Als Armeechef bewahrte er Libanons Streitkräfte vor dem Zerfall – nun muss er zeigen, dass er ein ganzes Land zusammenhalten kann. Ein Porträt.
Als Joseph Aoun am Donnerstag vor das Parlament trat und seinen Amtseid ablegte, hatte er die Uniform des Armeechefs bereits gegen Anzug und Krawatte eingetauscht. Zwar dürfte der stämmige, breitschultrige General die leichte Tarnjacke gegenüber dem steifen Jackett bevorzugen – doch in Zukunft wird staatsmännisches Auftreten von dem Mann gefordert sein, der sein ganzes bisheriges Leben in den Dienst der libanesischen Armee gestellt hatte.
Zuvor hatten 99 von 128 Parlamentariern, darunter auch Abgeordnete des schiitischen Hizbullah, Aoun zum neuen Präsidenten Libanons gewählt. Sie beendeten eine politische Blockade, die den heruntergewirtschafteten Staat am Mittelmeer mehr als zwei Jahre lang paralysiert hatte. Aoun bedankte sich am Donnerstag für «die wichtigste Auszeichnung, die ich je erhalten habe».
Er wolle aufräumen mit mafiösen Strukturen, dem Drogenhandel, der Unterwanderung des Justizsystems, sagte er. Kann er Libanon wieder auf die Beine stellen? Jenes kriegsgeplagte Land, dessen Wirtschaft sich seit Jahren auf Talfahrt befindet, das von Korruption und konfessionellem Klientelismus zerfressen ist und in dem die Islamisten des Hizbullah einen Staat im Staate und eine mächtige Schattenarmee aufgebaut haben? So viel steht fest: Joseph Aoun hätte sich eine leichtere Aufgabe aussuchen können.
Taugt Aoun zum Hoffnungsträger?
Viele Libanesen jedenfalls scheinen Aoun einen grossen Vertrauensvorschuss entgegenzubringen: Nach seiner Wahl zogen jubelnde Menschen mit libanesischen Flaggen durch die Strassen, bis tief in die Nacht stiegen Feuerwerksraketen in den libanesischen Nachthimmel. In Beirut sagen manche, dass zum ersten Mal seit langem wieder so etwas wie Hoffnung aufkeime.
Doch auch in den internationalen Reaktionen auf Aouns Wahl spiegelt sich eine Mischung aus Erleichterung und Euphorie. So hatten insbesondere die USA, Frankreich und Saudiarabien im Vorfeld für den als kompetent, pragmatisch und unabhängig geltenden Armeechef lobbyiert. Sogar der Aussenminister des verfeindeten Israel gratulierte und drückte am Donnerstag seine Hoffnung auf «gute nachbarschaftliche Beziehungen» aus. Auf Aoun scheinen sich alle einigen zu können.
Doch warum soll ausgerechnet Joseph Aoun, der über keinen politischen Leistungsausweis verfügt und dessen politisches Programm weitgehend unbekannt ist, zum Hoffnungsträger taugen? Die Antwort liegt in seinem Werdegang. Aoun war schon 1983 in die Armee eingetreten und machte sich bald einen Namen als disziplinierter und loyaler Soldat. 1985 trat er den libanesischen Spezialkräften bei und wurde danach unter anderem in den USA in Terrorabwehr geschult.
Als er schliesslich im Jahr 2017 zum Armeechef ernannt wurde, startete er umgehend eine Kampagne gegen die Terroristen des Islamischen Staates, die sich im syrisch-libanesischen Grenzgebiet eingenistet hatten. Nur wenige Monate später konnte er verkünden, dass die Operation erfolgreich abgeschlossen und der IS vertrieben sei. Doch Aouns grösste Herausforderung wartete noch auf ihn.
Touristen im Armeehelikopter
Die verheerende Wirtschaftskrise, die im Sommer 2019 einsetzte und Libanon bis heute fest im Griff hat, traf auch die Armee mit voller Wucht. Das libanesische Pfund verlor innert kürzester Zeit über 90 Prozent ihres Wertes. Soldaten, die zuvor ein Salär von umgerechnet 800 Dollar im Monat erhalten hatten, verdienten plötzlich nur noch 70 Dollar, während gleichzeitig die Preise für Benzin und Lebensmittel durch die Decke gingen.
Die Armee sah sich zu drastischen Massnahmen gezwungen und strich etwa Fleisch aus dem Menuplan für die Soldaten. Die Luftwaffe organisierte Helikopterrundflüge für Touristen à 150 Dollar pro Viertelstunde, um die klaffenden Löcher in der Kasse zu stopfen. Im März 2021 platzte dem sonst so zurückhaltenden Armeechef Joseph Aoun dann der Kragen. An die lethargischen Politiker gerichtet, sagte er: «Die Militärs leiden und hungern wie das Volk. Wo gehen wir hin? Worauf wartet ihr? Was plant ihr?» Der Auftritt ging im ganzen Land viral.
Ich bin einer von euch, signalisierte er, und verschaffte sich damit Respekt und Anerkennung. Es heisst, dass er bis heute Restaurants und Galadinners meidet, weil er weiss, dass seine Soldaten sich diesen Luxus nicht leisten können. Auch wenn die Armee heute verlottert und schwach ist, schaffte es Aoun, sie aus dem toxischen Morast der Politik fernzuhalten und sie vor dem Kollaps zu bewahren. Das zeigt, dass der General über politisches Können verfügt. Nicht zuletzt gelang es Aoun, der fliessend Englisch und Französisch spricht, durch geschickte Diplomatie im Ausland Unterstützungsgelder in Millionenhöhe aufzutreiben.
Dazu kommt, dass die Armee wohl die einzige libanesische Institution ist, die nicht von all den politischen, konfessionellen und gesellschaftlichen Fehden befallen ist, die das Land in allen anderen Bereichen lähmen. Die Streitkräfte, in denen Schiiten, Sunniten, Christen und Drusen gemeinsam dienen, erbringen den Beweis, dass ein Miteinander möglich ist – deshalb werden sie von der Mehrheit der Libanesen respektiert. Es ist kein Zufall, dass Aoun schon der fünfte Armeechef ist, der das Amt des Präsidenten ausübt. Für ihn spricht zusätzlich, dass er nicht mehr der Generation der intriganten Warlords angehört, die sich im Bürgerkrieg bis aufs Blut bekämpften.
Auf Konfrontationskurs mit dem Hizbullah
Bereits wird Aoun mit Libanons drittem Präsidenten Fouad Chehab verglichen, unter dem zwischen 1958 und 1964 vorübergehend Stabilität geherrscht hatte. Doch die Zeiten haben sich geändert: Einerseits hat das Staatsoberhaupt heute weniger Macht. Und andererseits gab es damals noch keinen Hizbullah, der Libanon mit iranischer Hilfe in Geiselhaft hielt. Die Miliz ist denn auch Aouns drängendstes Problem: Bis zum 27. Januar muss sie sich gemäss dem Waffenstillstandsabkommen mit Israel aus Südlibanon zurückziehen. Gelingt dies nicht, droht ein neuer Krieg.
Als Armeechef hatte es Aoun auch aus Rücksicht auf die innere Stabilität seiner multikonfessionellen Truppe vermieden, Konflikte mit der mächtigen Miliz zu provozieren – als Präsident wird er nicht mehr darum herumkommen. Allerdings zeigt der Umstand, dass auch Hizbullah-Abgeordnete zähneknirschend Aoun wählten, dass sich die Organisation ihrer eigenen Schwäche infolge des Krieges mit Israel bewusst ist. Es war ein taktischer Rückzug – der allerdings nicht bedeutet, dass der Hizbullah seinen Machtanspruch aufgegeben hat.
Am Donnerstag sorgte insbesondere ein Satz des neuen Präsidenten für Aufsehen: Allein der Staat werde das Waffenmonopol haben, sagte Aoun und machte damit seine Absicht klar, die Miliz zu entwaffnen. Es folgten stehende Ovationen. Nur die Hizbullah-Parlamentarier blieben regungslos sitzen. Aoun ist offensichtlich gewillt, die Machtverhältnisse in Libanon zu verschieben.