«Il Baretto» im Zürcher Hauptbahnhof verleiht Reisenden wie Hierbleibenden seit genau zwanzig Jahren einen anständigen Koffeinschub. Dem Personal gilt die volle Bewunderung.
Manche Orte werden wortreich als gastlich angepriesen – und bleiben kalt und leblos. Andere hält man auf den ersten Blick für kühl, bis sie einem auf wundersame Weise das Herz erwärmen. Es steht und fällt mit den Menschen, die darin wirken.
Zur zweiten Kategorie zählt unser Nachtfalter «Il Baretto», dessen Glaskubus wie ein Museumsstück in der Querhalle des Zürcher Hauptbahnhofs steht, am Kopf von Gleis 16. Seit genau zwanzig Jahren ist das eine Art bedienter Wartesaal; Businessleute, wanderlustige Rentnerinnen und Bahnarbeiter kommen hier unzürcherisch leicht ins Gespräch.
Als das kleine Lokal im Jahr 2005 eröffnet wurde, herrschte in Zürich noch das Café-crème-Regime. Umso dankbarer war die Anhängerschaft eines starken Espresso italienischer Art für dieses Angebot. An der Siebträgermaschine stehen bis heute keine Barista-Hipster mit tätowierten Unterarmen wie in den Kaffeebars, die seither aus dem Boden geschossen sind. Die Männer und Frauen hinter der Theke, fast alle mit ausländischen Wurzeln, sind nicht um Coolness bemüht, sie verleihen diesem Ort die menschliche Note. Und wie sie Tag für Tag Effizienz mit natürlicher Freundlichkeit verbinden, verdient Bewunderung.
Das bestens eingespielte, in letzter Zeit um sehr junge Gesichter ergänzte Team, das der Falter fast immer gut aufgelegt antrifft, weiss: Besonders die Take-away-Kundschaft hat meist einen Zug zu erwischen, für den sie ohnehin schon spät dran ist, also keine Zeit zu verplempern. Anders als etwa in Sprüngli-Shops, deren Personal einen gerne mit allerlei Fragen aufhält («Händ Sie eusi Chundecharte?») und langsam Mäschli knüpft, läuft hier alles wie am Schnürchen: Kaum an der Kasse bestellt und bezahlt, steht der frisch zubereitete Espresso auf der Theke, ob zum Mitnehmen oder Hiertrinken.
Abgefertigt fühlt man sich dabei keineswegs: Meist erhält der Falter zum feinen Doppio (Fr. 5.90) ein doppeltes Lächeln serviert, oft auch ein freundliches Wort, und wird ihm morgens ein schöner Tag, spätabends eine gute Nacht gewünscht, wirkt es nicht floskelhaft.
Der Espresso (Fr. 4.80) kostet gut zehn Prozent mehr als noch vor zwölf Jahren, die Fünfliber-Schmerzgrenze ist aber immerhin noch nicht erreicht. Inbegriffen ist ein Cantuccio, und wer den Kaffee in der Tasse bestellt, erhält ein Glas Wasser dazu. Für Nachtschwärmer gibt’s einen Wermutstropfen: Der früher bis Mitternacht, an Wochenenden gar rund um die Uhr geöffnete Betrieb schliesst jetzt um 22, spätestens 23 Uhr. Doch wer kurz vor Schluss einen Kaffee wünscht, muss nicht wie manchenorts in der Stadt mit der faulen Ausrede rechnen, die Maschine sei schon gereinigt. Early Birds kommen zudem schon um 6 Uhr zum Koffeinschub und werden von appetitlich aussehenden Cornetti und Amaretti in der Vitrine erwartet.
Der Falter hat hier sein Koffein schon vor zahlreichen Reisen getankt, Richtung Wien, Rom, Neapel, Liestal, bei Tag und bei Nacht. Manchmal muss er sich auch einfach vor einer Beleidigung dieses Daseins retten, etwa vor einem Christkindlimarkt oder einem lauten Oktoberfest-Plagiat in der benachbarten Wannerhalle. Dann setzt er sich mit einer Tasse an die grosse Glasscheibe über den Rolltreppen und sieht auf diesen das Leben in Zeitlupe vorbeiziehen, während seine flatternden Gedanken sich im Nirgendwo verlieren. Den Takt gibt das Klopfen des Kolbens vor, aus dem der Kaffeesatz befördert wird, im Hintergrund mahlen die Mühlen.
Inzwischen setzt Candrian Catering, das die Bohnen seit neunzig Jahren im Haus selbst röstet, sein «Il Baretto»-Konzept auch im Basler Bahnhof und im Zürcher Shop-Ville um. Der beschriebene Standort aber bleibt das Original, und sein Personal punktet auch bei Gästekommentaren auf einschlägigen Internetplattformen stark (zieht man einmal die üblichen zehn Prozent ab, die stets etwas zu motzen haben).
Ein Markus berichtet etwa auf Tripadvisor: «Han mich chli wele entspanne im ‹Il Baretto›. Han dänn doch chli zviel trunke kha und au kei Kraft meh ide Bei kha zum laufe. Bi mim Alter. Enis isch cho und het mich useträgt bis zu de Taxis und het das mit em Taxifahrer für mich greglet. Han ihn den wieder bsuecht und en 10nerli geh.»
Wem wird bei dieser Anekdote nicht warm ums Herz? Zurzeit tröstet eine Tafel vor dem Eingang auch jene, die den Zug verpasst haben: Der nächste komme bestimmt, steht da auf Italienisch, man solle sich doch bis dahin im «Baretto» einen Prosecco genehmigen. Oder in der Velostadt Zürich vielleicht eine Bicicletta (Fr. 8.–), also Weisswein mit Campari? Aber mit Mass, nicht wie Markus, versteht sich.
«Il Baretto», Hauptbahnhof (vis-à-vis Gleis 16), 8001 Zürich.
Der Nachtfalter ist stets unangemeldet und anonym unterwegs und begleicht am Ende stets die Rechnung. Sein Fokus liegt auf Bars in Zürich, mit gelegentlichen Abstechern in andere Städte im In- und Ausland.
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