Zehntausende gehen gegen Korruption und Schlamperei auf die Strasse. Sie fordern einen Staat für die Bürger.
Zehntausende Bürgerinnen und Bürger haben am Sonntag das Zentrum von Belgrad blockiert. Es ist die bisher grösste Kundgebung gegen Präsident Aleksandar Vucic, der das Land seit mehr als zehn Jahren regiert. Der Protest übertraf noch die Grossdemonstration im Sommer gegen ein von Rio Tinto geplantes Lithiumbergwerk in Westserbien.
Seit Mitte November häufen sich die Kundgebungen im Land, die hauptsächlich von Studenten initiiert werden. Fast alle Universitäten sind geschlossen, die Fakultäten haben den Lehrbetrieb eingestellt. Nur die traditionell staatsnahen Theologen- und Militärlehrgänge bieten weiterhin Vorlesungen an. Auch viele Rektorate, darunter das der Universität Belgrad, und die meisten Professoren haben sich mit den Studenten solidarisiert.
Erfolglose Charmeoffensive
Auslöser des Protests war am 1. November der Einsturz eines Vordachs am frisch renovierten Bahnhof von Novi Sad, der zweitgrössten Stadt des Landes. Dabei wurden fünfzehn Menschen getötet. Die Arbeiten am Bahnhof sind Teil einer umfassenden Erneuerung der Bahninfrastruktur im Land, die Belgrad an chinesische Generalunternehmer vergeben hat. Schwere Baufehler führten zum Einsturz des Dachs – als Ursache werden Nachlässigkeit, Korruption und Vetternwirtschaft vermutet.
Die Verantwortlichen hätten sich nicht nur auf Kosten der Allgemeinheit bereichert, sagten die Demonstranten, sondern auch den Verlust von Menschenleben in Kauf genommen. «Eure Korruption tötet», heisst eine der Losungen des Protests. Die Nonchalance, mit der sich die Behörden nach dem Unfall aus der Affäre ziehen wollten, steigerte die Wut und mobilisierte zusätzlich. Der Druck der Strasse führte schliesslich nach einigen Tagen zu einer Kehrtwende: Der Bauminister trat zurück, und Vucic persönlich versprach, die Baudokumentation des Gebäudes der Öffentlichkeit vorzulegen.
Auch während der Grosskundgebung am Sonntag versuchte Vucic die Wellen zu glätten. Er schmücke eben mit seinen Mitarbeitern den Christbaum am Präsidentensitz, teilte er über die sozialen Netzwerke mit. Er wisse, dass viele gegen ihn protestierten, aber es sei wichtig, dass man sich gegenseitig zuhöre. Tage zuvor hatte er mit günstigen Darlehen für Junge geworben. Doch die Charmeoffensive kommt bei den Studierenden nicht an.
Sie sehe gar keinen Grund, mit Vucic zu reden, sagte am Sonntag eine Studentin im unabhängigen Fernsehkanal N1. Vucic sei schliesslich nicht zuständig für die Aufklärung des Falles. Das sei Aufgabe der Institutionen, die nun endlich ihre Arbeit machen sollten – im Einklang mit dem Gesetz. Wer er, Vucic, denn überhaupt sei, solche Angebote zu machen?
Diese Kritik zielt ins Herz des Systems. Denn Vucic hat im Lauf der Jahre – an der Verfassung vorbei – die gesamte Macht der Exekutive an sich gezogen. Die Regierung handelt nur noch wie ein Verwaltungsorgan. In ihren gelegentlich am Fernsehen übertragenen Sitzungen staucht Vucic die Minister regelmässig zusammen und zeigt sich als zorniger Landesvater. Das Parlament führt ein Schattendasein und nickt die Vorlagen ab, die ihm zugewiesen werden. Die Justiz schliesslich ist nur auf Zusehen hin unabhängig und bricht bei Druckversuchen schnell ein. Und das Gros der Medien, inklusive der landesweiten Sender, sind stramm regimetreu.
Vucic links liegenlassen?
Die kluge Studentin trifft den Nagel auf den Kopf: Um dieses System zu reformieren und Tragödien wie jene in Novi Sad möglichst zu verhindern, genügt es nicht, einen Minister zu opfern und den Empörten ein paar Vergünstigungen zu gewähren. Die Gewaltenteilung müsste wieder in Kraft gesetzt werden. Und ebenso müsste das Klientelsystem der Fortschrittspartei abgeschafft werden, das politische Gefolgschaft statt Kompetenz mit staatlichen Posten belohnt: vom Direktor bis zum Portier.
Dass die Studenten Vucic selbst als Gegner ignorieren, hat grosse polemische Qualität: Denn seit Jahren drehte sich alle Politik und ebenso die Kritik daran immer und nur um den omnipräsenten Präsidenten. Ihn nun zu übergehen, ist per se eine Beleidigung. Umso aggressiver schlagen deshalb die Regime-Medien zurück: Die Studenten seien ahnungslos, verführt von der Opposition oder stünden im Sold des Auslandes. Ob diese abgegriffene Polemik noch ein breites Publikum überzeugt?
Serbien hat eine Tradition der Studentenunruhen. In drei Wellen demonstrierten Studierende in den 1990er Jahren gegen das Regime von Slobodan Milosevic. Doch es überlebte den Protest jedes Mal und stürzte erst im Oktober 1999 nach den Nato-Bombardierungen durch einen Volksaufstand und den Putsch von Sicherheitskräften. Auch wenn die Proteste der 1990er Jahre nicht erfolgreich waren, hatten sie jene Generation politisiert, die den kurzen, hoffnungsvollen Aufbruch nach 2000 prägte.
Das könnte auch jetzt der Fall sein: die Politisierung einer Generation, die vielen als passiv, apolitisch oder sogar von der nationalpopulistischen Ideologie der Fortschrittspartei indoktriniert galt. Zwar sind Universitäten heute stärker als unter Milosevic von Loyalisten des Regimes durchsetzt. Aber die studentische Mobilisierung erfolgt ausserhalb der universitären Gremien und wird von vielen Professoren und Rektoren unterstützt.
Entscheidend wird aber sein, wie lange die Studenten durchhalten und ob sie mit ihrem Protest breitere Schichten ansprechen können. Eine gewisse Nervosität ist bei den jüngsten Auftritten von Vucic jedenfalls bemerkbar.