In den USA leben 4 Prozent der Weltbevölkerung, gleichzeitig erwirtschaftet das Land ein Viertel der globalen Wirtschaftsleistung. Das sollte Europa ins Grübeln bringen. Eine Analyse in sieben Grafiken
Sind die USA eine Klasse für sich? Enteilt ihre Wirtschaft dem Rest der Welt? Wenn Aktienbörsen die Stärke der Wirtschaft abbilden, scheint das derzeit erstaunlich stark der Fall zu sein. Wer sein Geld Ende 2023 in den breiten Aktienindex S&P 500 investierte, bekam zum Jahresende 2024 in Dollar 24 Prozent mehr verbucht. Hätte er sich stattdessen für den Schweizer Marktindex SMI entschieden, wären ihm in Franken bloss 4 Prozent Zuwachs geblieben. Mit dem Euro-Stoxx 50 wären es in Euro immerhin 8 Prozent gewesen, aber auch das ist kein Vergleich zu dem, was in den USA geschehen ist. Und das ist kein einmaliges Ereignis. Blickt man bis Anfang 2020 zurück, rentierte der amerikanische Markt mit 83 Prozent, der schweizerische hingegen nur mit 8 und der europäische mit 29 Prozent.
An der Börse hat sich der Begriff des «American exceptionalism» durchgesetzt. Aber was hat es damit auf sich?
Dass sich Amerikas Wirtschaft und seine Aktienmärkte derart aussergewöhnlich entwickeln, war nicht immer so, wie unsere Grafik zeigt. Bis zur grossen Finanzkrise 2008 verlief das Geschehen in Europa und Amerika weitgehend parallel. Erst seither hat die Marktkapitalisierung in den USA im Zeichen der lockeren Geldpolitik, der Digitalisierung und der Hoffnungen auf Produktivitätsgewinne dank künstlicher Intelligenz abgehoben.
Das hat die Bedeutung des US-Aktienmarkts akzentuiert. Der entwickelte amerikanische Kapitalmarkt war schon immer eine Stärke Amerikas. Doch der Exzeptionalismus der vergangenen Jahre hat ihn nun erst recht dominant gemacht, wie die veränderten Ländergewichte im MSCI World zeigen. Dieser Index deckt rund 85 Prozent der in den entwickelten Ländern gehandelten Unternehmen ab.
1995 stellten die amerikanischen Firmen 36 Prozent der weltweiten Börsenkapitalisierung und die europäischen 27. Bis 2010 hatte sich der Anteil der amerikanischen Firmen auf 48 erhöht, Ende vergangenen Jahres betrug er ganze 70 Prozent. Der Anteil europäischer Firmen ist derweil auf bloss noch 18 Prozent gesunken. Und auch der Rest der Welt hat an Bedeutung verloren.
Grosse Leistung, aber nur bedingt einzigartig
Doch wie aussergewöhnlich sind die USA? Amerika und seine Bevölkerung verstehen sich historisch gesehen gerne als ein herausragendes, ja sogar auserwähltes Land. Ein robuster Patriotismus, verbunden mit einem ausgeprägten Optimismus, verbreiteter Religiosität, einem starken Freiheitswillen, einer breit verankerten Präferenz für Selbstverantwortung und oft auch einem gewissen Sendungsbewusstsein, macht die amerikanische Gesellschaft tatsächlich zu etwas Besonderem.
Darüber hinaus schöpft die derzeit noch einzige echte Weltmacht ihre Stärke aus der Fähigkeit, immer wieder die besten und unternehmerischsten Köpfe anzuziehen. Das hat mit der beschriebenen Mentalität, aber auch den Top-Universitäten und dem Kapitalmarkt zu tun.
Die besondere Stärke, die den USA aus alldem erwächst, verdeutlicht sich auch daran, dass sie mit einem Bevölkerungsanteil von bloss 4 Prozent nominal gut ein Viertel des weltweiten Bruttoinlandprodukts (BIP) erwirtschaften – und dazu inzwischen eben gut zwei Drittel der Börsenkapitalisierung in den entwickelten Ländern.
In einer völlig eigenen Liga spielten und spielen die Vereinigten Staaten deswegen allerdings auch wieder nicht. Vergleicht man die wirtschaftliche Bedeutung der USA mit derjenigen Europas (vereinfacht gemessen als alle zur EU zählenden Länder plus Grossbritannien plus die Mitglieder der Efta, der Europäischen Freihandelsassoziation), so war der Anteil Europas am weltweiten BIP 1990 noch grösser als derjenige der USA.
Im Zeichen des Dotcom-Booms zogen die USA dann bis zur Jahrtausendwende Europa davon. Als die Blase platzte, sank der Anteil der USA wieder fast auf das Niveau Europas. Erst in den Jahren nach der grossen Finanzkrise 2008 ist der Anteil der USA an der weltweiten Wirtschaftsleistung wieder stark gewachsen, wobei er zur Jahrtausendwende schon einmal höher gewesen war als heute.
Betrachtet man die Weltbevölkerung, so ist der Anteil der USA dank Zuwanderung fast konstant bei gut 4 Prozent geblieben. Derjenige Europas hingegen hat sich von 8 auf 6 Prozent reduziert, ist damit aber immer noch grösser als derjenige der USA.
Während sich also die amerikanische Wirtschaft immer wieder bemerkenswert rasch und dynamisch angepasst und sich von Krisen erholt hat, ist Europas Wirtschaft zwar nicht völlig abgefallen, hat aber seit den 1990er Jahren an relativer Bedeutung verloren.
Produktiv und arbeitsam
Die wirtschaftliche Stärke der USA hat viel mit der Entwicklung der Produktivität zu tun. Betrachtet man die Wirtschaftsleistung pro Arbeitsstunde, so hat sich diese in den USA seit der Jahrtausendwende um 37 Prozent erhöht, in Europa jedoch «nur» um 20 Prozent. Heute erwirtschaftet ein europäischer Arbeitnehmer im Durchschnitt gemessen am Bruttoinlandprodukt pro Stunde fast ein Fünftel weniger als sein amerikanisches Pendant. Allerdings steht auch die Produktivität der amerikanischen Wirtschaft als Gesamtes nicht völlig aussergewöhnlich da. Sie ist immer noch um 10 Prozent geringer als in der Schweiz.
Der grösser werdende Unterschied zwischen der Wirtschaftsleistung der USA und jener Europas lässt sich denn auch nicht bloss mit der Produktivität erklären, die in den USA höher ist als im Euro-Raum.
Die amerikanische Wirtschaft ist auch deshalb stärker, weil die Amerikaner mehr arbeiten. Die Bereitschaft, lange zu arbeiten, ist in Europa viel stärker gesunken als in den USA.
Exzeptionell für wie lange noch?
Amerikas Wirtschaft ist deshalb derzeit bewundernswert stark, aber wirklich exzeptionell sind vor allem die Börsenkurse.
Die hohen Börsenkurse haben mit der Ertragskraft zu tun, von der die Anleger profitieren, aber auch mit den ungewöhnlich hohen Erwartungen an die kotierten amerikanischen Firmen. Das tatsächliche Kurs-Gewinn-Verhältnis hat sich seit 2020 beim amerikanischen S&P 500 von 20 auf 25 erhöht und ist beim technologielastigen Nasdaq gar von 28 auf 37 gestiegen. Im SMI ist es derweil von 20 auf 19 gesunken, im Euro-Stoxx 50 mit knapp 16 praktisch konstant geblieben.
Dabei ist die hohe Börsenkapitalisierung in den USA kein flächendeckendes Phänomen, sondern sie wird von einigen wenigen Superstar-Firmen geprägt. Im breiten MSCI World stellen weniger als vierzig Megafirmen über 30 Prozent der gesamten Börsenkapitalisierung, wie MSCI in einem Bericht schreibt. Dazu zählen die dominanten amerikanischen «glorreichen sieben» (Alphabet, Amazon, Apple, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla). Drei Fünftel der Megafirmen haben künstliche Intelligenz als Kerngeschäft.
Um deren hohe Bewertungen zu rechtfertigen, sollte die künstliche Intelligenz absehbar zu deutlich stärker steigenden Gewinnen führen als im Rest des Börsenuniversums. Das ist nicht auszuschliessen, aber auch alles andere als sicher. Die aussergewöhnliche Profitabilität dieser Superstar-Firmen hatte bisher auch damit zu tun, dass sie von starken Netzwerkeffekten profitieren und für ihr Geschäft relativ wenig Kapital brauchen. Mit der grossen Rechenleistung und der Energie, die künstliche Intelligenz benötigt, könnte sich das gerade ändern.
Gesamtwirtschaftlich kommt ein zweiter Faktor hinzu, der hinter die Nachhaltigkeit des «American exceptionalism» ein Fragezeichen setzt. Die USA leben seit der grossen Finanzkrise allzu unbekümmert über ihre Verhältnisse und haben dennoch das Problem, dass es Teilen der gewöhnlichen Bevölkerung alles andere als gut geht. Zudem ist das überteuerte Gesundheitswesen überteuert und beansprucht einen ungewöhnlich hohen Anteil der Wirtschaftsleistung für sich.
Der Staat unterstützt mit viel schuldenfinanziertem Geld die Firmen und ist zudem auch etwas «europäischer» geworden: Mehr Geld wird über das Sozialsystem umverteilt. Seit 2008 haben sich die konsolidierten Bruttoschulden der Regierung laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) von 73 Prozent der Wirtschaftsleistung auf 121 Prozent erhöht und sollen weiter steigen. Die durchschnittliche Schuldenlast in der EU ist in der Zeit «nur» von 65 auf 83 Prozent gestiegen.
Und obwohl die USA derzeit ihre Wirtschaft trotz guter Konjunktur mit einer äusserst expansiven Fiskalpolitik anfeuern, haben soziale Spannungen zugenommen. Selbst der IWF kommt in seinem letzten Länderbericht zu dem Schluss, dass die USA ihr Haushaltsdefizit der makroökonomischen Stabilität zuliebe dringend jetzt schon reduzieren müssen, gleichzeitig aber mehr ausgeben sollten, um gezielter Armut zu bekämpfen.
Im Wettbewerb bestehen
Über alles gesehen ist Amerikas wirtschaftlicher Leistungsausweis der vergangenen Jahrzehnte also durchaus bemerkenswert und hat viel mit Spitzentechnologie und offenem Unternehmertum zu tun. Die USA haben ihre exzeptionelle Position in vielen Bereichen erfolgreich verteidigt. Diese wird aber nicht nur durch China verstärkt herausgefordert. Auch die USA neigen zusehends zu einer Politik, die ihre Offenheit und Stabilität auf Dauer infrage stellt. Trump und seine Administration könnten mit ihrem Protektionismus und ihrer aggressiven Politik gegenüber Partnern eine Trendumkehr einläuten.
Die führende Stellung in der digitalen Wirtschaft und in der Entwicklung von künstlicher Intelligenz sichert den Vereinigten Staaten derzeit eine herausragende Stellung. Doch breiter wirtschaftlicher Erfolg braucht mehr als das. Zum Beispiel eine industrielle Basis, wie sie in vielen Ländern Europas noch stark ist.
In den gegenwärtigen Bewertungen an den amerikanischen Börsen spiegeln sich Zukunftserwartungen, die sehr optimistisch bis übertrieben wirken. Das kann sich auch wieder ändern. Die Stärke und die wirtschaftliche Dynamik Amerikas sind bewundernswert. Doch sie sind auch nicht so exzeptionell, dass sich Europa und seine Politiker und Unternehmen nicht daran messen und sich nicht herausgefordert fühlen sollten. Europa täte gut daran, selbst wieder stärker exzeptionell sein und mithalten zu wollen.