Eine Geschichte über den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist.
Jede Woche pendelt Martin Schmidt zwischen den grossen Stadien der Bundesliga und der Stube seines Vaters. Am Wochenende befasst er sich mit dem Millionengeschäft Bundesliga. Am Montag steht er mit seinem 92-jährigen Vater vor der Käsetheke eines Discounters im Wallis.
Der 57-jährige Martin Schmidt war Bundesligatrainer und Sportdirektor. Seit einem halben Jahr ist er sportlicher Berater des Bundesligaklubs Mainz 05. Doch zuallererst ist er: Sohn.
Im Frühling 2024 hatte Schmidt als Sportdirektor von Mainz 05 intensive Wochen erlebt. Der Verein spielte eine beeindruckende Rückrunde und sicherte sich am letzten Spieltag den Klassenerhalt. Für Schmidt war es der emotionale Höhepunkt seiner Karriere, wie er sagt. Doch nur wenige Wochen später trat Schmidt zurück. Sein 92-jähriger Vater hatte einen Herzinfarkt erlitten.
Martin Schmidt sagt: «Zeit für die Karriere bleibt mir genug, aber die Momente mit meinem Vater sind begrenzt.» So wurde Schmidt vom Sportdirektor zum sportlichen Berater. Von einer der einflussreichsten Personen im Verein zu einem Teilzeitangestellten. Er räumte sein Büro in der Geschäftsstelle und bezog ein kleineres am Ende des Gangs.
535 Kilometer hin und zurück
Seither unterteilt Martin Schmidt jede Woche in zwei Hälften. Nach jedem Spieltag in der Bundesliga fährt er ins Wallis, nach Naters, wo er aufgewachsen ist und sein Vater noch immer lebt. Dort geht Schmidt mit seinem Vater zur Messe, spaziert mit ihm am Rhoneufer entlang und geht mit ihm einkaufen. Wenn sein Vater im Lädeli eine Aktion sieht, legt er den teuren Käse wieder zurück und nimmt den günstigeren. Denn Schmidts Vater ist in einer Zeit aufgewachsen, als die Familien im Wallis reich an Kindern, sonst aber sehr arm waren.
In der zweiten Wochenhälfte fährt Schmidt zurück nach Mainz und vertieft sich in seine Arbeit. In Mainz spricht er mit gutbezahlten Spielern über ihre Karrierepläne. Er berät die Klubleitung bei den Transfers und plant eine neue Geschäftsstelle. Kostenpunkt: 42 Millionen Franken.
Von Montag bis Mittwoch rechnet Martin Schmidt mit seinem Vater in Rappenbeträgen. Von Donnerstag bis Sonntag für seinen Klub in Millionen. Mehr als sechs Stunden braucht Schmidt für einen Weg mit dem Auto vom Wallis nach Mainz. 535 Kilometer hin und genauso viele wieder zurück.
Kühe, Käse, Kempes
An einem Montagnachmittag im Herbst sitzt Martin Schmidt in einer Gartenbeiz im Wallis und trinkt Kaffee. Alle paar Minuten wird er gegrüsst. Zufällig kommt Schmidts Schwester vorbei und gibt ihm einen Kuss. Sie sagt, dass sie gestern den Vater habe abholen wollen, doch er sei nicht zu Hause gewesen. Schmidt sagt, er sei mit ihm unterwegs gewesen. Jetzt sei der Vater gerade bei einem Freund, aber er hole ihn gleich ab. Das ist der neue Alltag von Schmidt.
Als Schmidt seinen Kaffee ausgetrunken hat und das Lokal verlässt, ist hinter ihm, hoch oben am Berg, die Belalp zu sehen. Der Ort, wo vor über fünfzig Jahren Schmidts Geschichte begann.
Als Martin Schmidt ein Bub war, in den 1970er Jahren, verbrachte er viel Zeit auf der Belalp, einer Alp beim grossen Aletschgletscher. Von Juni bis September hütete er die Kühe seines Grossvaters, molk sie und verarbeite die Milch zu Käse. So wie viele andere Walliser Buben seiner Generation. Martin Schmidts Vater hingegen blieb unter der Woche in den Betrieben unten im Tal und krampfte. Martin Schmidt sagt, sein Vater habe immer mehrere Jobs nebeneinander gehabt. Da war die Arbeit im Storen-Geschäft seines Bruders, dann der Job als Hauswart einer Möbelfirma. An den Abenden verlegte er Böden, an den Samstagen putzte er das Möbelhaus.
In der kleinen Hütte auf der Belalp drängten sich Schmidt und seine sechs Geschwister um das gute Essen. Diese Enge am Familientisch schuf unter den Geschwistern eine tiefe Verbundenheit.
Auf der Belalp wurde Schmidt zum Alphirt. Doch da oben hat er auch den Fussball entdeckt.
1978 schaute Schmidt auf dem ersten Farbfernseher, den es auf der Belalp gab, die Weltmeisterschaft in Argentinien. Als Mario Kempes, der argentinische Captain, nach dem Final die Trophäe in die Höhe stemmte, wusste Schmidt, dass er Fussball spielen will. Er trat den Junioren des FC Naters bei. Doch sein Vater hätte es lieber gesehen, wenn sich Schmidt in seiner Freizeit mit einem Handwerk beschäftigt hätte. Mit etwas Handfestem.
Kreuzbandriss und Bundesliga
In den Jahren danach wurde Martin Schmidt ein erfolgreicher Spieler im Amateurbereich. Im Sommer 1992 stand er vor dem wichtigsten Spiel seines Lebens. Zumindest glaubte er das damals. Sein Dorfverein, der FC Naters, spielte um den erstmaligen Aufstieg in die erste Liga, die dritthöchste Schweizer Spielklasse. Schmidt hatte lange auf seinen Vater einreden müssen, damit er das Spiel schauen kam.
Eine halbe Stunde lang rannte, kämpfte und grätschte Schmidt im rechten Couloir. Dann riss sein Kreuzband. Sein Vater sagte später zu ihm: «Siehst du, der Fussball macht dir nur die Beine kaputt. Jetzt bist du auch noch verletzt und kannst nicht arbeiten. Damit wirst du nie Geld verdienen.»
Das Kreuzband verheilte. Dann riss es wieder und wieder. Schmidt musste seine Karriere als Fussballer beenden. Danach wurde er Co- und dann Cheftrainer beim FC Raron, einem kultigen Dorfklub im Wallis. Er war ehrgeizig, und er überraschte. Mit dem Fussball, den er spielen liess, aber auch sonst. Schmidt posierte mit den Spielern des FC Raron nackt für einen Kalender. Den Erlös spendete die Mannschaft einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung.
Neben dem Fussball arbeitete Schmidt als Automechaniker. Dann machte er sich selbständig und betrieb während zehn Jahren eine Garage. Später gründete er mit seiner Schwester eine Firma für Arbeitskleidung. Heute ist sie die Geschäftsführerin und arbeitet in der Firma mit zwei weiteren Schwestern zusammen. Nebenher machte Schmidt ein Trainerdiplom nach dem anderen. Er habe damals, sagt Schmidt, 20 Stunden am Tag gearbeitet.
Martin Schmidt sagt: «Mein Vater hat mir mit seiner Erziehung und seinem christlichen Glauben Werte vorgelebt und damit die Grundlagen für meine Karriere gelegt. Ohne ihn und meine Mutter wäre das alles undenkbar.» Wer etwas erreichen wolle, müsse arbeiten, sagt Schmidt. Und wer einen starken Glauben habe, könne Druck aushalten.
Schmidts Vater war in einer Zeit aufgewachsen, als die Kinder zum Haushaltsgeld ihrer Eltern beitragen mussten. Das letzte Lohncouvert gab Schmidts Vater mit 29 Jahren ab. Kurz vor seiner eigenen Hochzeit. Bei Martin Schmidt war das anders. Auch er hätte im Wallis bleiben und eine Familie gründen können, so wie sein Vater. Er hatte sich eine Existenz als Garagist und Unternehmer aufgebaut, er war Trainer des FC Raron. Er musste nicht weg. Aber er wollte.
Schmidt dürstete nach neuen Zielen. 2008 wurde er Nachwuchstrainer des FC Thun. Bei einem Spiel gegen den Nachwuchs von Mainz 05 wurde er entdeckt. 2010 bot ihm der Klub eine Stelle als Nachwuchstrainer an. Fünf Jahre später war er Cheftrainer in der Bundesliga.
Im SUV zum Stadion
Bei Schmidts erstem Spiel als Bundesligatrainer reiste seine Familie nach Mainz. Sechs Geschwister und der damals 83-jährige Vater, eine Gruppe von zwanzig Personen. Nach dem Spiel ging Schmidts Vater zur Trainerbank. Er war zum ersten Mal in einem Fussballstadion und sagte zu seinem Sohn: «Du hattest recht mit dem Fussball.»
Es ist ein Samstagmittag Anfang November in Mainz. Wie vor jedem Heimspiel findet im Stadtzentrum beim Domplatz das Marktfrühstück statt. Bauern aus der Region bieten ihre Produkte an, und Fussballfans trinken Bier und stimmen sich auf das Spiel ein.
Als Schmidt vor mehr als zehn Jahren nach Mainz zog, bot der Verein ihm eine Wohnung in einem ruhigen Quartier ausserhalb der Stadt an. Schmidt lehnte ab. Er sagte: «Ich will spüren, was in der Stadt los ist, ich will ein Teil davon werden.» Die Wohnung mitten in der Altstadt hat Schmidt immer noch. Als er durch die Stadt läuft, sprechen ihn immer wieder Fans an, die ein Foto mit ihm wollen. Die meisten grüssen ihn wie einen alten Bekannten und rufen ihm im Vorbeigehen zu: «Heute drei Punkte?» Schmidt lächelt und antwortet: «Ja, drei Punkte.» Dann steigt er in seinen SUV und fährt zum Stadion ausserhalb der Stadt.
Hirten- und Alpenromantik
In seiner ersten Saison als Bundesligatrainer von Mainz 05 schaffte Schmidt den Klassenerhalt, ein Erfolg für den Verein. Das zweite Jahr begann mässig. Also wandte Schmidt seine Kniffe an: Mitten im Winter reiste Schmidt mit seiner Mannschaft ins Wallis. Unterhalb der Belalp, im Weiler Blatten, zog die gesamte Mannschaft Schneeschuhe an und lief hoch bis auf den Grat des Sparrhorns. Fast 1600 Höhenmeter zu Fuss. Danach zelteten Schmidt und seine Spieler auf 2350 Metern. Bei minus zehn Grad. Er sagt: «In den Bergen siehst du schnell, wer für das Kollektiv denkt, wer Verantwortung übernimmt, wer plötzlich zwei Rucksäcke trägt – und eben auch, wer nur jammert.» Vier Monate später erreichte Mainz 05 zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte die Gruppenphase der Europa League.
Mainz spiele mit Schmidt so wie mit den Welttrainern Jürgen Klopp und Thomas Tuchel, hiess es. Die Medien schrieben vom «Geist der Belalp». Sie versuchten, Schmidts Aura, seine urtümliche Art damit zu erklären: mit Hirten- und Alpenromantik. Schmidt griff das auf und lud seinen alten Jodelklub «Ahori» zu einem Ständchen im Mainzer Stadion ein. Der Jodelklub sang im Bundesliga-Stadion das Belalp-Lied. Dieses Lied verklärt eine einfache Alpsennerin zur Königin und die Alp zum Paradies. Die Walliser singen es, wenn es schön und gemütlich ist.
Als Schmidt an diesem Spieltag Anfang November am Stadion ankommt, wartet ein Freund aus dem Wallis auf ihn. Es ist der Direktor der Belalp-Bahnen, mit seiner Familie. Schmidt holt ein Couvert mit Tickets für den Match hervor. Dann kommt ein Mitarbeiter des Klubs heraus und ruft Schmidt in die Mannschaftskabine. Schmidt verabschiedet sich und verweist dann auf ein Festzelt hinter der Tribüne. «Da sehen wir uns nach dem Match.»
Mainz 05 spielt im Herbst 2024 schönen Fussball und arbeitet sich in der Tabelle kontinuierlich nach oben. Doch Schmidt hat hier auch andere Zeiten erlebt. Im Sommer 2017 verhinderte Schmidt als Coach von Mainz zwar den Abstieg, doch er enttäuschte die Erwartungen. Schmidt und der Verein beschlossen gemeinsam, den Vertrag aufzulösen. Wenige Wochen später wurde er Trainer in Wolfsburg. Doch nach einem halben Jahr trat er zurück. Schmidt zog weiter nach Augsburg, blieb jedoch nur ein halbes Jahr. Im Frühjahr 2020 wurde er freigestellt. Nach diesen Rückschlägen wurde es ruhig um Schmidt.
Schmidt sagt, sein ganzes Leben lang habe ihn eine Gewissheit getragen: Wenn er falle, so falle er nicht tief, sondern ins Netz seiner grossen Familie. Und so tat Schmidt das, was er immer tut, wenn er Orientierung sucht. Er fuhr ins Wallis, zu seiner Familie. Er zog sich in die Berge zurück, las viel, trank oft Kaffee mit seinem Vater, ging in die Kirche.
Die Messe, sagt Schmidt, gehöre für ihn seit Jahren zum Wochenprogramm, wie die «Sportschau» in der ARD. Schmidt erinnert sich, wie er vor einigen Monaten mit seinem Vater in der Spitalkapelle von Brig am Gottesdienst mit 25 Besuchern teilnahm. Die meisten waren alt und gebrechlich. Doch Schmidt sagt: «Von diesen Leuten ging eine Kraft aus, die ansteckte.»
Sein Sohn heisst Santiago
1996 erlitt Schmidts Mutter eine Hirnblutung. Wenige Tage später verstarb sie im Spital. Sein Vater war allein und Schmidt das letzte Kind im Elternhaus. So blieb er länger, bis er 37 war.
Seit einem halben Jahr verbringt Schmidt nun wieder viel Zeit mit seinem Vater. Er sagt: «Es lohnt sich, die eigene Karriere etwas zurückzunehmen und die Zeit einem lieben Menschen zu widmen.» In Mainz und im Wallis sprechen die Leute Schmidt regelmässig auf seinen Entscheid an. Dann erzählen sie von ihren eigenen Angehörigen. Von der kranken Tante, der pflegebedürftigen Mutter. Und dann erkundigen sie sich nach Schmidts Vater. Schmidt sagt dann, dass es seinem Vater wieder besser gehe, dass er sehr viel lese, jedes Skirennen am TV verfolge und die «Tagesschau» täglich auf drei verschiedenen Sendern schaue. Sein Vater erfreue sich an Kleinigkeiten wie der feinen Sauce zum Braten. Trotz den Schmerzen und Problemen mit seinem Herzen klage er nie. Sein Vater, sagt Schmidt, sei sein grösstes Vorbild geworden.
Vor sechzehn Monaten ist Martin Schmidt selbst Vater geworden. Er hatte sich seit Jahren eigene Kinder gewünscht. Schmidt sagt, dass er die Liebe seines Vaters erst jetzt richtig verstehe. Dass er nun begreife, was es bedeute, einem Menschen einen Namen zu geben und ihn zu prägen.
Der Sohn von Martin Schmidt heisst Santiago, benannt nach dem Apostel Jakobus und dem berühmten Jakobsweg, den Schmidt endlich einmal gehen möchte. Noch ist er nicht dazu gekommen, es fehlt die Zeit. Und so ist es die Belalp, die für Martin Schmidt der Kraftort bleibt. Jeden Sommer ziehen Schmidt und sein Vater hinauf und besuchen eine grosse Feldmesse zu Ehren des Apostels Jakobus.
Dieser heilige Jakobus war ein Missionar, er pilgerte und zog in die Welt hinaus. Ein bisschen so wie Martin Schmidt.