Die bizarre Geschichte des Baslers Karl Ernst Krafft, der für die Nazis die Sterne las – und vor genau 80 Jahren im KZ endete.
Karl Ernst Kraffts Abenteuer im «Dritten Reich» endet auf einer Karteikarte: als Häftlingsnummer 99 090, gestorben am 8. Januar 1945, um 7 Uhr 30. «Herzschwäche bei allg. Körperschwäche», steht dort geschrieben, visioniert mit einer Unterschrift. Auch wenige Monate vor Kriegsende wird noch akribisch verzeichnet, wer im Konzentrationslager Buchenwald ermordet wurde. Es gebe «keinerlei Eigentumssachen», die rückerstattet würden, hält die Verwaltung zudem fest, ausser ein paar Briefen, die Krafft nie ausgehändigt worden seien.
Es ist der Schlusspunkt einer Karriere, die bis heute rätselhaft ist. Die Geschichte eines kauzigen Schweizers, der sich als Genie fühlte, ein Attentat auf Hitler vorhersah, sich den Nazis andiente – und letztlich für seine obskuren Sterndeutungen büsste. Sie beginnt in Basel.
Ein neuer Newton
Karl Ernst Krafft wird am 10. Mai 1900 in eine Familie hineingeboren, die sich ins Stadtbild eingeschrieben hat. Der Grossvater, ein eingewanderter Deutscher, hat das berühmte Hotel Krafft in der Oberen Rheingasse erbaut. Der Vater leitet die Cardinal-Brauerei. Und so wächst der Filius in sehr bürgerlichen, aber auch strengen Verhältnissen auf. Er besucht das humanistische Gymnasium und zählt mühelos zu den Besten seines Jahrgangs, besonders begabt ist er in der Mathematik. Gleichzeitig wird er als «impertinent und überheblich» geschildert. Seinen Mitschülern ist der gnomenhafte bleiche Junge mit den tiefliegenden Augen schon immer suspekt gewesen – wie es später heissen wird, als es Krafft zu unrühmlicher internationaler Prominenz gebracht hat.
Gegen den Willen des Vaters, der sich etwas «Richtiges» wie Jus oder Wirtschaft erhofft, wendet er sich den Naturwissenschaften zu. Er studiert in Basel, Genf und London Fächer wie Physik, Mathematik, Chemie, Statistik, ohne je abzuschliessen. Seit dem Tuberkulose-Tod seiner Schwester, den er in einem prophetischen Traum erlebt haben will, sieht sich Krafft ohnehin auf einer pionierhaften wissenschaftlichen Mission. Krafft beschäftigt sich mit Okkultismus und Astrologie, macht Yoga, ernährt sich vegetarisch. So masslos ehrgeizig wie obsessiv widmet er sich der Magie der Sterne, sieht sich bereits als neuen Newton, wie der Historiker Ellic Howe im Buch «Uranias Kinder» schreibt.
Krafft nennt seine «Wissenschaft» Kosmobiologie. Mittels Geburts- und Todesdaten erstellt er Tausende von Horoskopen. Sie sollen die sterngesteuerte Zwangsläufigkeit von Biografien belegen. Krafft kommt zum Schluss: «Der Mensch wird nicht zufällig geboren, sondern unter einer planetaren Konstellation, die eine markante Ähnlichkeit mit denen anderer Mitglieder derselben Familie hat.» So glaubt er, die «kosmischen Einflüsse auf das menschliche Temperament» sowie auf die «menschliche Physiognomie» dokumentieren zu können. Was absurd klingt, findet aber durchaus einen gewissen Nachhall. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und inmitten von wirtschaftlichen Krisen erfährt die Astrologie einen rasanten Aufschwung. Doch der Vater, der ihn bisher finanziert hat, will von alldem nichts wissen. Er besorgt ihm 1926 eine Anstellung in Zürich bei einem Bekannten, dem eine Bank, das Warenhaus Globus sowie der Verlag Orell Füssli gehören.
Dort soll sich Krafft um Rationalisierungsfragen kümmern, er wird dann aber im Personalwesen eingesetzt – für «Charakteranalysen», basierend auf Graphologie und Astrologie. Einstellungen und Beförderungen hängen bald von seinen Berichten ab, die offenbar nicht selten ins Schwarze treffen. Krafft rühmt sich jedenfalls seiner «psychologischen Porträts», macht sich in den folgenden Jahren selbständig, schreibt auch Wirtschaftsberichte, die Politik, Konjunkturfragen und kosmische Spekulation kombinieren. Daneben publiziert er weiter astrologische Schriften voller Zahlen und Formeln. Auch an der Börse wird er aktiv, spekuliert je nach Planetenkonstellation. Doch leider ist auf die Sterne kein Verlass: Er verliert viel Geld.
Und als er merkt, dass er in den wissenschaftlichen Zirkeln Zürichs keine Anerkennung findet, zieht er 1937 mit seiner Ehefrau Anna in den Schwarzwald, ins Dorf Urberg bei St. Blasien, um ein «epochemachendes» Buch zu schreiben – den «Traité d’Astrobiologie». In Deutschland hat er es bereits zu einiger Berühmtheit gebracht, auch dank seiner Vortragstätigkeit. Schon in der Schulzeit soll er «eine provozierende Deutschfreundlichkeit» an den Tag gelegt haben, wie ehemalige Klassenkameraden nach seinem Tod den «Basler Nachrichten» berichten werden.
In Hitlers Reich fühlt er sich wohl, wie er einem Bekannten schreibt: «Es gibt so viel Positives hier, dass die Art und Weise, in der sich meine Landsleute auf das Negative stürzen, ja geradezu infam ist. (. . .) Wieder einmal das Werk der Freimaurer und Juden.»
Bald schon macht er sich für den Nationalsozialismus nützlich.
Propaganda mit Nostradamus
«Keine politische Massenbewegung hat sich so stark auf übernatürliche Denkbilder, auf Astrologie und Okkultes gestützt wie die Nazis», schreibt der Historiker Eric Kurlander. Tatsächlich schickte Hitler 1934 einen Wünschelrutengänger durch die Reichskanzlei, um etwaige tödliche Strahlung aufzuspüren. Sein Stellvertreter Rudolf Hess begeistert sich für Esoterik, Naturheilkunde und Sterndeutungen. Der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, beschäftigt gar einen eigenen Astrologen als Ratgeber. Aber die Führungsriege ist sich über den Nutzen nicht einig, wie sich bald zeigen wird. Propagandaminister Joseph Goebbels sieht nur einen propagandistischen Wert. Andere wie der Hitler-Vertraute Martin Bormann wenden sich dezidiert gegen den «Aber- und Wunderglauben».
Krafft findet Anschluss bei Nazis wie Heinrich Fesel, der im Reichssicherheitshauptamt in Berlin tätig ist. Im Auftrag von Fesel verfasst er Berichte mit kosmischen Betrachtungen und ihren kausalen Einflüssen auf das politische und wirtschaftliche Geschehen. Kurz nachdem Hitler mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg entfesselt hat, gelingt ihm ein prophetischer Coup.
Am 2. November 1939 schickt er Fesel ein Schreiben, in dem er voraussagt, dass Hitlers Leben vom 7. bis 10. November in Gefahr sei. Es bestehe «die Möglichkeit eines Attentatsversuchs durch Explosivstoffe». Tatsächlich geht wenig später im Münchner Bürgerbräukeller eine Bombe hoch. Der «Führer» entgeht dem Attentat nur, weil er ungeplant früh die Veranstaltung verlässt. Die Voraussage des Schweizers hat er nicht gekannt.
Krafft sieht seine Stunde gekommen, macht auf seine Heldentat aufmerksam, schickt Rudolf Hess ein Telegramm nach Berlin. Seine Prophezeiung macht nun die Runde – bis zu Hitler. Die Gestapo verhaftet den Schweizer, bis klar ist, dass er mit dem Anschlag nichts zu tun hat, aber über angeblich ausserordentliche Fähigkeiten verfügt. An Anlässen mit Nazi-Prominenz wird Krafft nunmehr vorgestellt mit: «Das ist der Mann, der den Anschlag auf das Leben des Führers vorhersah!»
Und als Goebbels jemanden sucht, «der sich für mich durch den Nostradamus arbeitet», kommt Krafft ins Spiel, der als einer der besten Kenner des legendären französischen Katastrophen-Hellsehers (1503–1566) gilt. Er zieht mit seiner Frau nach Berlin und arbeitet im Deutschen Nachrichtenbüro, offiziell als «Dolmetscher». Fortan beugt er sich in seinem Büro über die knapp tausend kryptischen Vierzeiler von Nostradamus, um Rückschlüsse auf das «Tausendjährige Reich» zu ziehen. Sprich: die imperiale Zukunft Hitlers zu belegen.
Krafft macht dabei «erstaunliche Entdeckungen», wie er einem Bekannten schreibt. Die «pro-deutsche Einstellung» von Nostradamus werde immer deutlicher! Er sieht ihn gar als «Propheten Grossdeutschlands». Dass von seinen Auftraggebern keine «wissenschaftliche» Beschäftigung mit Nostradamus gefragt ist, sondern eine rein propagandistische, scheint ihn nicht zu stören. Noch nicht.
Derweil haben die britischen Geheimdienste von Kraffts Engagement in Berlin erfahren – und ziehen die falschen Schlüsse, nämlich dass Krafft der Berater Hitlers sei. Bestärkt werden sie von einem aus Deutschland geflüchteten Buchautor, Journalisten und Astrologen namens Louis de Wohl, der sogleich von der Special Operations Executive rekrutiert wird – als Gegenspieler von Krafft. De Wohl sagt: «Wenn ich dieselben Berechnungen aufstelle wie Hitlers Astrologe, dann weiss ich, was für einen Rat Hitler von einem Manne bekommt, dessen Urteil er vertraut. Es ist nur logisch, dass das für die Briten von Vorteil ist.» Es ist der Anfang der Legende von Hitlers Hofastrologen.
Doch Kraffts Karriere in Berlin endet abrupt.
Rudolf Hess’ Flug als Fanal
Der Auslöser ist Rudolf Hess’ Versuch, mit den Briten einen Separatfrieden auszuhandeln. Im Mai 1941 ist er mit einem Messerschmitt-Flugzeug aufgebrochen – eigenmächtig, ohne den «Führer» darüber zu informieren. Die Nazis erklären Hess umgehend für verrückt. Zudem sei er im schädlichen Banne von Astrologen gestanden. Goebbels notiert in seinem Tagebuch: «Dieser obskure Schwindel wird nun endgültig ausgerottet.» Einen Monat nach Hess’ Flug startet die «Aktion gegen Geheimlehren und sogenannte Geheimwissenschaften»: Mehrere hundert Astrologen, Okkultisten, Graphologen, Bibelforscher und Anthroposophen werden verhaftet. Unter ihnen auch Karl Ernst Krafft. «Sonderbarerweise hat nicht ein einziger Hellseher vorausgesehen, dass er verhaftet wurde. Ein schlechtes Berufszeichen», ätzt Goebbels.
Zwei Gestapo-Männer nehmen Krafft am 11. Juni 1941 in Gewahrsam. Der Ehefrau versichern sie: «Heute Abend ist er wieder da», was natürlich gelogen ist. Krafft glaubt indes, seine Kontakte zu hochrangigen Funktionären würden ihm aus der Bredouille helfen. Doch es vergeht ein ganzes Jahr, bis «die führende Persönlichkeit auf dem Gebiet der Astrologie» (so die Gestapo) wieder aus dem Gefängnis entlassen wird – aber nicht in die Freiheit.
Krafft muss als Internierter für das Propagandaministerium Horoskope von russischen Generälen und alliierten Staatsmännern erstellen und deuten. Seine Ehefrau spricht nach dem Krieg in einem Bericht an die Schweizer Behörden von «geistiger Zwangsarbeit». Krafft habe die von ihm verabscheute «Jahrmarktastrologie» zu Propagandazwecken ausüben müssen. Es zeigt sich die Absurdität des NS-Regimes: Astrologen müssen astrologisch arbeiten, obwohl Astrologie offiziell streng verboten ist.
Krafft wird zunehmend depressiv und paranoid, erleidet einen Nervenzusammenbruch, verweigert dem Regime die Mitarbeit, obwohl er die Konsequenzen kennt. Im Frühling 1943 kommt er wieder ins Gefängnis, erkrankt an Typhus. Und als er sich halbwegs davon erholt hat, wird er zunächst im KZ Sachsenhausen inhaftiert, bevor er nach Buchenwald verlegt wird. Seine Frau macht Druck bei den Behörden, auch bei den eidgenössischen. Noch Anfang Februar 1945, also einen Monat nach Kraffts Tod, schreibt ihr der Chef der Abteilung für Auswärtiges in Bern, «dass die Schweizerische Gesandtschaft in Berlin fortwährend bemüht ist, das Los der schweizerischen Häftlinge in Deutschland tunlichst zu erleichtern und sie in bestmöglicher Art und Weise zu schützen».
Am 13. April 1945 benachrichtigt das Aussendepartement schliesslich Kraffts Ehefrau, dass ihr Mann tot sei. Sie will es noch jahrelang nicht wahrhaben, drängt die Behörden zu weiteren Abklärungen, ob er vielleicht doch noch am Leben sei. Sie kämpft um finanzielle «Leistungen zugunsten von Schweizerbürgern, die von nationalsozialistischen Verfolgungsmassnahmen betroffen worden sind». Und sie kämpft gegen die Sensationsmeldungen in den internationalen Medien: «Eines kann ich bezeugen, Karl Ernst Krafft war nicht der Astrologe Hitlers.» Tatsächlich zeigen die Akten: Er war Nazi-Sympathisant, Mittäter – und Opfer.