Bei der Polizei nimmt die Frau ihn in Schutz: Sie sei ins Messer «gestolpert». Was ist wirklich passiert?
«Ich möchte keine Aussagen mehr dazu machen», sagt der 29-jährige Schweizer im Gerichtssaal am Bezirksgericht Hinwil, als er erzählen soll, was am 14. März 2023 auf einem Fussweg entlang des Ländenbaches in Wetzikon geschehen ist. Laut Anklage hat er seiner Lebenspartnerin, der Mutter eines gemeinsamen achtjährigen Sohnes, zweimal ein Klappmesser in die Brust gerammt.
Die Polizei wurde von einem Passanten verständigt, der einen heftigen Streit zwischen einem Mann und einer Frau beobachtet hatte. Die Frau wurde ins Spital gebracht und notoperiert. Gegenüber der Polizei schützte sie ihren Partner aber und sagte, er habe mit einem Messer gespielt und damit Orangen schälen wollen. Sie sei ins Messer «gestolpert». Er habe sie nicht verletzen wollen.
Auch heute hält sie offenbar nach wie vor zu ihm. «Wir haben nicht Schluss gemacht», sagt der Beschuldigte im Gerichtssaal in Hinwil. Er sehe sie aber selten, weil er derzeit in einer Suchttherapie ist. Der Beschuldigte trat eine stationäre Massnahme in einer Suchtklinik vorzeitig an, nachdem eine vom Gerichtsgutachter empfohlene ambulante Massnahme nicht funktioniert hatte.
Er war von März bis Juli 2023 in Untersuchungshaft. Im März 2024 begann er zuerst die vorzeitige ambulante Massnahme mit stationärer Einleitung, die scheiterte. Zwei Wochen vor der Gerichtsverhandlung zog er aber in die Suchtklinik. Er sei weiterhin motiviert zur stationären Therapie, verspricht er den Richtern. Es sei dort besser als im Gefängnis.
Gekifft habe er zuletzt vor einem halben Jahr, Kokain zuletzt vor eineinhalb Monaten konsumiert, und seit er in der Suchtklinik sei, habe er nur zwei Bier getrunken.
Harte Drogen seit dem 15. Altersjahr
Täter und Opfer hatten am Tattag gemeinsam Betäubungsmittel konsumiert und gerieten in einen Streit. Der eine Stich öffnete die Brusthöhle der Frau, wo sich 600 Milliliter Blut ansammelten, durch den anderen Stich entstand eine oberflächliche Verletzung. Laut Anklage soll der Beschuldigte nur wenige Stunden zuvor seiner Partnerin auch eine Schnittverletzung am Bein zugefügt haben.
Angeklagt sind auch diverse Nebendelikte: der Diebstahl eines Elektro-Stehrollers in Wetzikon sowie Ladendiebstähle in einer Coop-Filiale in Winterthur. Bei einem Einschleichdiebstahl in Rüti soll der Beschuldigte zudem eine Post-Finance-Karte, zwei UE-Boom-Boxen und fünf Marihuana-Mühlen mitlaufen lassen haben.
Er habe im Alter von 15 Jahren mit dem Konsum harter Drogen begonnen, erzählt der Beschuldigte den Richtern. Zwischendurch sei er sieben Jahre drogenfrei gewesen, habe dann aber Rückenprobleme bekommen und nicht mehr arbeiten können. Da sei er wieder in den Konsum gerutscht. Im Moment habe er 20 000 Franken Schulden. Sein Sohn sei das zentrale Element in seinem Leben.
«Dieser Fall könnte zur Drogenprävention verwendet werden», sagt der Staatsanwalt. Er sei überzeugt, dass all dies ohne die langjährige Sucht nicht geschehen wäre. Er beantragt eine Freiheitsstrafe von 55 Monaten, eine unbedingte Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 30 Franken und 300 Franken Busse sowie die Anordnung einer stationären Massnahme zur Suchtbehandlung.
Es sei klar, dass die Frau mit ihren Aussagen den Vater ihres Kindes habe schützen wollen. Am Tatort seien aber keine Früchte oder Schalen sichergestellt worden. Und es sei unerklärbar, wie bei einem Sturz in ein Messer gleich zwei Einstiche nebeneinander entstehen sollten. Es sei zwar grundsätzlich schwierig, eine Strafuntersuchung gegen den Willen des Opfers durchzuführen. Es gebe aber genug Beweise für einen Schuldspruch. Ein Messerstich sei in den Brustkorb gegangen, nur durch Zufall sei keine Arterie verletzt worden.
Auch heute führten der Beschuldigte und seine Partnerin «eine toxische, ja lebensgefährliche Beziehung», erklärt der Staatsanwalt. Der Psychiater habe eine moderate Rückfallgefahr für Gewaltdelikte festgestellt. Der Beschuldigte sei zum Tatzeitpunkt unter der Wirkung von Xanax und Kokain gestanden. Es könne aber nicht gesagt werden, wie gross der Einfluss gewesen sei. Der Psychiater habe nur eine leicht verminderte Schuldfähigkeit angenommen.
Die Verteidigerin beantragt einen Freispruch im Hauptvorwurf und eine Genugtuung von 25 000 Franken für 126 Tage ungerechtfertigte Haft. Der Beschuldigte sei nur wegen Diebstahls und Hausfriedensbruchs zu einer Geldstrafe zu verurteilen.
Im Eventualantrag plädiert sie auf «eine Verübung einer Tat in selbstverschuldeter Unzurechnungsfähigkeit» mit einer Freiheitsstrafe von 16 Monaten und einer stationären Massnahme. Eine Selbstverletzung der Frau sei nicht ausgeschlossen, sie habe eine Borderline-Störung. Es sei zudem gar nicht geklärt, ob die sichergestellte Waffe auch die Tatwaffe sei.
Das Motiv der Tat bleibt unbekannt
Das Urteil des Bezirksgerichts wird später schriftlich zugestellt. Der 29-jährige Schweizer wird darin der versuchten vorsätzlichen Tötung, des Diebstahls und des mehrfachen Hausfriedensbruchs schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von 48 Monaten verurteilt.
312 Tage davon sind durch Untersuchungshaft und vorzeitigen Massnahmevollzug erstanden. Es wird eine stationäre Massnahme zur Suchtbehandlung angeordnet und der Vollzug der Freiheitsstrafe aufgeschoben.
In Bezug auf den dritten Messerstich ins Bein erfolgt ein Freispruch vom Vorwurf der qualifizierten einfachen Körperverletzung. Die genauen Umstände dieser Verletzungen seien nicht klar, erläutert der Gerichtsvorsitzende auf Anfrage. Dieser Freispruch sei «in dubio pro reo» erfolgt. Bewiesen seien hingegen die beiden Messerstiche in die Brust. Eine Selbstverletzung sei praktisch ausgeschlossen. Es gebe keinen Zweifel daran, dass das beim Täter sichergestellte Klappmesser die Tatwaffe sei.
Das Gericht wisse allerdings nicht, was das Motiv für die Bluttat gewesen sei. Es habe wohl keine direkte Tötungsabsicht bestanden. Es handle sich um einen Eventualvorsatz. Dem Täter wurde eine leicht verminderte Schuldfähigkeit zugebilligt. Er sei nach der Tat von sich aus auf die Polizisten zugegangen und die Tat sei ihm «hinten und vorne nicht recht» gewesen, erläutert der Richter. Das Gericht gehe davon aus, dass er die Tat aufrichtig bereue.
Es brauche aber klar eine stationäre Massnahme. Der Versuch mit einer ambulanten Massnahme habe nicht funktioniert.
Urteil DG240015 vom 31. 10. 2024, noch nicht rechtskräftig.