Recherchen zeigen: Die Vorwürfe gegen den Alpinisten sind umfassender als bisher bekannt. Nepals telegene Lichtgestalt gerät in Erklärungsnot.
Wer hoch steigt, kann tief fallen: Selten passte der Sinnspruch besser als hier. Nirmal Purja ist oft sehr weit hinaufgestiegen. Als «Ground-Breaking Record Holder» beschreibt er sich bei Instagram. Zweimal bestieg er die vierzehn Achttausender. Einmal mit und einmal ohne Flaschensauerstoff. Damit nicht genug. Purja hat auch die höchsten Gipfel der sieben Kontinente erreicht, die Seven Summits. Und ihm gelang gemeinsam mit neun weiteren Bergsteigern aus Nepal die Wintererstbesteigung des gefürchteten K 2 (8611 Meter) in Pakistan. Dank einer Netflix-Dokumentation wurde er zum globalen Star.
Einige seiner Rekorde werden offen hinterfragt: War er wirklich jedes Mal am höchsten Punkt? Es gibt zudem Zweifel, ob alles so passiert ist, wie er es schildert. Die Rettung einer Inderin am Mount Everest durch Purja wird von der Frau bestritten, als deren Retter er sich geriert.
Und doch: Nirmal Purja, der sich selbst Nimsdai nennt, wobei Dai so viel wie «älterer Bruder» bedeutet, hat an den höchsten Bergen der Welt Enormes bewegt. Er gab den einheimischen Bergsteigern ein Gesicht und grössere Anerkennung. Er war ein Vorreiter jener Influencer, die in immer grösserer Zahl zu den Gipfeln streben. Und nicht zuletzt trieb er die Rekordjagd im Himalaja an.
Die «NZZ am Sonntag» hat mit mehreren Frauen und Männern gesprochen, die Purja persönlich kennen, mit ihm in den Bergen unterwegs waren oder mit ihm anderweitig zu tun hatten. Es entsteht, wie schon in anderen Artikeln, das Bild eines Mannes, der im Kontakt zu Frauen immer wieder übergriffiges Verhalten an den Tag legt und Grenzen überschreitet. Schon lange wird in der Bergsteiger-Community über Purjas Umgang mit Frauen gleichermassen gewitzelt und sich mokiert. «Diesmal nur drei Models im Basislager», lautete die Nachricht des amerikanischen Bergsteigers Garrett Madison an einen Journalisten des Männermagazins «GQ», der einmal ein Porträt über den Nepalesen schrieb.
«Einmal Nein zu sagen, das muss doch reichen»
Im Februar 2024 berichtete eine Nepalesin der «NZZ am Sonntag» bei einem Aufenthalt in Österreich über ihre Erfahrungen mit Purja. Ihr Name ist der Redaktion bekannt. Er habe sie in einer Bar in Kathmandu angesprochen und immer wieder aufgefordert, etwas mit ihm zu trinken, obwohl sie mehrfach Nein gesagt habe, berichtet die Frau. «Einmal Nein zu sagen, das muss doch reichen. Es war eine sehr unangenehme Situation für mich», sagt sie. Ihr Mann bestätigt die Darstellung.
Aussagen weiterer Personen legen ebenfalls nahe, dass Purjas Verhalten mit dem von ihm in der Öffentlichkeit gezeichneten Bild kontrastiert. Der Filmemacher Sandro Gromen-Hayes beantwortet eine Interviewanfrage schriftlich: «Ich traf Nims zum ersten Mal im Jahr 2017, als ich eine Everest-Expedition der britischen Armee filmte, und filmte dann etwa zwei Jahre lang für ihn. Er behandelt jeden furchtbar, egal, ob es sich um seine Arbeiter, Kunden oder Frauen handelt. Er ist der am wenigsten umgängliche Mensch auf der ganzen Welt.»
Auch Agi Fischer hat ihre Erfahrungen mit Purja gemacht. Die Deutsche, die zu diesem Zeitpunkt im südafrikanischen Kapstadt lebte, wurde von ihm über Instagram kontaktiert. Er bot ihr an, im Rahmen einer Everest-Expedition im Basislager Yogakurse zu geben. Doch es sei alles anders gekommen. Purja habe sie mit Flirt-Nachrichten umgarnt, die er mit Herz-, Feuer- und Flamme-Emojis garniert habe, erzählt sie. Mehrfach habe er sie in Kathmandu treffen wollen, was sie immer abgelehnt habe. Anschliessend, so berichtet Fischer, habe sie seine nicht so nette, nicht so coole, nicht so angenehme Seite kennengelernt.
2022 war sie mit Elite Exped am Lobuche East (6119 Meter). Der Berg ist nicht besonders schwierig zu besteigen. Purjas Agentur preist ihn als Einstieg in das Bergsteigen im Himalaja. Aber wie jeder andere Berg, so hat auch der Lobuche East Tücken. Dem Briten Andrew James Clayton wurden sie zum Verhängnis, er kam dort ums Leben. Clayton nahm an derselben Expedition teil wie Fischer. Die Todesursache wurde nie bekannt.
Fischer war zu diesem Zeitpunkt schon zurück in Kathmandu. Entsetzt und geschockt wollte sie mehr über die Umstände des Todes ihres Expeditionskollegen erfahren. Doch Purja ermahnte sie, sie solle aufhören, irgendwelche Unwahrheiten zu verbreiten. «Nims wollte keine schlechten Nachrichten. Er hat mich blöd angemacht und versucht, den Vorfall zu vertuschen.»
Das deckt sich mit einem Bericht der in Kathmandu erscheinenden englischsprachigen Tageszeitung «Himalayan Times». So haben die betreffenden Behörden den Todesfall nicht öffentlich gemacht, weil Elite Exped sich weigerte, den Behörden Einzelheiten mitzuteilen. Purja lässt Fischers Vorwürfe auf Anfrage als unwahr bezeichnen, sie beruhten auf persönlichen Animositäten.
Als Fischer nach der Expedition in Kathmandu mit einigen der Teilnehmerinnen zusammensass, erzählte ihr eine Frau beim Abendessen von Gerüchten, wer schon etwas mit Purja gehabt habe. «Alle haben sie die gleichen ‹flirty› Nachrichten von ihm bekommen», sagt Fischer.
Während Fischer laut eigener Aussage das Angebot ablehnte, mit Purja in seiner Suite im Marriott-Hotel in Kathmandu etwas zu trinken, ging die finnische Bergsteigerin Lotta Hintsa auf ein Treffen an jenem Ort ein. Bereits im Vorfeld will sie klargemacht haben, sie wolle kein Schäferstündchen. Auch Hintsa wurde von Purja mit einer Zusammenarbeit bei einer Expedition gelockt.
Nachzulesen ist das in einem Artikel in der «New York Times». Die liess Ende Mai 2024 die Bombe platzen. «Für Bergsteigerinnen gehen die Gefahren über Lawinen und Stürme hinaus», hiess es in der Überschrift des Textes. Auch im Bergsport würden Frauen immer öfter von sexueller Belästigung und Missbrauch berichten. Der Hauptbeschuldigte in dem Text: Nirmal Purja. Zwei Frauen schildern darin ihre persönlichen Erfahrungen und erheben schwere Vorwürfe gegen ihn.
Hintsa, eine ehemalige Miss Finnland, traf Purja gemäss «NYT» im März 2023 im Rahmen eines Geschäftsmeetings. Laut der Zeitung führte der Alpinist die heute 36-Jährige jedoch in das Schlafzimmer seiner Suite. Er habe ihr Shirt, ihre Shorts und ihre Unterwäsche ausgezogen und versucht, ihren BH zu entfernen. Mehrfach habe sie Nein gesagt. Das Zusammentreffen endete demnach damit, dass er neben ihr masturbierte. Kein Einzelfall: Laut «NYT» hat Nirmal Purja auch andere Frauen ohne ihre Zustimmung geküsst, aggressive Annäherungsversuche gemacht oder sie gegen ihren Willen sexuell berührt.
Angst vor der Rückkehr nach Nepal
Wir telefonieren Ende November mit Hintsa, nachdem sie aus Nepal zurück ist. Es war ihre erste Reise dorthin seit der Veröffentlichung des Berichts. Viel Hass habe sie nach der Veröffentlichung in den sozialen Netzwerken erfahren, so schildert sie es. Sie sei ein Flittchen, sei ihr gesagt worden, ein Miststück, eine Bitch. Sie solle sich nicht einbilden, noch einmal nach Nepal zu reisen. Wenn sie es wage, erlebe sie ihr blaues Wunder.
Die Erfahrung aus ähnlichen Fällen zeigt: Irgendjemand findet sich immer, der an den Aussagen und der Glaubwürdigkeit einer missbrauchten Frau Zweifel sät oder der sich bereit erklärt, für die Unbescholtenheit des Beschuldigten einzustehen.
Hintsa sagt, die Reise nach Nepal in diesem Herbst sei richtig gewesen, sie habe dort eine gute Zeit gehabt, und genauso richtig sei es gewesen, mit ihren Erlebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen. Denn: Es sei alles genau so geschehen wie in der «NYT» berichtet. «Das ist die Wahrheit», sagt die 36-Jährige. Nach der Veröffentlichung ihrer Geschichte sei sie von Frauen kontaktiert worden, die mit Purja ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hätten, so erzählt sie es. «Wenn nur einer Frau etwas Ähnliches nicht widerfährt, wie es mir passiert ist, dann war es wert, mit meinen Erlebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen», sagt sie.
Wieso sie diesen Schritt nicht früher gemacht hat? Weshalb sie bestenfalls nicht gleich nach dem Vorfall zur Polizei gegangen ist? «In seinem Land, mit seinen Freunden, in einem Hotel, in dem er einen Shop mit seinen Produkten betreibt, das ist ein Ungleichgewicht, bei dem der Verlierer von vornherein feststeht.» War sie blauäugig? «Das Vertrauen, das er vorher aufgebaut hat, das Jobangebot; ich habe das nicht kommen sehen.»
Purja weist alle Anschuldigungen zurück. Er bestreite jegliches Fehlverhalten, sagt ein Sprecher des Bergsteigers auf Anfrage. Bezüglich des «NYT»-Artikels ergänzt er, Purja habe der Zeitung umfangreiche entlastende Beweismittel sowie Zeugenaussagen zur Verfügung gestellt, die nicht berücksichtigt worden seien. Er gehe rechtlich gegen die Publikation vor. Hintsa wiederum sei juristisch nicht gegen Purja vorgegangen, es habe in dieser Sache nie ein Verfahren gegeben.
Expeditionsanbieter und Alpinisten distanzierten sich nach Erscheinen des Berichts von Purja. Adrian Ballinger, ein amerikanischer Expeditionsveranstalter, der regelmässig als Bergführer im Himalaja unterwegs ist, erklärte, man müsse die Opfer ermutigen, sich zu äussern. «Ich bin tief genug drin in dieser Welt, um ein ziemlich gutes Gefühl dafür zu haben, wo die Wahrheit liegt.» Und der Bergläufer Kilian Jornet schrieb: «Wir müssen eine Kultur des Respekts und der Sicherheit im Bergsport fördern und sicherstellen, dass jeder seiner Leidenschaft ohne Angst nachgehen kann.»
Sponsoren ziehen sich zurück
Namhafte Sponsoren beendeten ihre Zusammenarbeit mit Purja, darunter der britische Rucksackspezialist Osprey und auch Grivel. Der Hersteller von Steigeisen, Pickeln und Eisgeräten hatte kurz vor dem NYT-Bericht eine neue Linie mit dem Schriftzug «Nimsdai» aufgelegt. Wer auf der Grivel-Website heute seinen Namen eingibt, bekommt zur Antwort: «Keine Treffer für ‹Nimsdai›.»
Je länger die Recherche dauert, desto verstörender werden die Vorwürfe. Zum Beispiel, dass Purja dem Herausgeber der «Himalayan Times» im Mai 2024 körperliche Gewalt angedroht haben soll, nachdem ein Artikel, der ihm nicht gefallen hatte, in der Zeitung veröffentlicht worden war. Wir bitten den Herausgeber Rajan Pokhrel mehrfach um eine Stellungnahme. Für ihn ungewöhnlich, lässt er jede der Anfragen unbeantwortet. Kurz vor der Veröffentlichung dieses Textes ein letzter Versuch. «Hallo Rajan, ich arbeite gerade an meinem Text über Nimsdai. Ich werde schreiben, dass er dich bedroht hat, richtig?» Die Antwort: «For sure.» Ja, sicher.
Wir reisen auch nach Nepal. Was denken die Menschen dort über Purja? Nicht nur im Umgang mit Frauen habe er Grenzen überschritten. Auch als Geschäftsmann soll er den Bogen überspannt haben. In der Expeditionsbranche ist man nicht gut auf ihn zu sprechen. Immer wieder breche er Regeln, was dann zum Nachteil von allen anderen werde, weil die Behörden Vorschriften noch strenger gestalteten, so ist zu hören.
Nicht vergessen hat man sein Verhalten nach einem Feuer und der Explosion von Gas- und Sauerstoffflaschen in den angemieteten Räumen seiner Agentur. Bei dem Vorfall starben drei Menschen. Der Vermieter verlangte 45 Millionen Rupien Entschädigung, was etwa 300 000 Franken entspricht. Purja habe so getan, als wäre nichts geschehen, berichteten mehrere Medien übereinstimmend. Schliesslich kam es zum Prozess. Laut einem Bericht der «Himalayan Times» hat das Bezirksgericht Kathmandu Purja und seine Expeditionsagentur erst vor wenigen Tagen für schuldig befunden und zur Zahlung einer Entschädigung von 11,3 Millionen Rupien an den Hausbesitzer verurteilt.
Nach den Enthüllungen der «NYT» scheint sich auch in Nepal etwas verändert zu haben. Purja ist nicht mehr unantastbar. Zumal er im Frühjahr kurz vor der Veröffentlichung des Artikels ein Video postete, in dem er den Vorwurf erhob, jemand habe Fixseile zerschnitten, damit seine Expedition den Everest-Gipfel nicht erreichen könne. Die unbelegten Vorwürfe lösten Irritationen aus. Offizielle Untersuchungen führten bisher zu keinem Ergebnis.
Die Vereinigung der Sherpa-Entrepreneurs forderte im Sommer, ihm und seiner Agentur die Erlaubnis für Expeditionen zu entziehen. Die Vorwürfe, die ihm zur Last gelegt werden: unerlaubtes Training oberhalb des Everest-Basislagers, ein unerlaubter Helikopterflug zum und vom Camp II am Mount Everest.
Es sei die Mentalität der Unbesiegbarkeit gewesen, die ihn in den Bergen so erfolgreich gemacht habe, sagt einer der Gesprächspartner in Kathmandu. Nun führe sie zu seinem Untergang. Nims, der sich in seinem Instagram-Profil einen «Philanthropen» nennt, sei selbst sein schlimmster Feind.
Es ist ruhiger geworden um den Superstar des Himalaja. Purja versucht, sein Image aufzupolieren. Im Sommer zeigte er sich in einer Instagram-Story mit einem Kind bei einem Spaziergang an einem See. Doch er hat viele Sympathien verspielt. Als er im Herbst mit der Besteigung der Shishapangma die Gipfel sämtlicher 8000er ohne Flaschensauerstoff in Rekordzeit erreicht hatte, war das vielen Redaktionen nicht einmal mehr eine Meldung wert.
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