In manchen peripheren Regionen der Schweiz wird die medizinische Versorgung desolat. Eine Genossenschaft im Toggenburg hat eine kreative Lösung gefunden.
«Gibt es keine Praxis mehr, haben vor allem die Patienten ein Problem – nicht der Arzt.» Andreas Rohner weiss als einstiger Hausarzt, wovon er spricht. Der 74-Jährige steht in seinen früheren, nun frisch renovierten Behandlungsräumen in Ebnat-Kappel, einem Dorf im Toggenburg mit 5000 Einwohnern. Und erzählt von den Lösungen, die er gefunden hat. Lösungen für ein Problem, das immer mehr Gemeinden abseits der grossen Zentren umtreibt: Was passiert, wenn ein Hausarzt in Pension geht? Wer kümmert sich dann um all die Patienten?
Für eine gute Versorgung empfiehlt die OECD einen Hausarzt pro 1000 Einwohner. Laut Daten des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) von 2019 erreicht kaum eine Gemeinde diesen Wert. Besonders tief liegt er im Oberwallis, im Berner Oberland, im Aargau oder in gewissen Gegenden der Ostschweiz. Und die Situation dürfte sich noch verschärfen: Rund die Hälfte der Haus- und Kinderärzte ist älter als 55 Jahre, davon wären etliche eigentlich schon pensioniert.
Am Nachwuchs, der die Mediziner der Babyboomer-Generation ersetzen könnte, mangelt es. Wegen der geringeren Verdienstmöglichkeiten in der Hausarztmedizin gehen viele junge Mediziner lieber in die lukrativen Spezialdisziplinen. Für die meisten Angehörigen der Generation Z ist es schwer vorstellbar, als Einzelkämpfer eine Praxis zu betreiben, mit Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit und Wochen mit 60 oder 70 Arbeitsstunden. Die jungen Ärzte lassen sich deshalb lieber in Gruppenpraxen anstellen, wo auch Teilzeitpensen möglich sind.
Hohe Anfangsinvestitionen
Eine Hürde stellen auch die anfänglichen Investitionen dar, die für die Übernahme einer Praxis nötig sind. Gerade auf dem Land müssen die Nachwuchsmediziner vom pensionierten Arzt oft nicht nur die Praxisräumlichkeiten übernehmen, sondern gleich auch noch das Wohngebäude. Und in einer Praxis, die seit Jahrzehnten vom gleichen Arzt betrieben wurde, braucht es normalerweise auch grössere Investitionen, um die veraltete Infrastruktur und die Geräte zu ersetzen.
Andreas Rohner kam 1996 nach einem längeren Aufenthalt in Angola nach Ebnat-Kappel. Er hatte Glück, er konnte die Praxis seines Vorgängers in einem Mietverhältnis übernehmen. Doch als er sich dem Pensionsalter näherte, begann er sich Sorgen um die medizinische Versorgung im Dorf zu machen. Denn auch seine verbliebenen Arztkollegen waren in einem ähnlichen Alter.
In seiner turbulenten Zeit im bürgerkriegsversehrten Angola hatte Rohner gelernt, kreative Lösungen zu finden. Und dabei nicht auf die Behörden zu vertrauen. Auch in Ebnat-Kappel interessierten sich die Politiker nicht gross für seine Vision eines Ärztehauses. Also setzte er auf private Initiative und gründete eine Genossenschaft.
Alle müssen mitziehen
Diese kaufte der Witwe des früheren Praxisbesitzers sowohl die Praxis als auch das Wohnhaus mit zehn Zimmern ab. Teil dieses Deals war, dass die Witwe mit einem Teil des Verkaufserlöses Anteilscheine für die Genossenschaft in der Höhe von 250 000 Franken zeichnete, die sie später wieder zurückgeben konnte. Rohner hatte zudem gute Beziehungen zum Direktor einer Bank – dieser war sein Patient.
Die Bank zeichnete ebenfalls Anteile in der Höhe von 30 000 Franken und bot zudem vorteilhafte Konditionen für die Hypothek: Die Genossenschaft musste nur 10 Prozent Eigenkapital stellen. Dadurch konnte sie mit einer Kreditlimite von 3 Millionen Franken die frühere Praxis und das Wohnhaus kaufen und in ein Ärztezentrum umbauen. Dieses wurde 2012 eröffnet und bietet Platz für drei Hausarztpraxen, einen Zahnarzt und die Physiotherapie. So konnte sich Rohner 2016 mit gutem Gewissen teilpensionieren lassen, mittlerweile praktiziert er gar nicht mehr.
Einer von Rohners Nachfolgern ist Daniel Rosa. Er ist in Glarus aufgewachsen und ging für das Studium nach Zürich und arbeitete als Assistenzarzt am Kantonsspital St. Gallen. Dass er vor zwölf Jahren – anders als viele Ärzte – nach der Ausbildung wieder in die Peripherie zurückgekehrt ist, hat viel mit den guten Konditionen im Ärztehaus von Ebnat-Kappel zu tun. Die Mediziner sind dort als Einzelunternehmer tätig und stellen selbst die medizinischen Praxisassistentinnen an.
Tiefe Miete, fachlicher Austausch
Sie zahlen im Monat bloss 2500 Franken Miete für die Sprech- und Behandlungszimmer und ihr eigenes Labor sowie 1000 Franken für einen Fonds, aus dem die gemeinsam genutzte Röntgenanlage, das Ultraschallgerät und das Computersystem finanziert werden. Diese Infrastruktur kann so immer auf dem neusten Stand der Technik gehalten werden. Ein Arzt, der hier neu anfängt, muss sich nicht verschulden – allein das Röntgengerät würde ihn sonst bis zu 100 000 Franken kosten. Auch die kürzliche Renovation der Praxen finanzierte die Genossenschaft.
Für die Ärzte hat das Modell nicht nur finanziell Vorteile. Sie können sich bei Bedarf auch gegenseitig vertreten. So ist es problemlos möglich, dass Rosas Kollegin Annett Blatter in einem Teilzeitpensum tätig ist und trotzdem eigenständig arbeiten kann. Zudem ist der fachliche Austausch jederzeit möglich, ähnlich wie in einer Gruppenpraxis.
Mitglieder der Genossenschaft sind rund 100 Patientinnen und Patienten. Sie haben Anteilscheine in der eher symbolischen Höhe von 200 Franken gekauft. Nicht die Genossenschafter finanzieren die Ärzte, sondern die Ärzte finanzieren mit ihren monatlichen Beiträgen die Genossenschaft, die wiederum das Ärztehaus betreibt.
«Die Involvierung der Patienten ist aber absolut zentral», sagt Andreas Rohner. Dank dem Modell sichern sich die Einwohner die medizinische Versorgung und die Aussichten für den Aufbau einer langjährigen Beziehung zu einer Ärztin oder einem Arzt sind gut. Das ist in von Investoren geführten Gruppenpraxen mit hoher personeller Fluktuation schwierig. Man muss allerdings nicht Mitglied der Genossenschaft sein, um Patient in der Praxis zu werden. «Wir wollten keinen solchen Zwang», sagt Rohner.
Meist erfolgreicher und nachhaltiger
Noch sind Genossenschaften in der Hausarztmedizin eher die Ausnahme. Ähnliches gibt es in Flühli im Kanton Luzern oder im oberen Emmental. Mit Interesse verfolgt Monika Reber, Co-Präsidentin des Hausarztverbandes MFE, die Projekte. «Lokal gewachsene Organisationen mit initiativen Gründerpersönlichkeiten sind meist erfolgreicher und nachhaltiger als regionale Filialen grosser Organisationen mit austauschbaren Köpfen», sagt sie.
Ein Wundermittel gegen den Fachkräftemangel sind die Initiativen aber nicht. Junge Ärztinnen und Ärzte, die sich nicht selbständig machen wollen, sind laut Reber extrem gesucht und haben so genügend Möglichkeiten zu arbeiten, ohne Investitionen tätigen zu müssen. «Viele berichten mir, dass sie spontan 10 bis 20 Angebote für Anstellungen oder eine Teilhaberschaft auf den Tisch bekommen, sobald sie auf dem Markt sind.»
Dass die Konkurrenz gross ist, mussten sie auch in Ebnat-Kappel feststellen. 2024 ging im Dorf eine andere Arztpraxis zu, deshalb wollten Rohner und seine Mitstreiter einen dritten Arzt in ihr Zentrum holen. Dieser hätte auswählen können: entweder selbständig tätig sein oder sich bei Daniel Rosa anstellen lassen. Beworben hat sich – niemand.
Landspitäler als Ausbildungszentren
Andreas Rohner hätte auch Ideen, wie man wieder für mehr Hausärzte sorgen könnte, selbst in Randregionen: Er schlägt vor, Landspitäler in Ausbildungszentren für Allgemeinmediziner umzuwandeln. Diese könnten dort nach einer Grundausbildung am Kantonsspital und vor der Eröffnung der eigenen Praxis das Handwerk des Hausarztes lernen – von der einfachen Wundversorgung über die Interpretation von Röntgenbildern und Laboruntersuchungen bis zur Zusammenarbeit mit externen Spezialisten.
Ein solches Spital würde nicht nur den dringend benötigten einheimischen Nachwuchs hervorbringen, sondern auch eine günstige Gesundheitsversorgung für die lokale Bevölkerung garantieren. Davon ist Rohner überzeugt. Bei der Politik ist er bisher mit solchen Ideen jedoch nicht durchgedrungen.