Der zweifache Meistertrainer der Lions entscheidet sich zu diesem mutigen und radikalen Schritt, weil er mit psychischen Problemen kämpft. Es ein starkes Signal des Kanadiers in diesem Machogeschäft.
Im März 2023 sagte Marc Crawford in einem Interview mit der NZZ: «Wenn man krank ist, geht man zum Arzt. Bei Zahnschmerzen zum Zahnarzt. Und wenn im Kopf etwas nicht stimmt, sollte man zum Psychologen gehen.»
Crawford war oft beim Psychologen in den letzten Jahren, er hat sehr offen darüber gesprochen. Es war so etwas wie die späte Läuterung eines Mannes, der früh lernte, seine Ellbogen auszufahren. In einer Grossfamilie, in der fast ein Dutzend Menschen ein Badezimmer teilen mussten, war das alternativlos. Crawford erfuhr das, was die Nordamerikaner «Tough Love» nennen. Und gab diese harte Liebe später als Eishockeytrainer weiter.
Immer wieder überschritt er Grenzen, etwa während seiner Zeit bei den Chicago Blackhawks. Der Stürmer Patrick O’Sullivan sagte, er und Mitspieler seien von Crawford auf der Spielerbank getreten worden. Der Verteidiger Brent Sopel warf ihm vor, ihn gewürgt zu haben.
Zu Sopel soll Crawford ausserdem gesagt haben: «Du bist miserabel, du tust nichts. Du kannst nicht schiessen, nicht Schlittschuhlaufen, du kannst überhaupt nichts. Du hast keine Chance auf eine NHL-Karriere, darum schicken wir dich jetzt ins Farmteam.» Als Trainer der ZSC Lions beleidigte Crawford im Frühjahr 2023 einen Schiedsrichter als «Schwanzlutscher».
Crawford schämte sich für seine Ausfälle und bat um Vergebung. Er gestand, ein Problem mit Frustrationstoleranz zu haben. Damit ist er beileibe nicht alleine, der Unterschied zu anderen ist, dass seine Verfehlungen vor einem Millionenpublikum geschahen. Es waren Momente des ungefilterten Zorns, die das Bild dieses sonst meist so jovialen, belesenen, freundlichen Mannes mit der auffallend sanften Stimme konterkarierten.
Er schluckte seine Probleme jahrelang einfach hinunter
Crawford hat es mit seiner teilweise aufbrausenden, unversöhnlichen Art weit gebracht. Er gewann mit Colorado den Stanley-Cup, coachte fast drei Jahrzehnte lang in der NHL und führte die ZSC Lions zwei Mal zum Schweizer Meistertitel. Es wäre für Crawford einfach gewesen, dem Altersstarrsinn zu verfallen und sich mit der Hybris eines Champions selbst zu belügen. Er habe seine Probleme jahrelang einfach hinuntergeschluckt, sagte er kürzlich. «In gewisser Weise ist das erwartet worden.»
Marc Crawford: «Ich habe meinen Spielern nie gesagt, dass ich sie liebe. Dieses Jahr habe ich das getan.»
Ganz viel Liebe vom ZSC-Coach nach seinem zweiten Titel mit den ZSC Lions.#Champions | #DerletzteTanz | #Playoffs24 pic.twitter.com/ApFaS6Q7KA
— MySports (@MySports_CH) April 30, 2024
Man muss es Crawford hoch anrechnen, dass er schon im Zuge der «Me Too»-Welle im Eishockey erkannte, an sich arbeiten zu müssen. Und dass er jetzt, in der womöglich letzten Saison seiner eindrücklichen Karriere, die Notbremse zieht.
Denn am Montag legte Crawford seine Arbeit bei den ZSC Lions per sofort nieder; in seiner Rücktrittserklärung schreibt er, dass er sich in den letzten Monaten «intensiver therapeutischer Behandlung» unterzogen habe. Und das sei für ihn «sehr aufschlussreich» gewesen, «als Coach, als Ehemann, als Vater, baldiger Grossvater und letztlich auch als Person». Priorität habe für ihn nun, als «psychisch gesunder Mensch» zu wachsen.
Es liegt so viel Schonungslosigkeit in diesen Zeilen, Ehrlichkeit auch, dass man Crawford nur gratulieren kann. Es hat eine gewisse Ironie, dass ausgerechnet er, während mehrerer Dekaden so etwas wie der Posterboy der «Tough Guy»-Mentalität in der Machowelt des Eishockeys, für eine Entstigmatisierung sorgt und ultimativ beweist, dass es völlig okay ist, Schwäche zu zeigen.
Crawford flog über Weihnachten in seine kanadische Heimat, und in Vancouver reifte sein Entscheid, nicht mehr zurückzukehren. Gegen Aussen ist das eine Surprise, aber ZSC-intern hielt sich die Überraschung in Grenzen.
Der Sportchef Sven Leuenberger sagt, es habe in dieser Saison mehrere Diskussionen in diese Richtung gegeben: «Marc sagte, dass ihm die Kraft fehle. Er wollte nicht von den Spielern 100 Prozent an Einsatz, Konzentration und Leidenschaft verlangen, die aber selbst nicht aufbringen können. Wir haben gehofft, dass wir das Jahr gemeinsam durchstehen. Leider ist es anders gekommen, und auch das ist völlig okay. Marc hat unser vollstes Verständnis.»
Seinem Nachfolger Marco Bayer bietet sich eine einmalige Chance
Bis zum Saisonende übernimmt Marco Bayer die Mannschaft, der bisherige Coach des Farmteams GCK Lions. Bayer, 52 Jahre alt, ist ein ehemaliger Nationalmannschafts-Verteidiger, der im Schweizer Eishockey schon viele Rollen bekleidet hat. Er war Sportchef der SCL Tigers und Trainer des U-20-Nationalteams. Seine Beförderung überrascht insofern, als dass GCK gerade eine miserable Saison spielt.
Doch Bayer hat die Equipe vor Jahresfrist erstmals überhaupt in den Play-off-Final der Swiss League geführt, das Farmteam ist seither deutlich verjüngt worden. Der Manager Leuenberger hat von Bayer eine hohe Meinung, seit er 2016/17 bei den Elite-Junioren des SC Bern dessen Auswahl während der Saison übernahm und auf ein «sehr gut strukturiertes Team» traf.
Die ZSC Lions teilen mit grossem Bedauern mit, dass Marc Crawford per sofort als Headcoach zurückgetreten ist. Der 63-jährige kanadische Trainer trifft diese Entscheidung aus mentalen und damit gesundheitlichen Gründen, für welche die ZSC Lions ihr volles Verständnis… pic.twitter.com/KljIJ8oGzS
— ZSC Lions (@zsclions) December 30, 2024
Leuenberger sagt über Bayer: «Er kennt unsere Organisation und alle Spieler bestens. Wir haben so viele Partien vor uns, dass ein neuer, externer Trainer gar keine Chance hätte, ein neues System zu implementieren.» In taktischen Belangen wird weiter Crawfords langjähriger Assistent Rob Cookson die Fäden ziehen.
Entsprechend dürfte sich sportlich wenig ändern für den ZSC. Die Mannschaft verfügt über so viel Qualität, dass sie unabhängig vom Namen des Trainers Titelfavorit Nummer 1 ist. Der emotionale Abgang Crawfords könnte sogar eine Chance sein. Jedenfalls ist dieses Szenario nicht auszuschliessen: Dass das Zürcher Starensemble dem trotz seiner Standpauken und seiner Vergesslichkeit geschätzten Trainer einen finalen Triumph widmen möchte.
Es gibt Wichtigeres im Leben als Siege und Meistertitel. Aber es wäre dem Seelenfrieden von Marc Crawford bestimmt zuträglich, wenn er im April eine Flasche Wein öffnen könnte, um auf den elften ZSC-Meistertitel anzustossen – vielleicht ja sogar auf Aruba, dem Inselparadies, das Crawford mit seiner Partnerin Helene seit Jahren besuchen will.