Jonathan Hayward / AP
Jahrhundertelang suchten Europäer einen Seeweg durch die Arktis nach Asien. Viele verloren ihr Leben, weil sie das Wissen der Inuit nicht kannten. Seit Roald Amundsen, dem erfolgreichen Polarforscher, nutzen heutige Seefahrer dieses Wissen nicht nur fürs Reisen.
Welch ein Unterfangen! Eine Reise in eine der unwirtlichsten, kältesten Gegenden des Erdballs, ins Polarmeer der Arktis, wo Europäer über Jahrhunderte hinweg nach einer Schiffsroute für den Handel mit Asien gesucht hatten. Sie fanden Teilstrecken, aber erst spät, Anfang des 20. Jahrhunderts erst, gelang eine komplette Durchfahrt.
Die Temperaturen, das Eis – erbarmungslos. Schiffe schlugen leck oder wurden zerquetscht, kühne Männer kehrten ernüchtert um, oder sie liessen ihr Leben. Verhungerten, erfroren, starben an Tuberkulose, Skorbut. Kaum einer der Toten bekam ein Grab, sie blieben an Land liegen oder auf dem Eis, ihre von Tieren und Menschen abgenagten Knochen verteilte der Wind. Der Tod kann bitter sein.
Losgezogen waren sie aus Abenteuer- oder Entdeckerlust, um ihre Heuer zu verdienen oder Reichtum und Ruhm zu gewinnen, um ein Held oder einfach «der Erste» zu sein, der die Nordwestpassage per Schiff bewältigte. Der erste Europäer wohlgemerkt. Inuit leben im arktischen Archipel Westkanadas schon seit Jahrtausenden. Sie folgten den Routen der Tiere, waren in Kajaks und auf Schlitten unterwegs und sahen sich selbst als Teil der Natur. Nur hat lange niemand ihre Anwesenheit und ihr Können gewürdigt, geschweige denn ihre Toten gezählt.
Auch sie hatten Namen für das Land, für die Inseln, die Buchten und Meerengen, aber die sind in den Landkarten nicht verzeichnet. Die europäischen Entdecker drückten allem ihren Stempel auf, sie hatten die Küsten kartiert und die Tiefen ausgelotet, und deshalb spricht man heute von der Simpson Strait statt von Quukilruq und von King William Island statt Qikiqtaq. Einige Inuit kannten den Ort, an dem die Schiffe von John Franklins letzter Expedition Mitte des 19. Jahrhunderts versunken waren, doch niemand fragte sie danach.
Die Reise beginnt, wo der Polarforscher Amundsen erfolgreich landete
Im Goldschürferstädtchen Nome, Alaska, beginnt unsere Fahrt durch die Passage in umgekehrter Richtung, nämlich von West nach Ost. Hier hatte der norwegische Abenteurer Roald Amundsen 1906 seine Reise durch die Nordwestpassage beendet. Als Erster bewältigte er die gesamte Strecke auf dem Seeweg. Mit seinen sechs Kumpanen und dem umgebauten Fischkutter «Gjöa» nahm er sich dafür drei Jahre Zeit, wir haben mit dem modernen Hybrid-Expeditionsschiff «Roald Amundsen» nur gut zwei Wochen für einen kleinen, aber intensiven Einblick im Spätsommer.
Erfolgreiche Entdeckungsreise: In der Zeit von 1903 bis 1906 gelang Roald Amundsen (vorne links) mit dem umgebauten Fischkutter «Gjöa» die komplette Durchfahrt der Nordwestpassage.
Ein Sturm brüllt von der See so stark in den Hafen hinein, als wolle er alles hinauf in die Berge fegen, Menschen, Tiere, Autos, Häuser, Schiffe – welch fulminanter Auftakt. Die «Roald Amundsen», 2023 von der deutschen Naturschutzorganisation Nabu als umweltfreundlichstes Kreuzfahrtschiff gelistet, liegt unübersehbar in der weiss schäumenden Gischt am Kai und trotzt dem Wüten der Wellen. Vier Festmacherleinen, dicke Taue, knirschen, reissen und werden sofort erneuert. Die Gangway schwebt unkontrolliert auf und nieder, fast ein Drittel der etwa 270 Passagiere aus 19 Nationen kann das Schiff erst nach Stunden betreten, als die Winde wieder versöhnlicher klingen. Auch Inuit sind als Gäste an Bord. Als Botschafter ihrer Kultur.
Dann kommen wir los. Ausatmen. Die Wasser der flachen Beringstrasse, die Polarmeer und Pazifik verbindet, schimmern dunkel, der Himmel abgestuft in hellen Grautönen, irgendwann wird die Horizontlinie unscharf. Schemenhaft zeichnet sich in der Ferne Land ab, fahle Silhouetten, ein Farbfilm wäre die reinste Verschwendung. Kleine Vogelschwärme streifen über die Wellen. Einst führte hier eine Landbrücke von einem Kontinent hinüber auf den anderen.
Am Morgen wird es voll an Deck, wir haben den Polarkreis überquert, und Njörd, der Poseidon des Nordens, erscheint weiss gewandet mit seinem Horn, um zur Polartaufe zu blasen. Vom Kapitän gibt’s Eiswasser aufs Haupt für alle Ungetauften – natürlich freiwillig.
Buckelwale im verheissungsvollen Licht
Auf dem Weg zu Point Barrow, dem nördlichsten Punkt Alaskas, glitzern die ersten Sonnenstrahlen über die See. Aufregung macht sich breit, Buckelwale schwimmen neben dem gestoppten Schiff, umschwärmt von Kurzschwanzsturmtauchern, wie der Bordornithologe erklärt, die einsammeln, was der Wal ausspuckt. Hoch aus dem Wasser gestreckte Fluken rufen begeisterte Fotografen an die Reling, wo sie ihre langen Kameraobjektive und manche auch ihre Ellbogen ausfahren, Klicken ohne Ende.
Der Vortrag eines Meeresbiologen an Bord beschreibt den Weg der Säugetiere ins Meer – wie vor 65 Millionen Jahren die Nasenlöcher in evolutionärem Tempo, also über viele Generationen, auf den Rücken wanderten und zum Blasloch wurden, wie die einen Barten entwickelten und die anderen Zähne behielten und manche Arten sogar lernten, länger als drei Stunden zu tauchen. Ein Zeitsprung in eine Welt, in der wir Menschen noch keine Rolle spielten.
An kanadischen Küsten wurden Häuser aus Treibholz gebaut
In der Ferne ein weisser Streifen Meereis, kleine Eisbrocken schaukeln neben dem Schiff auf den Wellen. Das ist wenig, die Meereisfläche rund um den Nordpol schrumpft seit Jahren. Dem britischen Polarforscher Sir John Franklin, der 1845 mit zwei Schiffen und 129 Mann in die Nordwestpassage gestartet war, hätte das gefallen, aber damals sahen er und seine Männer keine Chance gegen die zerstörerische Gewalt des Packeises.
Ungewisse Zukunft: Die Eisbären ziehen wegen der steigenden Temperaturen nach Norden in kühlere Gegenden, das bedroht die traditionelle Lebensweise der Inuit.
Herschel Island vor der kanadischen Nordküste, einst eine Walfangstation, seit 1987 unbewohnt, ist unsere erste Anlandung. Von April bis September hausen vier Ranger in den verlassenen Holzhäusern und hüten die Relikte: Räuchergestelle, rostende Gerätschaften, Kisten und Kasten, Schneeschuhe, Schlitten, Knochen von Karibu, Moschusochsen und Grönlandwal. Seine zwei Meter langen Barten.
Die See hat Unmengen von Treibholz angeschwemmt, über den Nordpol hinweg, Holz ist ein kostbares Gut in diesen baumlosen Breiten. Zum Bauen, zum Feuermachen, zum Fallenstellen. Richard, einer der Ranger, erzählt, dass der Permafrostboden jetzt auftaue, früher habe man im Sommer einen Stab nur einen halben Meter tief in die Erde stecken können, heute mit Leichtigkeit einen ganzen.
Der matschige Grund wird mit Holzwegen überbrückt. Strom bekommen die Männer nur von einigen Solarpaneelen, die sie auf zwei Dächer geschraubt haben, Trinkwasser aus einem See auf der Insel, aus dem sie im April Eisblöcke aussägen. Den Generator haben sie abgeschafft, zu viel Lärm. Vom Ufer werfen sie Netze mit Reusen aus, so wie früher die Frauen. Die mussten beim Fischen ja gleichzeitig nach den Kindern gucken. In diesem Jahr seien acht Schiffe angemeldet, sagt Richard.
Die Wolken hängen tief, nur für kurze Momente schafft es die Sonne, die wattige Decke zu durchdringen. Auch als wir die «Smoking Hills» erreichen, die seit Jahrhunderten vor sich hin dampfen, weil ihre schwefel- und xylithaltigen Ölschieferschichten sich immer wieder aufs Neue entzünden. Wissenschafter an Bord nehmen Wasserproben, fotografieren Vögel oder beobachten Wolken und übermitteln ihre Ergebnisse an Forschungsprojekte und an uns Passagiere.
Eintauchen ins Land der Inuit
Das kanadische Nordwest-Territorium ist ein Labyrinth aus Inseln, Halbinseln und Inselchen in gigantischem Ausmass. Die in familiären Verbänden lebenden, nomadischen Inuit passten sich als Jäger und Sammler den harschen Gegebenheiten an, bauten Häuser aus Eis und Zelte aus Treibholz- und Knochengerüsten, die sie mit Tierhäuten bedeckten. Erst als die Hudson’s Bay Company um 1900 einige Handelsposten gründete, etablierten sich nach und nach kleine Holzhaus-Siedlungen.
Ulukhaktok liegt im Vorland der Klippen, die das Material für die «Ulus», die «Frauenmesser», abwerfen. Mit diesen Messern kratzen Frauen noch heute die Fettschicht von der Robbenhaut und schneiden rohen Fisch und rohes Fleisch in feine Streifen.
Eine kleine Gruppe steigt in bunten Festkleidern an Bord. Im Salon bieten sie Folklore, schlagen tanzend die Trommeln im monotonen Takt, als wollten sie sich in Trance versetzen. Geradezu rührend eine alte, krumme Frau, die kräftig mitmischt, drei senkrechte Striche hat sie von der Unterlippe bis zum Kinn eintätowiert, eine Linie für jedes Kind, das sie geboren hat.
Im Dorf knattern Quads über die Schotterstrassen, Motor- und Holzschlitten warten vor den Häusern, die Schlittenhunde sind am Dorfrand angekettet. Fischerboote liegen geschützt in der Bucht. Die Einwohner leben von der Jagd und vom Kunsthandwerk-Verkauf, sie stellen Druckgrafiken her, arbeiten in der Verwaltung oder beziehen staatliche Unterstützung. Ihre wenigen Autos – mit Kennzeichen in Eisbärenform – werden nur innerhalb der Siedlung gefahren, es gibt keine Strasse hinaus. Wohin auch?
Zwei Kirchen zeugen vom Versuch einer Christianisierung, eine ist römisch-katholisch, die andere anglikanisch. Etwa tausend Enten schössen sie im Jahr, erzählt eine Frau, die uns Besucher durchs Dorf führt, dazu Karibus, Moschusochsen, Robben und drei bis vier Belugawale. Manchmal einen Eisbären. Die erlegten Tiere werden vom Scheitel bis zur Sohle verarbeitet, vom Horn bis zum Huf. Robbenkrallen baumeln an Halsketten und Ohrringen, Robbenfell wird zu Kleidung oder Schuhen, die inzwischen auch wieder nach Europa eingeführt werden dürfen, wenn sie von Inuit hergestellt sind. Man bekommt ein Zertifikat.
Wir werden gebeten, im einzigen Supermarkt nichts zu kaufen. Es könnte den Bewohnern fehlen, das Versorgungsschiff kommt nur einmal im Jahr. Zwei Krankenschwestern kümmern sich um die Gesundheit, und alle drei Monate fliegen ein Allgemeinarzt, ein Augenarzt und ein Zahnarzt ein. Zähne würden eher gezogen als repariert, wobei die wichtigen im Mund verbleiben sollten, sagt ein Mann – mindestens einer vorne zum Abbeissen. Den Rest schaffen zur Not die ausgehärteten Kieferknochen. Im arktischen Archipel verbietet sich jedes Zimperlichsein. Schwangere werden einen Monat vor dem Geburtstermin in die Kleinstadt Yellowknife ausgeflogen, wo sie bis zur Niederkunft kostenlos unterkommen. Ihre Babys tragen sie dann in weiten Kapuzen auf dem Rücken.
Die kalte Luft im Amundsen-Golf löst Glücksgefühle aus
Zurück im Amundsen-Golf. So hoch im Norden zieht die Sonne einen ungewohnt flachen Bogen über den Horizont, stundenlang zögert sie ihren Untergang hinaus, bis sich auch der letzte Passagier auf die Nacht eingestimmt hat. Schlaf, getragen vom Rauschen des Meeres. Offene Balkontüren. Die Luft ist von einer Frische und Reinheit, dass allein ein tiefes Einatmen Glücksgefühle auslösen kann. Ein kurzes Glück. Auf dem Weg nach Cambridge Bay im Süden von Victoria Island zerfliesst die Welt in Nebel und Nieselregen, 30 Knoten Wind von Nord, Wellengang mit Schaumkronen. Kälte.
Es ist Ende August. Inseln tauchen auf, flache Schilde aus uraltem Gestein, Gneise, die wie Kuhfladen auf dem Wasser liegen, nur erkennbar am weissen Häkelsaum der Gischt um ihre Küsten. Die Wasserstrassen, die in europäischen Atlanten so schmal erscheinen, sind weit, aber es fehlt an Tiefe. Auch deshalb ist der Traum von einem kurzen Handelsweg durch diesen südlichen Teil der Passage erst einmal ausgeträumt.
Hinweise der Inuit führten zum kalten Grab der Franklin-Expedition
Im Hafenstädtchen Cambridge Bay wirbeln lärmende Quads und Pick-ups Unmengen von Staub auf, der in den Augen und auf der Zunge klebt wie Puderzucker. Hier wohnen etwa 1500 Menschen. Am modernen High Arctic Research Center können bis zu 48 Wissenschafter forschen, sofern sie ihr eigenes Equipment mitbringen, Motorschlitten werden gestellt. Sie beschäftigen sich mit Klimawandel, tauenden Permafrostböden und Küstenabrutschen, Eis oder Schnee in ihren zahlreichen Ausprägungen.
Die Kommunikationsdirektorin am Research Center, Jeannie Ehaloak, in Cambridge Bay geboren, kam nach ihrem Studium zurück, «home is home». Sie besucht umliegende Siedlungen, erklärt in Schulen, welche Jobs angeboten werden, und erkundet die Probleme der Bewohnerinnen und Bewohner. Die Frage etwa, warum heute weniger Moschusochsen durchziehen, konnten Wissenschafter schnell beantworten: weil zu viele Schneegänse die raren Futterplätze einkoten. Jetzt sammeln die Inuit zur Brutzeit sämtliche Gänseeier, die sie finden, um den Bestand zu reduzieren. Als sie ein Kind gewesen sei, hätten sie immer nur ein oder zwei Eier aus einem Nest genommen, sagt Ehaloak. Inuit verstehen sich auf Nachhaltigkeit.
Das Wetter verschlechtert sich weiter, das Thermometer zeigt nur noch 3 Grad, und der Wind von Nord könnte Eis bringen. Wir sind auf dem Weg nach King William Island, jener Insel, auf der sich während der Franklin-Expedition furchtbare Dramen abgespielt haben, alle Männer starben. In ihrer Verzweiflung – so beweisen es Knochenfunde – waren einige zu Kannibalen geworden. Erst vor kurzem konnte anhand von Einkerbungen an einem Skelett und DNA-Abgleichen nachgewiesen werden, dass auch der Kapitän James Fitzjames, der nach dem Tod von Franklin das Kommando über die «Erebus» übernommen hatte, als Nahrung gedient hatte.
Nördlich und südlich der Einfahrt in die Simpson Strait liegen die beiden gesunkenen Schiffe. Nach mehr als fünfzig Suchexpeditionen im 19. Jahrhundert wurde im Jahr 2014 erst die «Erebus» gefunden und 2016 die «Terror». Dank ihrer Tradition der «oral history» gaben Inuit die entscheidenden Tipps. Die kanadische Regierungsorganisation Parks Canada, zuständig für die Bewahrung von Kultur und Natur, hat die Fundorte zum historischen Nationalerbe erklärt.
In den kurzen Sommern bergen Unterwasserarchäologen Gegenstände aus den Wracks. Sie werden restauriert und sollen zuerst im Museum von Gjoa Haven gezeigt werden. Hier hatte Roald Amundsen den Inuit abgeschaut, wie man im Eis leben kann. Anders als Franklin, der seine reich ausgestatteten Schiffe und seine Mannschaft als das Nonplusultra angesehen hatte, war Amundsen neugierig gewesen auf die Menschen, die ihm so freundlich begegneten. Auch wir werden in Gjoa Haven herzlich empfangen, eine Band spielt zum Tanz auf in der Gemeindehalle, Alte und Junge sind gekommen, viele Kinder klackern in zu grossen Turnschuhen über die Tanzfläche. Alles, was das Versorgungsschiff und gelegentliche Flugzeuge bringen, ist teuer. Die «Roald Amundsen» lädt bei jedem Dorfbesuch kistenweise Geschenke aus. Als Dank, dass wir kommen dürfen.
Begegnungen ermöglichen Einblicke in den heutigen Überlebenskampf der Inuit
1999 haben die Inuit nach Jahrzehnten von Zwangsumsiedlungen und Internatsschulen für Kinder, in denen ihre Muttersprache und Kultur nichts galt, Autonomierechte im Nordwest-Archipel erkämpft, Nunavut, «unser Land». Ein karges weites Land, imposant mit seinen schroffen Felsformationen, dünn besiedelt. Lehrer unterrichten jetzt nicht mehr nur auf Englisch, sondern auch auf Inuktitut. Jagen zu lernen, gilt als ebenso wichtig wie der Schulunterricht, alte Spiele und Sportarten werden gepflegt, etwa Liegestütze, bei denen man sich mit Händen und Füssen gleichzeitig vom Boden nach vorn abstösst – Robbengang.
Nataq Ungalaaq wurde im Nomadenzelt geboren und verlebte seine Winter in Iglus. An Bord erzählt er stolz, wie er als Hauptdarsteller des ersten Inuit-Spielfilms, «Atanarjuat – The Fast Runner», nackt über eine unendlich weite Eisfläche rennen musste, um seinen Verfolgern zu entkommen. Anfangs noch barfuss, erst später durfte er fleischfarbene Gummischuhe tragen, bevor seine Füsse ganz zerschnitten waren. Wie er das geschafft hat? «Ich bin ein Mann», sagt er, «ich hatte schon nackte Männer über Eis rennen sehen.» Der Film wurde in Cannes und auf anderen Festivals prämiert, heute moderiert Nataq Ungalaaq Radio- und Fernsehsendungen auf Inuktitut. Vom Iglu in die Hightech-Studios, eine rasante Karriere.
Joe und Rose aus Taloyoak, ebenfalls an Bord, sind Jäger geblieben. Ihre Gemeinde hat entschieden, keine Kreuzfahrtschiffe zu empfangen. So können sie ungestört mit der ganzen Familie ihre Beute verarbeiten. Solidarisch würden die Alten und alleinerziehende Frauen im Dorf mitversorgt, so sei es Tradition. Der Winter kann bis zu minus 40 Grad kalt werden, dann schlagen sie Löcher in die glitzernden Eisflächen, damit Robben auftauchen und Luft holen können. Die Jäger stehen bereit mit Harpune und Gewehr, ohne sich zu rühren, um kein Tier zu verscheuchen. Auf die Frage, wie lange er so unbeweglich auf dem Eis ausharre, zuckt Joe die Achseln und sagt: «Ach, ungefähr drei Stunden.»
Fahrt durch knackendes Eis
Auch Franklins Männer hatten einige Inuit getroffen, nachdem sie die Schiffe im Eis zurückgelassen und sich zu Fuss auf den Weg gemacht hatten, zunächst bekamen sie auch ein bisschen Fleisch. Aber dann machten die Jäger einen Bogen um die Fremden, deren Absicht ihnen rätselhaft blieb. Wie hätten sie auch hundert Männer ernähren sollen, Männer, die ohne Frauen gekommen waren, wenn die Nahrung nur knapp für ihre eigenen Familien reichte?
Meereis begleitet unser Schiff Richtung Norden, in der Bellot Strait öffnet sich das steile Basaltgestein wie ein Tor, dunkle Wolken liegen schwer über der schmalen Durchfahrt, durch die das Wasser prescht, vorm Bug schwimmt eine Robbe. Zwei Eisbären sind unterwegs im Hangschutt – ob sie die Robbe schon im Visier haben?
Sehr früh am nächsten Morgen passieren wir die 300 Meter hohen Klippen von Prince Leopold Island am Lancaster Sound, ein Vogelparadies. Nebel zaubert magische Momente in den Sonnenaufgang, während knackende Geräusche verraten, dass das Schiff Eis bricht.
An Deck schneidet Kälte uns den Atem ab, trotz dicker Vermummung brennt die Gesichtshaut, bevor sie so taub wird wie eingeschlafene Füsse. Vor dieser Kulisse wirken die umherstreifenden Eisbären winzig. Natürlich besuchen wir auf der anderen Seite des Lancaster Sound Beechey Island, die berühmte, mit Geschichte aufgeladene steinige Landzunge vor steil abfallenden Felsen. Drei Seeleute sind hier begraben, verstorben bei der ersten Überwinterung der Franklin-Expedition, aus dem grauen Schotter ragen ihre Grabsteine. Nicht die Originale, sondern wetterfeste Repliken, auch sie inzwischen windschief. Wen kümmert es schon? Nur wir Touristen statten dieser leeren Einöde Besuche ab. In den Senken liegt Schnee.
Diese Reportage wurde möglich durch die Unterstützung von HX Hurtigruten Expeditions.