Wenn es Migranten nach Europa geschafft haben, sind die Chancen auf einen Daueraufenthalt gross. Auch dann, wenn sie keinen Schutz benötigen oder sogar kriminell sind. Das ist gefährlich.
In Europa wird zurzeit das gesamte Asylsystem grundlegend umgebaut, um die irreguläre Migration einzudämmen: An den EU-Aussengrenzen sollen Asylgesuche ab kommendem Jahr in Schnellverfahren und unter faktischen Haftbedingungen entschieden werden. Gleichzeitig experimentieren immer mehr Länder mit sogenannten Drittstaatenmodellen, um Asylverfahren vollständig in andere Länder auszulagern. Der Aufwand ist gigantisch, und die rechtlichen, praktischen und politischen Probleme sind immens. Das Ziel lautet: Es sollen weniger Menschen nach Europa kommen.
Ob dies im erhofften Ausmass gelingt, ist offen. Denn der Migrationsdruck nimmt tendenziell zu. Für die Aufnahmeländer wird deshalb ein zweiter Hebel im Asylsystem immer wichtiger: Sie müssen dafür sorgen, dass jene, die kein Bleiberecht erhalten, rasch in ihre Heimat zurückkehren. Nur so können sie sicherstellen, dass die Glaubwürdigkeit des Asylsystems einigermassen erhalten bleibt und nicht neue Anreize für zusätzliche Migration geschaffen werden. Wie sehr das Vertrauen bereits gelitten hat, zeigen die Wahlergebnisse in halb Europa.
Parallelen zum Solinger Messerstecherfall
Im Kleinen veranschaulicht sich dabei oft besonders gut, was im Grossen nicht funktioniert: Die NZZ hat den Fall eines marokkanischen Asylbewerbers recherchiert, dessen Asylgesuch vor 15 Jahren abgelehnt worden war. Doch obwohl der Mann 2014 wegen Vergewaltigung zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, lebt er immer noch in der Schweiz.
Die Rückschaffung scheitert an einer Vielzahl von Gründen: Marokko ist nicht bereit, Europas Migrationsprobleme zu lösen, und verweigert die Rückübernahme. Gleichzeitig wird das Geflecht aus nationalen und internationalen Verfahrensbestimmungen sowie aus Vorgaben der Gerichte immer undurchdringlicher. Mit der Folge, dass die europäischen Staaten selbst in Fällen faktisch machtlos bleiben, in denen der Missbrauch des Asylsystems offensichtlich ist.
Das Schweizer Beispiel weist dabei Parallelen zum Fall des Syrers auf, der im vergangenen Jahr im deutschen Solingen drei Menschen bei einer Messerattacke getötet hatte. Auch dort führte nicht zuletzt die Komplexität des Asylrechts dazu, dass sich ein Mann in Deutschland aufhielt, obwohl für sein Verfahren eigentlich Bulgarien zuständig war. Geschickt hatte der Syrer die Tücken des Asylrechts ausgenützt und die Dublin-Verordnung unterlaufen, um sich grenzüberschreitend zu bewegen. Das ist symptomatisch: Sobald es Asylsuchende nach Europa geschafft haben, steigen die Chancen auf einen Daueraufenthalt rasant an. Sogar wenn in der Heimat keinerlei Verfolgung droht.
Mehr als ein Skandal
Leider lässt sich dies nicht unter dem Stichwort Skandal einordnen. Skandale lassen sich oft einfach aufarbeiten: indem die fehlbare Behörde personell und organisatorisch erneuert und danach besser kontrolliert wird. Im Asylbereich aber muss ein System von Grund auf reformiert werden, das sich über Jahrzehnte flächendeckend bis zur teilweisen Dysfunktionalität weiterentwickelt hat.
Auch hier zeigt ein beispielhaftes Detail das Ausmass der Probleme besonders eindrücklich: In der Schweiz dauert allein die Papierbeschaffung durchschnittlich 369 Tage. Doch dieser Schritt ist zwingend, um Personen zu identifizieren und im Falle eines abgelehnten Asylgesuchs zurückzuführen.
Das Fatale an dieser Entwicklung ist, dass sie nicht zuletzt jenen am meisten schadet, die auf unsere Hilfe tatsächlich angewiesen wären: diejenigen, die von den grausamen Unrechtsregime aus aller Welt verfolgt werden. Es muss gelingen, das System wesentlich besser auf deren Schutz auszurichten. Das bedingt spürbare Korrekturen in der Gesetzgebung und in der Rechtsprechung. Verfechter eines liberalen Rechtsstaates wird dies teilweise schmerzen. Doch die Alternative ist brutaler: Denn es scheint nicht mehr ausgeschlossen, dass das Asylrecht unter der Last der irregulären Migration und unter dem Druck der öffentlichen Meinung über kurz oder lang zusammenbricht.