Vor dem Rückrundenstart erklärt Giorgio Contini, wie er sich für den Job beim Schweizer Meister empfohlen hat. Und warum die Absetzung von Goalie David von Ballmoos keine Degradierung ist.
Nachdem es die Spatzen wochenlang von den Dächern gepfiffen hatten – wie überrascht waren Sie, als Sie am 13. Dezember die Anfrage von YB für den Cheftrainer-Posten bekamen?
Ich hatte bereits einige Tage vorher aus meinem Umfeld erfahren, dass sich YB kundig macht über meine Situation. Es war nicht so, dass mich der Anruf auf dem falschen Fuss erwischt hätte. Ich war eher überrascht, weil ich das Gefühl hatte, YB habe vielleicht schon einen Trainer.
Hand aufs Herz: Wie heftig sehnten Sie den Anruf herbei?
Davor hatte es mit mir und YB das eine oder andere Mal nicht geklappt. Entweder war ich besetzt oder sie wählten einen anderen. Der YB-Zug ist schon ein paar Mal bei mir vorbeigefahren. Jetzt hat er angehalten und ich freue mich, dass ich aufspringen konnte.
Der oberste Sportverantwortliche bei YB, Christoph Spycher, hat gesagt, dass Sie als Assistent an der EM das Profil schärfen konnten. Was haben Sie aus der Zeit im Schweizer Nationalteam mitgenommen, dass Sie ein noch besserer Trainer geworden sind und nun den YB-Ansprüchen genügen?
Mitgenommen habe ich die Erfahrung, dass ich unsere Arbeit trotz aller Hektik geniessen durfte. Der Umgang mit den Schweizer Topspielern, die internationalen Gegner, die Bühne eines grossen Turniers – das schärft automatisch das Profil. Für mich persönlich war das Interessante, dass ich mich als Trainer nicht verändert habe. Ich machte fast alles so wie immer. Das bestätigte mir, dass meine Art, wie ich als Trainer bin und wie ich führe, auch mit den besten Spielern der Schweiz auf höchstem Niveau funktioniert. Internationale Erfahrung fehlte bis dahin auf meiner Visitenkarte. Dort stand bis jetzt «Aufstiegstrainer», «Nicht-Abstiegstrainer», «Stabilisierungs-Trainer».
Es gab wohl noch keinen Assistenten, der so gefeiert wurde wie Sie an der EM. Inwiefern waren Sie mehr als Murat Yakins Co-Trainer?
Ich war von Anfang an kein Assistent im herkömmlichen Sinn. Weil wir uns schon lange kennen, hat mir Murat auch den Raum gegeben, so zu sein, wie ich bin. Er wusste, welchen Mehrwert er bekommt, wenn er mich nicht bremst und machen lässt. Es war klar abgesprochen und erwünscht, dass ich mit den Spielern rede, mitgestalte oder vor die Medien trete. Das hat gut geklappt.
War Michel Aebischer als linker Flügel an der EM Ihre Erfindung?
Nein, das war das Ergebnis eines langen Prozesses im Trainerteam.
Wie darf man sich diesen Prozess vorstellen?
Wir bestimmten die regelmässigen Einsätze im Klub als ein priorisiertes Kriterium. Mit Granit Xhaka, Remo Freuler und Michel Aebischer hatten wir drei Mittelfeldspieler mit diesem Kriterium, aber nur zwei Plätze. Wir pröbelten tagelang in den Büros herum, wo Aebischers Platz sein könnte. Wir wollten ihn in der Startelf. Weil uns links ein Aussenläufer fehlte, kamen wir am Ende auf die Idee, ihn links zu positionieren, damit uns Dan Ndoye in der Offensive erhalten bleibt. So kamen wir auf diese etwas asymmetrische Aufstellung gegen Ungarn. Der Plan ging auf.
Unlängst hat Sie Granit Xhaka mit Lob überschüttet …
… er hat das freiwillig gemacht.
Davon gehen wir aus. Der Punkt ist: Es entsteht der Eindruck, dass Sie für die Spieler wichtiger waren als der Cheftrainer Yakin.
Nein, nein, das geht zu weit. Wir haben als Team harmoniert. Jeder hat seine Stärken eingebracht. Ich habe eher mit den Spielern gesprochen, Murat konnte seine taktischen und technischen Fähigkeiten voll entfalten. Dieses Zusammenspiel war ein Teil des Puzzles, das in der Summe zum Erfolg führte.
Sie waren immerhin so wichtig, dass Ihr Posten im Nationalteam nun mit zwei neuen Assistenten ersetzt werden soll.
Was soll ich dazu sagen? Dass ich den Lohn für zwei hätte verlangen sollen? Im Ernst: Es ist immer sinnvoll, wenn man die Aufgaben auf mehrere Schultern aufteilt.
Wie haben Sie den Herbst im Nationalteam erlebt, als sich der Erfolg ins Nichts verflüchtigte? Xhaka konstatierte etwa, dass bei einigen Spielern Professionalität und Hunger gefehlt hätten.
Mein Eindruck war nicht, dass die Spieler nicht wollten, sondern, dass sie nicht konnten. Im Herbst liegt die Priorität bei den Klubs, manchen Spielern fehlte die Erholung. In der Schweiz haben wir keinen zweiten und dritten Manuel Akanji, damit der erste Akanji einmal pausieren kann, weil er bei Manchester City bis an die Grenzen belastet wird. Grössere Länder können auf ein grösseres Reservoir zurückgreifen, ohne Qualität einzubüssen. Das haben wir ja gegen Spanien erlebt.
Trotzdem scheint die Blutauffrischung zu stocken, wenn man etwa den gescheiterten Ausleihversuch von Noah Okafor von der AC Milan zu RB Leipzig nimmt.
Unabhängig von der Personalie Noah Okafor: Wer einen Transfer ins Ausland macht, kann nicht das Leben geniessen und beim ersten Widerstand davonlaufen, wenn er zum Beispiel auf der Ersatzbank sitzt. Er muss beissen, kämpfen, weiterkommen, wenn er in der Nationalmannschaft spielen will. So wie Xhaka, Freuler, Schär, Akanji, Embolo, Aebischer und andere, die seit Jahren Stammspieler sind. Ich bin überzeugt, dass einige Jüngere wie Dan Ndoye, Ruben Vargas, Zeki Amdouni oder Aurèle Amenda auf gutem Weg sind dorthin.
Wohin führt der Weg mit YB, wenn es Ende Mai doch noch eine gute Saison sein soll?
Mit acht Punkten Rückstand auf die Spitze ist es vermessen, vom Titel zu sprechen. Der Cup wird ein wichtiges Thema sein. Es geht als erstes Ziel darum, für das letzte Meisterschaftsdrittel unter die ersten sechs Klubs vorzustossen. Dann haben wir die Möglichkeit, für das Meisterschaftsende die Ambitionen anzupassen.
Realismus in Ehren – aber die Ambition von YB und die Erwartung beim Publikum sind Titel und obendrauf eine dominante, attraktive Spielweise. Ist ihr Realismus auch Selbstschutz?
Nein, ich bin nicht hierhergekommen, um Siebter zu werden. YB verkörpert seit vielen Jahren Erfolg, Dynamik, Tempo. Ich bin völlig kohärent mit der Führung, dass wir an der Spitze mitspielen wollen und müssen.
Genügt das? Vor einigen Monaten musste der Trainer Raphael Wicky gehen, obwohl YB Leader war. Die «Spielweise und Entwicklung» sollen nicht gestimmt haben.
Was von aussen sichtbar ist und vermutet wird, muss nicht das sein, was intern besprochen wird. Oft sind die Gründe, weshalb etwas falsch läuft, ganz andere, als sie in den Medien verbreitet werden. Ich kann nur sagen, dass ich versuchen werde, aus den Möglichkeiten, die YB bereitstellt, das Optimum auf den Platz zu bringen. Und was die Aussenwahrnehmung und die Medien anbelangt: Ich habe gerade in dieser Hinsicht in all den Jahren eine ausgeprägte Resilienz entwickelt.
Sie haben bis jetzt bewiesen, dass Sie erfolgreich einen pragmatischen Aussenseiter-Fussball spielen lassen können. Mit YB geht das nicht. Was ist Ihre Spielidee?
Ich muss das präzisieren: Ich habe immer so spielen lassen, dass meine Teams mit dem Ball Lösungen suchen. Dynamisch, nach vorne, offensiv. Das hat vielleicht nicht immer geklappt, und natürlich gibt es immer wieder Konstellationen, in denen ich als Trainer pragmatisch sein will. Aber die Spielidee war im Grundsatz immer gleich.
Im Vergleich zu GC, Lausanne, Vaduz oder St. Gallen haben Sie ein Kader mit Meisterpotenzial zur Verfügung. Wie werden Sie Ihr Vorgehen anpassen?
Nicht gross. Der Verein und ich sind völlig deckungsgleich in Bezug auf die Werte, die wir auf den Platz bringen wollen. Ich werde meine Qualitäten selbstverständlich dem anpassen, was ich hier in Bern antreffe. Aber nochmals: Der Verein weiss genau, wie meine Art ist, Trainer zu sein. Und ich weiss genau, was YB von mir verlangt und erwartet.
YB erwartet Siege und Punkte. In welchem Zustand haben Sie die Mannschaft angetroffen?
Sie war nicht depressiv oder niedergeschlagen. Die kurze Weihnachtspause hat allen gut getan. Wenn ein neuer Trainer kommt, gibt es eine frische Dynamik. Ich habe viel beobachtet, Gespräche geführt und die Spieler im Trainingslager kennengelernt. Der nächste Schritt wird sein, dass ich in den kommenden Wochen ein Gespür entwickle, wie die Spieler in den Stressmomenten an den Spielen funktionieren. Bis jetzt wollte ich der Mannschaft vor allem meine Leitplanken vermitteln, zwischen denen wir arbeiten und wie wir miteinander umgehen.
Gehört dazu, dass sich kein Spieler seiner Position sicher sein darf? Der jüngst kommunizierte Goaliewechsel vom routinierten David von Ballmoos zum aufstrebenden Marvin Keller ist ein solches Zeichen.
Das darf man so deuten. Aber ich kann versichern, dass der Entscheid für Keller als Stammgoalie analytische Gründe hat und perspektivische. Wichtig ist die Kommunikation. Ich hatte mit beiden Goalies intensive, gute Gespräche geführt, in denen wir den Entscheid besprachen. Der Inhalt bleibt intern. Zentral ist, dass die Kommunikation transparent ist und beide wissen, woran sie sind.
Was passiert, wenn von Ballmoos als Klublegende Theater macht?
David ist sehr intelligent und ein toller Sportsmann. Jeder weiss um seine Geschichte im Verein, um seine tiefe Verbundenheit mit YB. Ob er spielt oder nicht, hat nichts zu tun mit seinem Wert als Mensch und Spieler. David weiss, dass er eine Rolle hat mit einer Aufgabe und ich vertraue ihm voll und ganz, dass er diese wahrnimmt. Die Torhüter-Position ist exponiert, weil man den Goalie selten wechselt. Aber auch für die anderen Spielern gilt, dass jeder seine Rolle kennt und weiss, was er zu tun hat.
Bei GC hatten Sie keinen Sportchef und keinen Präsidenten, waren allein mit der Mannschaft. Hier bei YB ist es umgekehrt: Sie werden erstmals in einer grossen Organisation mit vielen Menschen und unterschiedlichsten Kompetenzen funktionieren müssen. Haben Sie Respekt vor dieser neuen Konstellation?
Ich freue mich darauf! Die Abgrenzungen und Aufgaben sind bei YB klar verteilt. Wenn es um Transfers geht, ist der Sportchef Steve von Bergen die Ansprechperson. Werde ich zu Themen ausserhalb des Sports gefragt, kann ich an die Geschäftsleitung verweisen. Im sportlichen Bereich kann es nur hilfreich sein, Expertisen von vielen Fachleuten zu bekommen. Das entlastet mich als Cheftrainer. Aber auch in einer grossen Organisation ist die Kommunikation mit dem direkten Gegenüber entscheidend. Kann ich mich einfühlen? Verstehen wir uns? Sind wir offen und ehrlich? Darauf kommt es an.
Und? Sind Sie ehrlich?
Das ist mein Anspruch, Ja.