Der Innerschweizer zählte im Weltcup viele Jahre zur Kategorie «Ferner flogen». Mit 33 Jahren mischt er plötzlich ganz vorne mit. Wie ist das möglich?
An ein schönes Nachtessen hätte er schon denken können, an ein Bier vielleicht sogar, an diesem Montagabend in Bischofshofen, an dem die Vierschanzentournee endet, mit ihm, Gregor Deschwanden, als Fünftem im Gesamtklassement, mitten in der Weltspitze.
Aber Deschwanden, der 33-Jährige, der schon viele Jahre über die Schanzen dieser Welt springt und dabei oft früher landete als die meisten Konkurrenten, ärgert sich. Weil er findet, dass mehr dringelegen wäre für ihn. Und so will er nur heim, nach Einsiedeln, fünf Stunden Fahrt durch die Nacht.
Fünfter, in der Gesamtwertung der Vierschanzentournee: So gut war seit elf Jahren kein Schweizer Athlet mehr klassiert. 2014 landete beim Prestigeanlass letztmals einer auf dem Podest, als Gesamtdritter. Natürlich war das Simon Ammann, der doppelte Doppel-Olympiasieger aus dem Toggenburg, in dessen riesigem Schatten sich bis heute jeder bewegt, der hierzulande zu dieser Sportart findet.
Deschwandens Verwandlung erzählt viel über das Skispringen
Seit 2014 schaffte es kein Schweizer mehr auch nur annähernd so weit nach vorne wie Ammann. Bis jetzt. Bis Gregor Deschwanden auftauchte, der erst seit kurzem wahrgenommen wird; der eine erstaunliche Verwandlung hinter sich hat, die viel über das Skispringen erzählt und über ihn selbst.
Am Tag nach der langen Fahrt durch die Nacht sitzt Deschwanden in einem Café in Einsiedeln. Der Innerschweizer ist ein grosser Mann mit dem feinen Körperbau eines Skispringers und sanfter, bedachter Stimme. Er sagt, es tue immer noch weh, dass er in Bischofshofen nicht so weit sprang, wie er das momentan eigentlich könnte.
Aber Deschwanden freut sich auch, dass er jetzt Dinge erlebt, die er früher nicht erlebt hat. Dazu gehört, dass sich nun plötzlich Leute an seinen Tisch stellen und seine Hand schütteln wollen, «Gratulation», ruft ein Mann, Deschwanden sagt «danke» – und beide sind ein wenig verlegen.
Auf Platz elf landete Deschwanden in Bischofshofen, beim letzten der vier Springen der Vierschanzentournee. Die Enttäuschung rührt auch daher, dass er in dieser Saison keinen Weltcup-Wettkampf schlechter beendete. Der gebürtige Horwer springt erstaunlich konstant. Von 14 Springen beendete er vier auf dem Podest. Vor dieser Saison war ihm das nur zwei Mal gelungen. Und bis zum 10. Dezember 2023 und seinem 232. Weltcup-Springen in Klingenthal, Deutschland, noch gar nie.
Was ist mit Ihnen passiert, Herr Deschwanden?
Das Skispringen gehört für Aussenstehende zu den rätselhafteren Sportarten dieser Welt; wahrscheinlich ist das so, weil die meisten schon einmal einen Fussball getreten haben oder auf Ski gestanden sind. Aber über eine gewaltige Schanze gesprungen sind halt wenige. Darum gibt es hier die Athleten und dort alle anderen. Und zwischen ihnen so etwas wie einen Graben.
Gregor Deschwanden kann ganz wunderbar in den Details seines Sprungs versinken, so, wie das viele Skispringer tun (und keiner schöner als Simon Ammann). Es geht dann zum Beispiel um den Schwerpunkt in der Anfahrtsposition oder die Funktion der Ferse beim Absprung.
Das Wichtigste ist aber, dass Deschwanden das Rätsel ein Stück weit gelöst hat, oder, um es mit seinen Worten zu sagen: sein «Puzzle zusammengesetzt». Früher, sagt Deschwanden, seien ihm manche Sprünge gelungen und manche nicht. «Ich habe das Gleiche gemacht, aber es ist nicht das Gleiche herausgekommen», sagt er.
So springt Deschwanden und springt, aber so richtig voran geht es nicht, und weil das so ist, weil es sogar schlechter wird, 2017, 2018, denkt er daran, das Skispringen ganz bleiben zu lassen. Das liegt auch daran, dass das Geld knapp ist, er «tiefrote» Zahlen schreibt, einen Lebensstil pflegen muss, den er heute als «minimalistisch» bezeichnet: Lange lebt er in Einsiedeln in einer Zweizimmerwohnung.
Vor fast sieben Jahren, an einem Tag im März 2018, ist Deschwanden nur noch einen Sprung vom Rücktritt entfernt, doch dieser Sprung findet in Planica statt, beim Skifliegen. Und Deschwanden fliegt 230 Meter weit. Der Wind hilft ihm dabei, doch das spielt keine Rolle, weil der Luzerner merkt: Das Gefühl des Fliegens lässt ihn nicht los. «Eine katastrophale Saison sah nach diesem Sprung schön aus», sagt er.
Die Hilfe des früheren Skispringers Andreas Küttel
Im Frühjahr 2018 macht der Innerschweizer eine Auslegeordnung. Und Deschwanden, der immer glaubte, dass er alles gebe, es aber einfach nicht für mehr reiche, merkt: Er kann, er muss mehr machen.
Dass Deschwanden zu dieser Erkenntnis gelangt, liegt auch an Andreas Küttel. Der war einst selbst ein erfolgreicher Skispringer, gewann fünf Weltcup-Springen und WM-Gold im Jahr 2009. Heute lebt er mit seiner Frau und dem Sohn in Dänemark und forscht dort an einer Universität.
Von 2017 bis 2022 betreute der Sportpsychologe Küttel die Schweizer Skispringer. Er erzählt, er habe damals einen Gregor Deschwanden angetroffen, der zwar ein Profiathlet gewesen sei, aber wie einer gelebt habe er nicht; er sei ein «Pseudo-Profi» gewesen, der dachte, es sei getan, wenn er jeden Tag sein Training absolviere. «Ich habe Gregor dann ganz bewusst herausgefordert, und er hat reagiert», sagt er.
Mit Küttels Hilfe bringt Deschwanden mehr Struktur in seinen Alltag, er beschliesst etwa, ein Wirtschaftsstudium aufzunehmen, isst und schläft bewusster. Deschwanden sagt, Küttel habe ihm geholfen, den richtigen Weg zu finden – seit 2018 habe er gesät, was er nun ernte. Dank Küttel. Dank dem Chiropratiker. Dank Inputs der Trainer Martin Künzle und Rune Velta.
Küttel sagt, die einen seien früh gut und mit 25 weg, weil es zu einfach ging für sie; die anderen brauchten Zeit, um zu sich zu finden. «Jeder Weg ist anders im Skispringen», sagt Küttel, der mit Deschwanden weiterhin sporadisch in Kontakt steht.
Jetzt ist Deschwanden dort, wo Skispringer hin wollen: im Flow. 84 050 Franken Preisgeld hat er diese Saison schon eingesprungen, mehr als je zuvor. An den WM in Trondheim Ende Februar will er eine Medaille. Das Teufelchen, das bei jedem Sprung auf der Schulter sitzt, das dabei Ängste hat und böse Gedanken: Deschwanden hört es gerade kaum, nach dem Absprung wirft er sich blitzartig in die Flugposition. Er weiss, dass das Teufelchen wieder lauter werden kann. Aber er glaubt, dass er auch damit zurecht kommen würde.