Infolge einer Mischung aus konjunkturellen und strukturellen Faktoren ist die deutsche Wirtschaftsleistung 2024 um 0,2 Prozent gesunken. Die miese Lage macht die Bundestagswahl zu einer wirtschaftspolitischen Richtungsentscheidung.
Erste Berechnungen des Statistischen Bundesamts (Destatis) haben am Mittwoch bestätigt, was sich seit Monaten abgezeichnet hatte: Die deutsche Wirtschaftsleistung ist 2024 gemessen am Bruttoinlandprodukt (BIP) preisbereinigt um 0,2 Prozent geschrumpft. Es ist der zweite Rückgang in Folge, 2023 war das BIP um 0,3 Prozent gesunken.
Ein Minus in zwei aufeinanderfolgenden Jahren hat Deutschland letztmals in den Jahren 2002 und 2003 erlebt. Damals galt das Land als «kranker Mann Europas», bis ihm die Arbeitsmarktreformen (Agenda 2010) des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Gerard Schröder zu neuem Schwung verhalfen.
Träger der roten Laterne
In einer ähnlich miesen Lage befindet sich Deutschland wenige Wochen vor der vorgezogenen Bundestagswahl vom 23. Februar abermals. Auch diesmal hinkt es als Träger der roten Laterne den anderen grossen Industriestaaten hinterher. Laut der jüngsten Prognose der EU-Kommission sei Deutschland das einzige Land unter den grossen EU-Mitgliedern mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung im Jahr 2024, hielt der Destatis-Experte Peter Kuntze bei der Präsentation der Daten vor den Medien fest. Auch in den USA und China habe die Wirtschaftsleistung laut Prognose deutlich zugenommen.
Gegenüber 2019, dem letzten Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie, ist das BIP in Deutschland lediglich um 0,3 Prozent und damit deutlich schwächer gewachsen als anderswo: Basierend auf der erwähnten Prognose habe das BIP preisbereinigt seit 2019 in der EU insgesamt um 5,3 Prozent, in den USA um 11,4 Prozent und in China um 25,8 Prozent zugelegt, sagte Kuntze.
Tiefgreifende Ursachen
Lagen die Probleme Deutschlands in den frühen nuller Jahren vor allem in der hohen Arbeitslosigkeit und einem verkrusteten Arbeitsmarkt, scheinen sie derzeit vielschichtiger und teilweise tiefer zu liegen. Die Destatis-Präsidentin Ruth Brand verwies auf eine Überlagerung von strukturellen und konjunkturellen Belastungen.
Strukturell fallen vor allem zwei Entwicklungen ins Gewicht, die das «Geschäftsmodell» der export- und industrielastigen Volkswirtschaft erschüttern.
Den ersten Faktor sehen die Statistiker darin, dass die deutsche Exportwirtschaft auf wichtigen Absatzmärkten stärkerer internationaler Konkurrenz ausgesetzt ist. Vor allem China konnte in den vergangenen Jahren seinen Weltmarktanteil bei Produkten wie Autos, Maschinen und Chemikalien, die traditionell zu den wichtigsten Exportgütern der deutschen Industrie gehört haben, steigern. Vor diesem Hintergrund sind die deutschen Exporte von Waren und Dienstleistungen 2024 um 0,8 Prozent gesunken, obwohl der Welthandel insgesamt zunahm.
Den zweiten Faktor bilden die immer noch hohen Energiekosten, die vor allem in energieintensiven Industrien zu einem Produktionsrückgang geführt und ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt haben.
Konsum zieht kaum an
Als eher konjunktureller Faktor gilt die schwache Entwicklung des Konsums: Obwohl die Inflationsrate im Jahresdurchschnitt auf voraussichtlich 2,2 Prozent zurückgegangen ist und viele Arbeitnehmer Lohnerhöhungen erhalten haben, ist der private Konsum real lediglich um 0,2 Prozent gestiegen. Zugleich haben die Menschen mehr gespart.
Destatis führt dies auf das im Vergleich zu 2019 um knapp 20 Prozent gestiegene Preisniveau und die wirtschaftliche Unsicherheit zurück. Letztere hat zusammen mit den höheren Zinsen auch die Investitionen in Maschinen, Geräte und Fahrzeuge gehemmt. Bei den Bauinvestitionen, insbesondere im Wohnungsbau, kommen hohe Baukosten als Bremsfaktor hinzu.
Unverändert geblieben ist laut Destatis das Staatsdefizit: Alle staatlichen Haushalte zusammen schlossen das Jahr laut vorläufigen Berechnungen wie im Vorjahr mit einem Defizit von 2,6 Prozent des BIP ab. Die Beschäftigung ist 2024 weiter gestiegen, doch kam der Anstieg gegen Ende Jahr zum Erliegen.
Für das laufende Jahr sind die meisten Wirtschaftsforschungsinstitute wenig optimistisch. Sollte es nicht bald gelingen, mit wirtschaftspolitischen Reformen die Standortprobleme in den Griff zu bekommen, dürfte sich die deutsche Wirtschaft auch 2025 kaum aus der Stagnation befreien, hielt das Münchner Ifo-Institut am Mittwoch fest. Das Institut erwartet dann «ein kaum wahrnehmbares Wachstum von 0,4 Prozent».
«Entscheid über Auf- oder Abstieg»
Über die nötigen Reformen herrscht wenig Einigkeit. Der Wahlkampf wird stärker als letztes Mal von wirtschaftspolitischen Fragen geprägt. Damit einher geht eine klarere inhaltliche Abgrenzung zwischen einem liberal-bürgerlichen und einem links-grünen Lager.
Vor allem Wirtschaftsverbände rufen immer lauter nach Reformen. «Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist nicht mehr attraktiv», kritisierte der Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger am Dienstagabend vor Journalisten. Das gelte nicht nur für ausländische Investoren. Auch deutsche Unternehmen würden mehr und mehr im Aus- statt im Inland investieren.
«Wir entscheiden einfach in der nächsten Bundestagswahl klar darüber, ob wir wirtschaftlich auf- oder absteigen werden», betonte Dulger. Er wiederholte unter anderem Forderungen nach einem Abbau von Bürokratie und einer Reform der Sozialsysteme. Das «beste Angebot» für die Wirtschaft hätten die Union (CDU/CSU) und die FDP. Er wünsche sich zügige Koalitionsverhandlungen. Es sei wichtig, dass die nächste Regierung «möglichst schnell ins Handeln kommt». Jede Koalition, wer immer sie bilde, werde dem fundamentalen Druck zum Handeln nicht mehr entkommen können.
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