Wenn Gäste zufrieden sind, runden sie den Rechnungsbetrag im Restaurant noch so gerne auf. Mit dem bargeldlosen Zahlen aber kommt ein Automatismus auf, der zum Ärgernis werden kann.
Neulich holte ich mir beim «Sternen-Grill» am Zürcher Bellevue einen Cervelat, beinahe verkohlt, so wie ich ihn mag. Als ich die Kreditkarte ans Terminal halte, fordert mich das Display auf, zuerst die Kohle zu regeln, also das Trinkgeld: 5, 10 oder 15 Prozent stehen zur Wahl. Wer auf die letzte Option tippt, «Überspringen», blickt sich womöglich verschämt um wie einer, der nach dem Kirchgang nichts in den Opferstock wirft.
Nun gut, vor Jahren wurde man an diesem Wurststand oft schnoddrig abgefertigt – heute geht’s meist freundlicher. Aber rechtfertigt diese Selbstverständlichkeit schon, Trinkgeld zu heischen? Dann hätte ein solches doch ebenso sehr der nette Herr an der Migros-Kasse oder die geduldige Apothekenhelferin verdient.
Räumen wir zunächst ein verbreitetes Missverständnis aus. Seit gut fünfzig Jahren gilt im Schweizer Gastgewerbe gemäss Gesamtarbeitsvertrag «service compris» – das Trinkgeld ist also kein Aufpreis dafür, dass wir überhaupt bedient werden. Anders als etwa in Amerika, wo der Stundenlohn im Service oft keine Handvoll Dollar beträgt, gilt es nicht als Lohnbestandteil. Vielmehr ist es ein freiwillig monetarisierter Ausdruck der Kundenzufriedenheit, eine anerkennende Geste des Gasts – auch wenn im verwöhnten Zürich selbst saftige Trinkgelder manchmal mit grösster Gleichgültigkeit hingenommen werden. Das fällt einem vielleicht erst richtig auf, wenn in einer Bar in Freiburg ein moderates Aufrunden mit einem Strahlen quittiert wird.
Bei lausigem Gesamterlebnis behalte ich mir vor, keinen Rappen draufzuschlagen (und bedaure sogar, nicht etwas vom Preis abziehen zu können). Im Normalfall runde ich aber gerne auf, ab und zu auch um mehr als 10 Prozent. Einen festen Prozentsatz halte ich ohnehin nicht für sinnvoll; zumal man damit im Grunde das Personal bestraft, das in preisgünstigen Beizen schuftet statt in teuren Lokalen, die ohnehin ein privilegiertes Arbeitsumfeld bieten.
Als im Mittelalter das «Trunkgeld» aufkam, sollte sich ein Kutscher oder ein Bote damit auf das Wohl des Gebers ein Gläschen genehmigen können. Die Grenze zwischen Bestechung und Anerkennung war oft fliessend, so dass manche behaupten, das englische «tip» sei die Kurzform für «to insure promptness», also für die Sicherstellung reibungsloser Dienste. Der Kunde im Restaurant zeigt sich in der Regel erst im Nachhinein erkenntlich, kann also keinen Einfluss auf die Leistung nehmen. Dennoch sollen hiesige Gäste im Schnitt rund 6 Prozent Trinkgeld geben, was über 1 Milliarde Franken im Jahr bedeutet.
Mit den Vorgaben an Kreditkartenterminals wird nun die Praxis ausgeweitet, sogar bei Selbstbedienung, mit der man sich das Trinkgeld eigentlich selbst verdient: Am Tresen des «Tibits-Bistros» etwa – fleischlos, aber ebenso brummend wie der nahe «Sternen-Grill» – wird das gleiche System angewendet, nachdem man sich seinen Teller am Buffet beladen hat. In manchen Betrieben mag der so eingenommene Zustupf unter der ganzen Belegschaft aufgeteilt werden, so dass man damit nebst dem Lächeln an der Kasse auch die Arbeit am Herd honoriert. Dennoch will mir der Ansatz nicht gefallen.
Er hat, wie so vieles, seine Wurzeln in der Corona-Zeit. Seit die Furcht vor virenverseuchten Noten und Münzen dem sogenannt kontaktlosen Bezahlen zum Siegeszug verhalf, ist Bares eher rar als wahr. Also muss die Branche neue Wege finden, Trinkgeld einzusacken – und die Kreditkarteninstitute leisten listig Hilfe: Stehen 5, 10 oder 15 Prozent zur Auswahl, drücken hierzulande wohl die meisten ohne Kopfrechnen auf die 1o – die Schweiz ist die Nation des Mittelwegs. Der nächste Trick könnte sein, die vorgegebenen Werte klammheimlich zu erhöhen.
Für keine gute Idee halte ich das alles, weil das Gastgewerbe davon lebt, dass alle Beteiligten sich wohlfühlen. Also soll es sein Personal anständig bezahlen, wie im Gesamtarbeitsvertrag geregelt, und seine Gäste nicht unnötig mit Zwängereien verärgern. Zu diesen gehört für mich auch die kaum mehr aufzuhaltende Unsitte, einen Schluck Hahnenwasser nur noch gegen Entgelt zu gewähren (oft unter dem Vorwand, damit ein Hilfsprojekt zu unterstützen). Auch dass in einem sonst sympathischen Café wie dem «Babu’s» an Wochenenden zwischen 9 und 15 Uhr nur ein Tisch reserviert wird, wenn man für jede Person im Voraus mindestens eine Brunch-Etagere à 38 Franken bestellt und nicht länger als zwei Stunden zu bleiben gedenkt, wirkt wenig einladend.
Ich weiss, der Konkurrenzkampf ist heutzutage hart, die Marge tief und gutes Personal rar. Über die Einführung eines fixen Beitrags fürs Gedeck, wie man es aus Italien kennt, liesse sich diskutieren. Setzt aber die Branche ihren Ruf als Gastgeberin aufs Spiel, beisst sie die Hand, von der sie genährt wird. Denn wer sich zu etwas gedrängt fühlt, fühlt sich nicht als Gast.
Für diese Kolumne wird unangemeldet und anonym getestet und am Ende die Rechnung stets beglichen. Der Fokus liegt auf Lokalen in Zürich und der Region, mit gelegentlichen Abstechern in andere Landesteile.
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