Der neue französische Regierungschef kämpft ums Überleben. Um nicht gestürzt zu werden, musste er auf die Linken zugehen. Ihnen bietet er jetzt an, die umstrittene Rentenreform für drei Monate neu zu verhandeln. Gibt es keine Einigung, soll das Gesetz bleiben, wie es ist.
In seiner ersten Regierungserklärung hat Frankreichs neuer Premierminister François Bayrou angekündigt, die seit 2023 geltende Rentenreform von Präsident Macron auf den Prüfstand zu stellen. Die Sozialpartner sollen drei Monate Zeit bekommen, um das grosse Streitthema der französischen Politik neu auszuhandeln. «Wir können den Weg zu einer neuen Reform suchen, ganz ohne Tabus», sagte Bayrou am Dienstag vor den Abgeordneten der Assemblée nationale.
Sozialisten wollen Bayrou vorerst unterstützen
Dazu will der Zentrumspolitiker ein Gremium mit Vertretern der Gewerkschaften und der Arbeitgeber einsetzen. Wenn sich die Sozialpartner nicht einigten, werde das Gesetz, bei dem das Renteneintrittsalter bis 2030 schrittweise von 62 auf 64 Jahre hinaufgesetzt wird, so bleiben, wie es sei, sagte Bayrou. Sozialisten, Kommunisten und Grüne hatten eine Rücknahme oder Aussetzung der Rentenreform zur Bedingung gemacht, um auf ein Misstrauensvotum gegen den Premierminister zu verzichten. Wie sein Vorgänger im Amt, Michel Barnier, besitzt Bayrou keine eigene Mehrheit im Parlament.
Mit Spannung war deswegen erwartet worden, wie der 73-jährige Südfranzose den Linken entgegenkommen will, ohne gleichzeitig sein eigenes Lager der Mitte, die Konservativen und den Präsidenten zu verprellen. Die Rentenreform wurde im April 2023 gegen massiven Widerstand durchgedrückt, um die langfristige Finanzierung des französischen Rentensystems sicherzustellen. Für Macron ist das Prestigeprojekt eine rote Linie. Ob Bayrou tatsächlich bereit wäre, es fallenzulassen, oder die Gegner der Reform mit seiner Kompromissformel nur hinhalten will, wie Teile der Linken argwöhnen, ist die Frage.
Die Partei La France insoumise hatte schon im Dezember bekanntgegeben, die neue Regierung auf Teufel komm raus stürzen zu wollen. Über einen von den Linkspopulisten eingereichten Misstrauensantrag soll am Donnerstag abgestimmt werden. Die Grünen wollen ihn unterstützen, wie sie am Dienstag erklärten – nicht jedoch die Sozialisten. Sie möchten Bayrou vorerst eine Chance geben. «Es ist unsere Pflicht, nützlich zu sein», sagte ihr Fraktionsvorsitzender Boris Vallaud nach der Regierungserklärung.
Auch das rechtsnationalistische Rassemblement national (RN) teilte mit, den neuen Premierminister nicht sofort «zensieren» zu wollen. Bei der letzten Vertrauensfrage im Dezember hatte die Partei von Marine Le Pen mit den Linken noch an einem Strang gezogen und so den konservativen Regierungschef Michel Barnier – nach nur drei Monaten im Amt – zu Fall gebracht. Der RN-Abgeordnete Jean-Philippe Tanguy zeigte sich am Dienstag jedoch «enttäuscht». Um einen echten Neustart hinzubekommen, müsse Frankreich mit dem Macronismus brechen, das sei in Bayrous «geschwätzigen Worten» nicht zu erkennen gewesen, sagte er.
Hemmungslos verschuldet
Der Premierminister wirkte zunächst etwas unbeholfen, verlor sich in seinen Zetteln und musste die Rede, die er angeblich selbst geschrieben hatte, mehrfach unterbrechen, «Ich bin halt ein Neuling», entschuldigte er sich. Bei Frankreichs im Moment drängendstem Problem, der zu hohen Verschuldung und dem noch immer nicht beschlossenen Haushalt für 2025, mahnte er zu Stabilität und Sparwillen. Das Land sei noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg so hoch verschuldet gewesen. Wie sein Vorgänger Barnier bezeichnete Bayrou den Schuldenberg als «Damoklesschwert», das über Frankreich schwebe. «Erhebliche öffentliche Einsparungen» seien deswegen vonnöten. Wo genau Bayrou den Rotstift ansetzen will, erklärte er nicht.
Den Abgeordneten des Rassemblement national (RN) dürfte gefallen haben, dass sich der Premierminister in seiner Rede für die Einführung des Verhältniswahlrechts aussprach. Bei der Parlamentswahl 2024 hatte das RN die meisten Stimmen erhalten, aber wegen des französischen Mehrheitswahlrechts nur 143 Sitze in der Nationalversammlung bekommen. Taktische Bündnisse ihrer Gegner hatten die Lepenisten letztlich ausgebremst. Und schliesslich plädierte Bayrou auch für eine strengere Kontrolle der Immigration, ein Kernthema der Konservativen. Einwanderung sei eine Frage der Menge, um diejenigen, die bleiben sollen, auch integrieren zu können. Die französische Gesellschaft sei in dieser Frage «zerrissen».