Ulf Poschardt kritisiert in seinem neuen Buch das politische und gesellschaftliche Establishment scharf. Der Springer-Herausgeber glaubt, Deutschland wäre zu retten. Aber nur, wenn der Zeitgeist zerschlagen wird.
Herr Poschardt, der Verlag zu Klampen hat die Entscheidung, Ihr Buch «Shitbürgertum» nicht zu verlegen, mit einem Übermass an Polemik begründet. Beim Lesen empfindet man Ihren Essay aber nicht als furchtbar polemisch. Was ist passiert?
Der Verlag wollte unbedingt ein Buch von mir. Als ich gesagt habe, dass es vom «Shitbürgertum» handeln werde, hätte man eigentlich gleich drauf kommen können, dass es nicht nur idyllisch ist. Aber ich kann bis heute nicht erklären, was zwischen der letzten Jubel-E-Mail und dann passiert war, als die Verlegerin sagte: «Ich habe jetzt das ganze Buch gelesen, es ist mir zu polemisch.»
In wessen Interesse ist es, dass Ihr Buch nicht erscheint?
Ich bin ein Kind von linken Eltern, und bei den alten Linken gab es immer die sehr gute Frage: In wessen Interesse ist das? In Deutschland gibt es mit einem unglaublichen Regierungsapparat samt NGO ein Milieu, das ein Interesse daran hat, dass die Dinge nicht grundsätzlich infrage gestellt werden. In Zeiten politischer Instabilität versuchen die Eliten, die privilegierte Zugänge zur Macht haben, sich dieses Klima der Angst zunutze zu machen. Und wenn man als Systemskeptiker gilt, selbst wenn man am Ende nur ein einfacher, rechtschaffener FDP-Wähler ist, dann bekommt man die volle Härte dieses Milieus ab. Umgehend nachdem bekanntgeworden war, dass der Verlag mein Buch nicht herausbringen wird, verglich mich der Podcaster Micky Beisenherz mit dem rechtsradikalen AfD-Politiker Gauland. Ein ungeheuerlicher Vergleich. In der «Süddeutschen Zeitung» stand notabene in einem Leitartikel über Harald Martenstein, Jan Fleischhauer und mich einmal als Conclusio: Es wird künftig nicht reichen, diese Leute nur zu ignorieren. Diesen Gedanken muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.
Der Bundeskanzler Olaf Scholz hat in der als historisch zu bezeichnenden Bundestagssitzung, als die Vertrauensfrage gestellt wurde, Christian Lindner «sittliche Unreife» vorgeworfen. Wie kommt es, dass man in Deutschland mittlerweile sogar offiziell Vertreter unbequemer Meinungen systematisch bekämpft, indem man ihnen ihren guten Ruf zu nehmen versucht?
Es hat sich aus historischen Gründen zunehmend eine Kultur der Spaltungsabwehr herausgebildet, die in einer frühkindlichen Störung verhaftet ist und keinen erwachsenen und integrierten Umgang mit den eigenen Ambivalenzen und Abgründen kennt. Nach 1945 mussten die Deutschen ganz viel verdrängen, um irgendwie weiterzumachen: Sie standen moralisch unter Beobachtung; das Geschäftsmodell war die Umerziehung im Schatten der Schande. Es entstand eine Elite, die daraus eine eigene Kultur entwickelte. Man spricht als Gipfel aller moralischen Anwürfe gegen eine Person von sittlicher Unreife, und danach fällt einem doch gleich der Nazi ein. Das ist ein regressives Moralisieren.
Brauchte es denn unbedingt das Schimpfwort «Shitbürgertum» für die von Ihnen kritisierte «Moralelite»?
Es geht mir auch um die Geste. Wenn Sie den näselnden Ton dieses Milieus erleben, beispielsweise im regierungsnahen Deutschlandfunk, das hat etwas Normatives. Es wird der grösste Humbug zu Corona, der grösste Schwachsinn zur Klimakrise, es werden total bescheuerte Sachen darüber erzählt, was noch Demokratie sei und was nicht mehr. Also da kommt man aus dem Staunen nicht raus. Respekt muss man sich verdienen. Und ich finde, die haben sich Respektlosigkeit verdient. Argentiniens Präsident Milei hat mich inspiriert, als er einmal auf die Frage, weshalb er die Linke immer «Merde» nenne, antwortete: weil die scheisse sind. Ich gebe zu, das ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Aber ich freue mich drauf, wenn jetzt in den verschiedensten bürgerlichen Lebensumfeldern dieses Buch aufgeschlagen wird, wo vorne draufsteht «Shitbürgertum» und hinten auf dem Klappentext «Macht kaputt, was euch kaputt macht».
Der Song von Ton Steine Scherben, einer Anarcho-Band, die einst zur Gewalt gegen den Staat aufrief. Was möchten Sie denn gerne tun?
Alle, auch die Bürgerlichen, müssen rauskommen aus ihrer duldsamen Etabliertheit und wieder kämpfen. Niall Ferguson hat auf einen «vibe change» in den Debatten und der Politik hingewiesen: weg von vermeintlich progressiven Themen wie Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion, hin zu Meritokratie, Individualisierung und einem im Zweifel auch rüderen Ton. Mehr Gotham City, weniger Bullerbü.
Inwiefern steht die Ampelregierung für dieses Bullerbü?
Mit SPD und Grünen sind dort zwei von drei Parteien Ausdruck der moralisierenden Realitätsverweigerung. Dagegen hielten Gerhard Schröder und Joschka Fischer noch James Carvilles Satz von 1992 hoch: «It’ s the economy, stupid.» Schröders Reformen haben für Wohlstand gesorgt. Das war damals der Geist der Mitte-links-Regierungen im Westen. Das ist selbst für jeden Marxisten naheliegend: Die Grundlage muss eine funktionierende Wirtschaft sein. Und wenn wir Wohlstand und Wachstum generieren, dann können wir über Umverteilung reden, aber nicht andersherum.
Schröders Wirtschaftsreform Agenda 2010 ist zwanzig Jahre her. Was wäre denn jetzt das eigentliche Thema?
Deutschland befindet sich im dritten Jahr der Rezession. Wir haben einen lächerlichen Wirtschaftsminister, einen lächerlichen Vizekanzler, einen beschämend schlechten Bundeskanzler. Und wir reden trotzdem nicht über Ökonomie, sondern im Zweifelsfall sprechen die Bundesregierung und auch Teile der Opposition über einen Meinungsbeitrag von Elon Musk bei uns in der «Welt am Sonntag» – vollkommen verrückt.
Diese Veröffentlichung war Ihr letzter Akt als Chefredaktor, bevor Sie Herausgeber wurden. Der grosse Aufruhr war vorhersehbar. Ziel erreicht?
Ja.
Ja? Aber die Reaktionen quer durch Medien, Parteien und Verbände waren negativ. Was wollten Sie denn erreichen?
Ich hatte eine einfache journalistische Neugier. Elon Musks vorausgegangene Threads deuteten für mich darauf hin, dass er sich gar nicht so genau auseinandergesetzt hat mit der Partei, die er da lobt. Das hat man auch gemerkt in dem Gespräch auf X mit Alice Weidel. Sonst wüsste er nämlich, dass die AfD zum Beispiel in Brandenburg versucht hat, Tesla zu verhindern. Die Partei ist für ihn einfach eine Chiffre für die möglichst grösste politische Disruption in Deutschland. Was das dann genau politisch heissen mag, scheint Musk unklar.
Die heftige Debatte drehte sich aber nicht darum, inwiefern Musk die AfD falsch einschätzt, sondern um die Frage, ob man als Aussenstehender und reichster Mann der Welt etwas sagen darf zum deutschen Wahlkampf. Wie abgeschottet ist die deutsche Mentalität mittlerweile, dass so ein intellektuell dürftiger Einwurf von aussen das ganze Land in Aufruhr versetzt?
Es gibt einen grossen Unterschied zwischen der veröffentlichten Meinung schwer atmender Journalisten und der öffentlichen Meinung. Wenn ich ausserhalb der Blase angesprochen wurde, fanden es eigentlich alle selbstverständlich, dass wir das publiziert haben. Zudem ist der nationale Moralismus, die Deutungshoheit im vorpolitischen Raum in Deutschland, aber zunehmend nur noch hier, sehr wichtig. Es schossen ja die Enteignungsvorstellungen nur so aus dem Boden, etwa mit der Forderung, Musk und X müssten jetzt auf europäischer Ebene zensuriert werden.
Sie fordern, dass die Frage nach dem Staat neu gestellt wird. Was heisst das?
Es braucht in Deutschland ein neues Staatsverständnis. Es ist nachvollziehbar, dass die Deutschen sich in der Unsicherheit nach 1945 im Wir und dann auch im Staat versteckt haben. Im 21. Jahrhundert war ein Schlüsselereignis, als 2008 Merkel und Steinbrück versicherten, dass die Spareinlagen der Menschen sicher seien. Es hat als grosser etatistischer Bluff funktioniert. Weil diese Idee sehr prägend ist, dass man im Zweifelsfall dem erfolgreichen Einzelnen misstraut, während man nie dem Staat misstraut. Anstatt den Politikern zu sagen: Nee, wir sind eure Chefs, wir wählen euch ab, wenn ihr nicht macht, wofür wir euch gewählt haben, pflegt man diese Staatsliebe auf groteske Art. Und deswegen, glaube ich, sind sowohl Mileis Kettensäge als auch das, was Elon Musk mit dem Department of Government Efficiency (Doge) in Washington macht, total inspirierende Beispiele. Da müssen wir in Deutschland hinkommen.
Liberale Stimme in Deutschland
Ulf Poschardt (Jg. 1967) war unter anderem Chefredaktor des Magazins der «Süddeutschen Zeitung», bevor er 2008 als stellvertretender Chefredaktor der «Welt am Sonntag» zu Springer kam und u. a. Chefredaktor der «Welt»-Gruppe (2016–2024) war. Seit 1. Januar ist er Herausgeber von «Welt», «Politico» und «Business Insider». Der Journalist ist eine der profilierten liberalen Stimmen in Deutschland. Von ihm erschienen u. a. «Einsamkeit. Die Entdeckung eines Lebensgefühls» (2006); eine Kulturgeschichte des Porsche, «911» (2013), oder «Mündig» (2020). Seine neue Publikation hätte ursprünglich im Februar erscheinen sollen, aber der Verlag zu Klampen distanzierte sich von dem Projekt wegen «unterschiedlicher Vorstellungen», worauf «Shitbürgertum» diese Woche im Eigenverlag erschienen ist. Poschardt geht darin der Frage nach, wie sich das rot-grüne Bürgertum «in nur kurzer Zeit politischer Repräsentation» derart unbeliebt machte. Die Protagonisten des Zeitgeists, konstatiert Poschardt, hätten aus der «einst heiteren Geste» progressiver Anliegen «einen weltanschaulichen Panzer aus Machtstreben und Brutalität im Umgang mit Andersdenkenden» gemacht. Ernsthaft liberale Haltungen würden systematisch «als rechts denunziert». Ulf Poschardts Buch «Shitbürgertum», Ulfposchbooks, 2025, ist erhältlich bei Amazon. 164 S., Euro 17.26.
Wie sieht es mit dem Kanzlerkandidaten der Union, Friedrich Merz, aus? Was darf man erwarten in diesem Wahlkampf?
Nichts. Absolut nichts. Merz führt einen Wahlkampf der Angst, man merkt richtig, wie der sich nichts mehr traut. Die Union macht den Leuten, die aus Verzweiflung AfD wählen, kein Angebot. Das Neue an der jetzigen Situation ist, dass das Publikum in den Talkshows lacht. Wenn die SPD-Co-Vorsitzende bei Caren Miosga sagt, die Renten seien sicher, und Miosga antwortet: «Na, das glaube ich eher nicht», dann lachen die Leute. Und es ist wahrscheinlich, dass sie auch diesmal wieder ihr Kreuz bei einer dieser strukturkonservativen oder strukturreaktionären Parteien machen. Das ist faktisch schon selbstironisch, man bleibt denen treu.
Ist die Migration das grosse Thema dieses Wahlkampfs?
Es gibt hier keine Debatte. Während die Besten weiterhin auswandern, bekommen wir die Schlechtesten. Aber mit so einem Satz ernte ich meinen nächsten Shitstorm. So redet man nicht. Durch die illegale Migration kommen die bildungsfernen Milieus an; es heisst immer, aber das seien doch auch Flüchtlinge. Aber nein, das ist einfach nur illegale Migration. Stattdessen brauchen wir Höchstqualifizierte. Aber wir schieben die illegalen Migranten nicht ab, sorgen nicht dafür, dass wir schnell Entscheidungen treffen. Und wenn sie erst mal vier oder fünf Jahre hier sind, dann kriegen sie eine Duldung. Und dann haben wir sie da.
Sie führen Giorgia Meloni als positives Gegenbeispiel an, wenn es um die Überwindung der Geschichte geht. Sie zwang ihr Land zur Identifikation mit dem faschistischen Erbe und hat damit ihre postfaschistische Partei Fratelli d’Italia in die Mitte geführt. Glauben Sie, dass die AfD-Kanzlerkandidatin Weidel ihre Partei ähnlich wie Meloni in die Mitte führen könnte?
Nein, gerade auch, wenn man jetzt am Parteitag die Rede von Weidel gehört hat. Der Begriff der Brandmauer kommt von der AfD. Wenn die jetzt 20 Prozent haben, realpolitisch damit aber nichts machen können, müssten sie sich doch fragen, was sie als Partei verändern müssen. Die AfD ist die stumpfeste aller rechtspopulistischen Parteien in Europa. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum nicht einmal Marine Le Pen mit denen in der Europa-Fraktion gehen wollte. Meloni ist intellektuell ein ganz anderes Kaliber als Weidel. Alle liefern mehr politische Intelligenz, mehr Interesse für Realpolitik, als es die AfD zeigt. Die AfD ist im Grunde eine rechts-woke Partei: immer beleidigt, immer im Opfermodus, so passiv-aggressiv wie das Shitbürgertum.
Gibt es Hoffnung für Deutschland, dass der links-grüne Zeitgeist, der letztlich auch die AfD stärkt, bröckelt?
Also ich frag alle Unternehmer, Investoren und CEO, mit denen ich spreche: Glaubt ihr, wir kriegen eine Wende zum Besseren hin, bevor wir crashen? Ja oder nein? Und alle sagen: Nein, ich fürchte, wir müssen erst crashen, bevor wir uns neu sortieren.
Aber derzeit geraten doch Dinge ins Rutschen: Mark Zuckerberg hat gerade die Lockerung der Zensur bei Facebook und Instagram angekündigt, McDonald’s lässt ab von der Gender-Ideologie, JP Morgan von den Klima-Selbstverpflichtungen.
Ich habe deswegen in der vergangenen Woche die Angebote anderer Verlage abgelehnt und gebe mein Buch jetzt im Eigenverlag heraus. Dieses Shitbürgertum ist schon wahnsinnig nervös, weil seine Deutungshoheit schwindet, ebenso wie die Rolle als Gatekeeper. Die entscheiden, das ist Demokratie, das nicht, das ist Meinungsfreiheit, das nicht, das ist akzeptabel, das nicht. Ich wollte mein Buch an diesen Gatekeepern vorbei bringen, an diesen meist ultralinken Verlagen, diesen meist ultralinken Buchläden. Ich will alle ermutigen, denn es geht auch ohne die.