Bach, Beethoven, Brahms: Die grossen Komponisten Europas werden weltweit gespielt. Aber warum eigentlich? Worin liegt die Faszination ihrer Musik?
Im Herbst fand in München der Internationale Musikwettbewerb der ARD statt. 726 Bewerber aus 58 Nationen trafen sich zu dieser Olympiade der Musik. Sie kamen zusammen über Konflikte und Grenzen hinweg, aus so gut wie aller Welt. Auch die Jurys waren international besetzt. Es war so faszinierend wie berührend, dabei zuzuhören.
Man hörte Musik, ganz ohne Nebengeräusche. In jedem Sinn. Bei der heutigen verbalen Lingua franca, dem Englischen, hört man meistens heraus, ob ein Muttersprachler spricht oder jemand, für den Englisch eine Fremdsprache ist. Man merkt, ob jemand Brite oder Amerikanerin ist. Vielleicht spürt man sogar, aus welcher Gegend oder aus welcher sozialen Umgebung jemand stammt.
Bei der Musik entfallen solche Unterschiede. Einschlägige Privilegien und Diskriminierungen spielen keine Rolle. Ob Europäer, Amerikanerinnen oder Südostasiaten auftraten – bei den Darbietungen waren keine Unterschiede von Herkunft oder Stand zu spüren. Die Cellistinnen, Oboisten, Sängerinnen und Sänger sangen und spielten herausragend – und akzentfrei.
Die europäische klassische Musik Europas zeigte sich damit als eine in hohem Mass globalisierungsfähige Sprache. Und weil sie auch tatsächlich weltweit praktiziert wird, erweist sie sich als Weltsprache. Die wieder neu aufgeflammten Globalisierungsdebatten sollten dieses Phänomen nicht als belanglos beiseiteschieben: Nicht nur das Wirtschaftsdenken des Westens und seine Wissenschaft, sondern auch und vielleicht vor allem die westliche Musik zeichnet sich durch eine universale Anziehungskraft aus.
Über Grenzen und Konflikte hinweg
Bach, Beethoven und Brahms darf man dabei auch Musicals, Jazz, französische Chansons und Pop-Musik hinzurechnen. Sie alle werden weltweit in den Konzertsälen und Opernhäusern gespielt und sind überall zu Hause. Über Grenzen und Konflikte hinweg. Aufführungen von Werken russischer Komponisten wie Tschaikowsky, Mussorgsky und Schostakowitsch fallen nicht unter die gegen das Putin-Russland verhängten Sanktionen.
Nicht zuletzt ist die Musik ein Bereich, in dem Europa nicht unter mangelnder Wettbewerbsfähigkeit leidet. Im Gegenteil: Schlagworte wie «America first» oder «China first» hindern die beiden Länder nicht, die Tradition der europäischen Musik zu pflegen. Obwohl er in einer atheistischen Tradition aufgewachsen ist, schafft der in New York lebende chinesische Komponist Tan Dun ein zutiefst religiöses Werk, eine «Water Passion After St. Matthew», und erweist damit dem Grossmeister der christlichen Passion, Johann Sebastian Bach, seine Reverenz.
Doch welchen Faktoren verdankt die klassische Musik Europas ihre globale Präsenz? Die kulturelle Dominanz des Westens, die vor Jahrzehnten ein Grund gewesen sein mag, ist heute keiner mehr. Kolonialismus und Imperialismus sind glücklicherweise überwunden. Die Gründe müssen in der Musik selbst liegen. Zum Beispiel darin, dass in Opern und Liedern – etwa in Franz Schuberts «Winterreise» – allgemein menschliche und damit kulturunabhängige Fragen Antworten finden, in der Sprache der Musik.
Auch areligiöse Menschen spüren Hoffnung, wenn sie, in einer von Kriegen und Terror heimgesuchten Welt, das Friedensgebet «Dona nobis pacem» aus Bachs h-Moll-Messe hören. Der Protestant Bach komponierte mit seiner lateinischen Messe einen für die katholische Liturgie wesentlichen Beitrag, den er einem katholischen Herrscher, dem sächsischen Kurfürsten und polnischen König Friedrich August II. widmete.
Eine Familie von Sprachen
Ludwig van Beethoven bezeichnete eine religiöse Komposition, die Missa solemnis op. 123, als sein grösstes Werk. «Von Herzen» kommend, sollte dieses «wieder zu Herzen gehen», die Menschen berühren und bewegen. Weil es Gott lobpreist und zugleich «die Existenz des Menschen in einer gefährdeten Welt» zeigt, folgt das Werk einer allgemein menschlichen Empfindung und gibt ihr Ausdruck.
Doch wo liegt die Quelle der Globalisierungsfähigkeit der Musik? Vielleicht da: Die beiden Grundelemente der Musik, Melos und Rhythmus, sind anthropologische Universalien. Sie spielen in allen Kulturen und Epochen eine wichtige Rolle, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Auf der ganzen Welt wird gesungen und getanzt. Oft fällt es nicht schwer, einfache Lieder mitzusingen, auch wenn man sie nicht kennt, und dort, wo getanzt wird, mitzumachen.
Allein dies macht die Musik, mehr als verbale Sprachen, zu einer Universalsprache. Freilich ist sie keine konkrete Sprache, sondern eine grosse Sprachfamilie und im Grunde sogar eine Vielzahl von Sprachfamilien. Die einen stehen einander näher als andere. Die indische Musik beispielsweise kennt zwar grundsätzlich die gleichen Elemente wie die europäische, hat diese aber in einer ganz anderen Art ausgeformt. Aufs erste Hören sind die beiden in Klang und rhythmischer Struktur nicht vergleichbar.
Die Frage, warum ausgerechnet die europäische Kunstmusik zu einer Weltsprache der Musik werden konnte, kann natürlich nur versuchsweise beantwortet werden. Und die Antwort sagt nichts darüber, ob nicht auch die Kunstmusik anderer Kulturen Potenzial zur Universalisierbarkeit hat. Auch als Europäer kann man chinesische Opern oder indische oder koreanische Musik schätzen und verstehen lernen.
Strenge und Freiheit
Ziehen wir den Soziologen Max Weber zu Rate. Ein Grund für die Besonderheit der Musik Europas liegt laut ihm in einer bestimmten, ihr eigenen Art der Rationalität. In den Überlegungen zur Einzigartigkeit Europas, die er in den «Vorbemerkungen zur Religionssoziologie» anstellt, räumt auch Weber der Musik eine globale Gemeinsamkeit ein: «Alle unsere rationalen Tonintervalle waren auch anderwärts berechnet und bekannt.»
Einzigartig für die westliche Musik, sagt Max Weber, seien allerdings der Kontrapunkt und die Bildung des Tonmaterials auf der Grundlage der Dreiklänge. Dazu die sogenannte temperierte Stimmung der Tasteninstrumente und das Streichquartett als Kernbesetzung der Orchester, der Generalbass und die Notenschrift. Und schliesslich die Vielfalt der musikalischen Gattungen: Sonaten, Sinfonien, Opern, Oratorien, verschiedene Formen der Kammermusik, Lieder.
Alle musikalischen Gattungen und Formen fassen Gefühle und Stimmungen in Musik, auf der Basis harmonischer und kontrapunktischer Regeln, die streng sind, aber zugleich grosse Freiheit lassen. Sie erzählen Geschichten, unterhaltsame wie bedrückende. Künden von einer Freude, die sich als «schöner Götterfunke» bis zum «Jauchzet, frohlocket» steigern kann. Und reden von verzweifelter Trauer.
Musik kann Hoffnung wecken. Versprechen formulieren oder Forderungen stellen: «Alle Menschen werden Brüder» ist eine Verheissung, die man kaum mehr von der Musik trennen kann, in der sie ihre gültige Form gefunden hat. Die Gefühlswelten, die sich in der Musik ausdrücken, die Stimmungen und Leidenschaften sind so vielfältig wie die der Menschen. Dank dem Genie grosser Komponisten erreichen sie eine zwingende, eindringliche Form.
Offen für Fremdes
Und dies in einer Sprache, die auch deshalb fast universell verständlich ist, weil sie offen ist und so vieles in sich aufnimmt. Grosse Komponisten wie Bach, Mozart, Beethoven, Brahms, Mahler haben in ihren Werken Regional- und Nationalstile ihrer Zeit aufgegriffen und sie ihrem je höchst persönlichen Kompositionsstil anverwandelt.
Die europäische Musik ist also zum einen durch eine hochentwickelte, charakteristische innere Form gekennzeichnet. Und zum anderen durch eine ungeheure Wandlungsfähigkeit, eine grosse Neugier auf anderes und die wertschätzende Aufnahme von fremden Klängen und Formen. Der in Hamburg geborene Johannes Brahms komponiert «Ungarische Tänze»; und der einer Thüringer Musikerfamilie entstammende Johann Sebastian Bach schreibt ein «Italienisches Konzert».
Das Interesse der Musiker an Fremdem betrifft nicht nur die Musik. In seiner Oper «Xerxes» stellt Georg Friedrich Händel nicht anders als Jean-Philippe Rameau in der Ballettoper «Les Indes galantes» den kriegssüchtigen Europäern die friedlichen Perser, Inkas und Indianer entgegen. Viele weitere Opern, nicht nur Mozarts «Entführung aus dem Serail» und Giacomo Puccinis «Madama Butterfly», spielen in einer Fremde, die wohl exotisch verklärt ist, dem Westen aber durchaus einen Spiegel vorhält.
All diese Faktoren erklären das der europäischen Musik innewohnende Potenzial zur Globalisierung und Universalisierung nicht. Aber sie geben Hinweise. Und deuten darauf hin, dass sich die weltweite Verbreitung von Bach, Beethoven, Brahms und anderen weder dem Zufall noch externen Faktoren verdankt. Es ist ein Bündel von Besonderheiten, die die klassische Musik Europas befähigen, eine Art Weltsprache zu sein. Eine Sprache, die überall ohne Akzent gesprochen wird.
Otfried Höffe leitet an der Universität Tübingen das Forschungszentrum für politische Philosophie.