Sich nach der Geburt zu sorgen, ist völlig normal. Doch manchmal wird daraus eine Angststörung, mit weitreichenden Konsequenzen für Mutter und Kind. Therapien gibt es, sie werden aber selten angeboten. Meist scheitert die Hilfe schon an der Diagnose.
Auf einmal schlägt ihr Herz rasend schnell, ihr wird schwindelig, ein Angstgefühl breitet sich aus. «Gleich stürze ich mit meinem Baby zu Boden.» Annika Redlich ist 36, vor vier Monaten ist ihre Tochter geboren. Sie fällt nicht hin, und auch die Angst verschwindet nach einer Viertelstunde. Aber die Panikattacken kommen immer wieder. Sie hat Angst, ihrer Tochter und dem 5 Jahre alten Sohn könnte etwas passieren, Angst, in den Supermarkt oder ins Büro zu gehen, Angst vor dem Einschlafen.
Zehn Monate nach der Geburt bricht Redlich zusammen. Sie legt sich weinend ins Bett, während die Kinder allein zu Abend essen.
«Die Angst dominierte mein Leben», erinnert Annika Redlich sich an die Zeit vor sechs Jahren, «das war ein nicht auszuhaltender Dauerzustand.»
Die Mutter litt unter einer postpartalen – also nach der Geburt auftretenden – Angststörung. Damit ist sie nicht allein: Gemäss Schätzungen ist im Schnitt eine von zwölf Müttern betroffen. Funda Akkus, leitende Ärztin der Psychiatrie St. Gallen in Wil, sagt: «Es ist völlig normal, nach der Geburt gewisse Ängste zu haben. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass eine Mutter in erhöhter Alarmbereitschaft ist, damit ihr Kind sicher aufwächst.» Mache sich eine Frau aber übermässige Sorgen, sei ständig angespannt und rastlos und habe das Gefühl, es würde etwas Schlimmes passieren, dann könnte es sich um eine postpartale Angststörung handeln.
Oft bleibt die Angst über Jahre
Viele Betroffene haben auch Jahre später noch Symptome, das zeigt eine systematische Übersichtsarbeit von Forschern der Universität in Calgary. Die Autoren analysierten dafür die Ergebnisse von vier Studien mit insgesamt fast 100 000 Frauen. Drei bis fünf Jahre nach der Geburt hatten je nach Studie zwischen 4 und 37 Prozent eine Angststörung.
Diese grosse Schwankungsbreite lässt sich durch die unterschiedlichen Herkunftsländer der Studien und verschiedene Diagnoseverfahren erklären. Vergleichbare Daten für die Schweiz gibt es nicht. «Aber selbst wenn es nur 4 Prozent wären, finde ich das viel, wenn man bedenkt, dass wir Angststörungen gut behandeln können», sagt Akkus.
Dass die Mütter so lange nach der Geburt unter Angststörungen leiden, sei nachvollziehbar, meint die Zürcher Psychotherapeutin Gabi Rüttimann. Erstens bärgen Angststörungen per se das Risiko, zu chronifizieren. Hinzu kämen die lang währenden Herausforderungen für junge Eltern, von der Säuglingspflege über die anstrengende Kleinkindphase bis zum Schulanfang. «Das sind Lebensphasen, die auch für Mütter ohne postpartale Angststörungen psychisch belastend sein können.»
Unter der Angststörung leidet nicht nur die Mutter
So vielfältig wie ihre Auslöser sind auch die Formen, in denen sich Angst zeigt: Manche Mütter leiden unter einer generalisierten Angststörung. Das heisst, sie können nicht genau sagen, wovor sie Angst haben. Andere haben Angst, dass dem Kind etwas zustossen könnte. Oder sie bekommen Panik, sobald sie unter Menschen gehen.
Mitunter kommen Zwangssymptome hinzu: Betroffene denken beispielsweise immer wieder daran, sie könnten ihr Kind fallen lassen oder mit einem Messer verletzen. Oder sie überprüfen zwanghaft, ob das Kleine noch lebt. Solche Zwänge lösen Scham- und Schuldgefühle aus, die dazu führen können, dass die Frau das Alleinsein mit ihrem Baby vermeidet oder den Körperkontakt reduziert.
Das jedoch erschwert den Aufbau einer engen, gesunden Beziehung zum Baby. Mütter mit einer postpartalen Angststörung berühren ihre Kinder seltener und weniger liebevoll. Sie möchten nicht stillen, trauen ihrem Kind nichts zu und fördern seine Autonomie nicht ausreichend. Die Kinder lernen so kaum, mit Stress umzugehen, und sie leiden später häufig selbst unter Ängsten.
Auch Väter sind gefährdet: Gemäss einer Auswertung von 23 Studien mit insgesamt mehr als 14 000 Teilnehmern leidet jeder achte im Jahr nach der Geburt seines Kindes unter Angststörungen. Das ist deutlich häufiger als bei Männern ohne Baby. «Es tauchen viele Fragen auf, die den Mann stressen und so zur Entstehung einer Angststörung beitragen können», sagt Rüttimann. Wie wird die Beziehung zu meiner Frau? Und der Sex? Viele Väter belaste auch, dass sie nun weniger Aufmerksamkeit von ihrer Partnerin bekämen, weil der Fokus auf dem Kind liegt. Hinzu komme der Anspruch, ein guter Vater sein zu wollen. «Das kann Ängste verstärken.»
Neue Therapien beziehen das Kind mit ein
Für postpartale Angststörungen gilt: Je länger die Zeit bis zum Therapiebeginn, desto schwieriger wird es, sie zu behandeln. Zudem steigt das Risiko für die Betroffenen, zusätzlich an Depressionen zu erkranken. Die herkömmliche Behandlung basiert, wie die gegen andere Ängste auch, auf Psychotherapie und Antidepressiva. «Manchmal reicht es aber nicht, nur die Mutter zu behandeln», sagt Kerstin Weidner, Direktorin der Uniklinik für Psychotherapie und Psychosomatik in Dresden. «Dann muss das Kind in die Therapie einbezogen werden.»
Interaktionstherapie nennt sich dieser noch recht neue Ansatz, Weidner ist dafür eine der führenden Expertinnen in Deutschland. Die Mutter wird dabei mit ihrem Kind in typischen Alltagssituationen gefilmt – Spielen, Füttern oder Wickeln. Anschliessend bespricht sie mit der Therapeutin, inwiefern sich ihr Verhalten auf das des Kindes auswirkt. Der Frau soll so beispielsweise bewusst werden, wann sie angespannt ist, ob sie ihre Ängste auf das Kind überträgt oder wann sie sich distanziert.
In einer von Weidners Studien mit 79 Patientinnen hatten die Mütter infolge der Therapie deutlich weniger Angstsymptome und erlebten ihre Ängste weniger intensiv. Ausserdem waren sie motivierter in ihrer Mutterrolle und konnten ihre Babys besser beruhigen. In einer Folgestudie zeigten sich die positiven Effekte noch ein Jahr später. Allerdings fehlt beiden Studien eine Vergleichsgruppe mit alleiniger Psychotherapie. «Es bleibt offen, wie gross der Effekt durch die Interaktionstherapie wirklich ist oder ob sich die Symptome auch mit einer herkömmlichen Psychotherapie ähnlich gebessert hätten», meint Psychiaterin Funda Akkus.
Die Datenbasis ist noch zu dünn
Frühere Studien mit Eltern-Kind-Therapie sind widersprüchlich. So zeigte eine Metaanalyse des Forschungsnetzwerks Cochrane auf Basis von acht Studien mit 846 Eltern, die unter verschiedenen psychischen Problemen litten, keine eindeutigen Vorteile einer Eltern-Kind-Therapie. In einer anderen Auswertung der Studienlage kommen französische Forscher dagegen zu dem Schluss, dass solche Therapien die Bindung zum Kind verbessern können.
Allerdings wurden in all diesen Studien nicht gezielt postpartale Angststörungen untersucht. Zudem unterschieden sich die Behandlungen in den einzelnen Studien. Möglicherweise könnte die Therapie insbesondere in schweren Fällen helfen, etwa, wenn die Mutter eine weitere psychische Störung hat. «Bis wir mehr Daten haben, ist es wichtig, dass die Frauen überhaupt eine Psychotherapie bekommen», sagt Akkus. «Hier ist belegt, dass sie gegen Angststörungen hilft.»
Weidners Ergebnisse und die anderer Studien sollen nun in eine neue Leitlinie zur Therapie postpartaler psychischer Erkrankungen einfliessen. «Eine einheitliche Leitlinie ist dringend notwendig», sagt Lena Sutter, leitende Hebammenexpertin im Inselspital Bern. Sie sei die Grundlage, um die Versorgung der Betroffenen zu verbessern.
Zu wenig Hilfe für junge Mütter mit Angststörungen
Eine amerikanische Leitlinie fordert bereits, Schwangere und junge Mütter regelmässig auf Angststörungen zu screenen. In der Schweiz wird das nicht systematisch gemacht – womöglich, weil sich weder Arzt noch Hebamme dafür zuständig fühlen.
Wie Sutter herausfand, gibt es in den meisten der 19 schweizerischen Kliniken und Institutionen mit Mutter-Kind-Therapien noch nicht einmal standardisierte Methoden, um die Beziehung zwischen Mutter und Kind zu erfassen. Eine Schulung der Mitarbeiter findet meist nicht statt. «Das kann die Diagnose und damit eine adäquate Behandlung verzögern», sagt Sutter. Tatsächlich warten Betroffene oft Wochen bis Monate, bis sie einen Therapieplatz bekommen.
«Dabei ist Früherkennung essenziell», sagt Sutter. «Je eher die Frau eine Therapie bekommt, desto besser für sie und ihr Kind. Dabei sollte sie aber auch selbst weder Scheu noch Scham zeigen und von ihren Ängsten berichten.»
Annika Redlich kann sich nicht erinnern, während ihrer Schwangerschaft oder nach der Geburt nach psychischen Problemen gefragt worden zu sein. Zwar habe sie ihrer Hausärztin davon erzählt, «aber die wusste nicht, dass es Spezialisten gibt, die sich damit auskennen».
Eine klassische Psychotherapie linderte ihre Ängste kaum. Per Zufall erfuhr sie von der Mutter-Kind-Station im Spital Affoltern, wo sie mit ihrer Tochter acht Wochen behandelt wurde, unter anderem mit einer videogestützten Interaktionstherapie. «Ich verstand beim Ansehen des Videos, dass meine Angst, ich könnte die Signale meiner Tochter nicht richtig deuten, unbegründet war. Der Film half mir, mich als Mutter wieder mehr anzuerkennen und die Freude am Muttersein wiederzufinden», so Redlich. Tatsächlich liessen die Symptome ihrer Angststörung endlich nach, seit dem ersten Geburtstag ihrer Tochter hatte sie keine Angstattacken mehr.