliche Täter auszuliefern.
Goldene Fallschirme statt noch mehr Blut
Als Charles Taylor, der berüchtigte Warlord und Präsident Liberias, im Jahr 2003 zurücktreten musste, ging er nach Nigeria ins Exil – gegen die Zusicherung von Straffreiheit. Er lebte in einem herrschaftlichen Haus, beschützt von einem Polizeidetachement. Doch nach drei Jahren und heftigen Protesten von Menschenrechtsgruppen und westlichen Staaten liess Nigeria seine Garantien fallen. Taylor fand sich plötzlich vor Gericht in Den Haag wieder, wo er zu 50 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.
Taylors Schicksal wurde als Präzedenzfall gesehen. Und führte dazu, dass sich Gewaltherrscher seither noch genauer überlegen, ob sie freiwillig abtreten sollen. Oder sich bis zum bitteren Ende an die Macht klammern, wie es etwa der libysche Diktator Muammar Ghadhafi 2010 tat, ohne Rücksicht auf die Eskalation des Bürgerkriegs. In seinem Aufsatz «Should I Stay or Should I Go» hat der Politologe Daniel Krcmaric erforscht, dass Diktatoren deutlich weniger ins Exil fliehen, seit es eine ernstzunehmende internationale Justiz gibt.
Das Beispiel von Ghadhafi zeigt zudem, worum es bei der diplomatischen Vermittlung von Exiloptionen meistens geht, diesen goldenen Fallschirmen für Despoten: nicht primär um die Belohnung von Herrschern, die sich zuvor um eine Grossmacht verdient gemacht haben. Sondern vielmehr um die Verhinderung weiteren Blutvergiessens. Es ist eine Güterabwägung. Man lässt einen Verbrecher entkommen, ebnet aber den Weg zu einem friedlichen Übergang. Das gelang während der Aufstände des Arabischen Frühlings im Fall von Tunesien: Der Machthaber Ben Ali trat 2011 ab und verschwand ins Exil – in einen Palast in Saudiarabien, wo er Ruhe hatte vor der internationalen Strafverfolgung.
Ein Jahr später rückten in Syrien Rebellengruppen auf Damaskus vor. Es wurde erwartet, dass sich auch Bashar al-Asad ins Ausland absetzen würde. Der britische Premierminister David Cameron sagte öffentlich: «Wenn er gehen will, könnte er gehen; das könnte arrangiert werden.» Aber es kam nichts zustande, auch nicht mit Russland. Noch 2014 soll Asad gegenüber Putin gesagt haben: «Ich werde nirgendwohin gehen.» Und so tyrannisierte Asad weiter sein Land – bis am Morgen des 8. Dezembers 2024.
Er soll die Vereinigten Arabischen Emirate um Aufnahme gebeten haben. Doch mit einem Kriegsverbrecher wollte sich Abu Dhabi nicht belasten, wie Medien berichteten. Nun sitzt Asad mit seiner Familie im Reich von Wladimir Putin fest, dem «lender of last resort». Zusammen mit anderen gestürzten Präsidenten wie dem Kirgisen Askar Akajew und dem Ukrainer Wiktor Janukowitsch. Immerhin geschützt vor der internationalen Strafverfolgung – zumindest vorerst.