Die bewegende Biografie einer Frau, die in jenen Tagen grosses Glück und grosses Leid erfahren hat.
Aviva Ballas steht in der israelischen Unterkunft des olympischen Dorfes in München. Eine Blutlache zeugt vom schrecklichen Tod ihres Kollegen, des Gewichthebers Yossef Romano. Die palästinensischen Attentäter, die im Morgengrauen des 5. September 1972 in die Unterkunft eingedrungen sind, töteten den Israeli auf barbarische Weise – sie liessen ihn vor den Augen der übrigen Geiseln verbluten.
In jener Nacht hätte auch die Leichtathletin Aviva Ballas im Zimmer von Yossef Romano und einem weiteren Kollegen übernachten sollen. Nur der Zufall wollte es, dass sich ihre Pläne kurzfristig änderten.
Stattdessen bleibt ihr am Tag danach nichts anderes übrig, als den Koffer ihres toten Kollegen zu packen.
Mehr als fünfzig Jahre später wirkt die sonst so quirlige Aviva Ballas wie versteinert, wenn sie sich an das Olympia-Attentat von München erinnert. Sie ringt nach Worten. «Ich denke, ich habe den Verstand verloren», sagt sie mit leiser Stimme. Wie eine Katastrophe sei alles über sie hereingebrochen, die meisten Opfer habe sie persönlich gekannt.
Während sie erzählt, sitzt Nicolas Lindecker neben ihr auf dem Sofa. Der Ruderer gehörte 1972 zur Schweizer Delegation. Im olympischen Dorf sind damals zwischen den beiden erste zarte Bande entstanden. Zwei Jahre später wurden sie ein Paar, seit bald fünfzig Jahren sind sie miteinander verheiratet. Seit über vierzig Jahren wohnen sie in Zürich, in der Siedlung Brunaupark am südlichen Stadtrand.
Geburtsdatum 00. 00. 1946
Wann genau sie geboren wurde, weiss Aviva Ballas nicht. Im Irak der 1940er Jahre hatte das keine grosse Bedeutung. In ihrem israelischen Pass und in ihrer israelischen Identitätskarte, die sie später erhielt, stehen zwei unterschiedliche Daten. Im Schweizer Pass wiederum, den sie nach der Heirat zusätzlich bekommen hat, steht mangels Geburtsscheins bis heute 00. 00. 1946.
Demnach wäre sie heute ungefähr 78 Jahre alt. Doch auch das Geburtsjahr zweifelt sie an. Sie denkt, es sei mit jenem ihrer älteren Schwester verwechselt worden. Denn diese wird in den offiziellen Papieren unerklärlicherweise als jünger ausgewiesen.
Ein riesiges Tohuwabohu sei das, wirft ihr Mann lachend ein, der die Geschichte nicht zum ersten Mal hört. Aviva Ballas hat sich mit ihrem unbekannten Geburtsdatum längst versöhnt. «Sterben tut man sowieso, wenn es Zeit ist – egal, wann man geboren wurde.»
Kindheit in Bagdad
Wenn sie an ihre frühe Kindheit in Bagdad zurückdenkt, erinnert sich Aviva Ballas an ein stattliches Anwesen im Zentrum der Stadt. Auf drei Stockwerke verteilt lebte die ganze Grossfamilie. Vor jeder Wohnung habe es eine Veranda gegeben, vom prächtigen Innenhof aus habe man alles überblicken können. Damals lebten noch weit über 100 000 Juden im Irak, die meisten von ihnen in Bagdad. In der Hauptstadt waren um 1940, je nach Quelle, rund ein Viertel oder sogar ein Drittel der Einwohner jüdischen Glaubens.
In der Familie wurde Arabisch gesprochen, einzig ihr Vater habe auch Hebräisch gekonnt, obwohl er nicht sehr gläubig gewesen sei. Er besass eine gutgehende Schneiderei, wo er für eine betuchte Kundschaft Massanzüge anfertigte.
Der grosse Bruch im Zusammenleben mit den Muslimen erfolgte 1941. In einem Pogrom, dem sogenannten Farhud, brachte ein arabischer Mob in Bagdad in einer einzigen Nacht mehrere hundert Juden um, vergewaltigte Frauen und zerstörte über tausend jüdische Geschäfte.
Die Schneiderei von Aviva Ballas’ Vater blieb verschont. Er konnte sich nicht vorstellen, das Land je zu verlassen, in dem Muslime, Juden und auch Christen seit Jahrhunderten zusammenlebten. «Er selber identifizierte sich mehr als Iraker denn als Jude», sagt Aviva Ballas. Deshalb habe er sich lange geweigert, das Land zu verlassen.
Doch nach der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 eskalierte der Antisemitismus in allen arabischen Staaten. 1951 wurde das Geschäft des Vaters von den Behörden beschlagnahmt, die Familie musste das Land überstürzt verlassen. Mit einer spektakulären Luftbrücke organisierte Israel die Überführung von über 120 000 Juden.
Mit diesem Exodus ging die 2500 Jahre alte Kultur des orientalischen Judentums verloren. Diese reichte zurück bis zur Zerstörung des ersten Tempels in Jerusalem, als viele Juden ins damalige Babylonien deportiert wurden.
Bei ihrer erzwungenen Ausreise musste die Familie Ballas sämtlichen Besitz zurücklassen, auch das schöne stattliche Haus in Bagdad, das seit vielen Generationen der Familie gehörte. «Am Flughafen wurden meinen Eltern auch die Eheringe abgenommen», sagt Aviva Ballas.
Ihr Elternhaus hat sie nie wiedergesehen, nicht einmal ein Foto gibt es davon. An eine Rückkehr an den Ort ihrer Kindheit war angesichts der politischen Umstände nie zu denken. Im heutigen Irak ist alleine schon der Kontakt mit Juden streng verboten, in schweren Fällen wird im Gesetz dafür sogar die Todesstrafe angedroht.
Ein einziges Foto aus Bagdad ist in den Wirren der überhasteten Flucht mitgekommen. Es zeigt die kleine Aviva und ihre drei Schwestern glücklich vereint. Zwei von ihnen leben heute in Israel, eine in den USA. Wenn sie mit ihnen spricht, zumeist am Telefon, kippt sie manchmal ins Arabische. Die Sprache ist ein Stück Heimat, die ihr geblieben ist.
Weder Milch noch Honig
Nach der Flucht nach Israel erwartete die Neuankömmlinge weder Milch noch Honig, wie es ihnen überzeugte Zionisten in Aussicht gestellt hatten. Die europäischen Juden, die Aschkenasim, hatten grosse Vorbehalte gegenüber den fremdländischen Glaubensgenossen aus dem Orient, den Misrachim. Diese wurden nach der Ankunft am Flughafen mit dem Insektizid DDT abgespritzt, um vermeintliches Ungeziefer abzutöten. Daraufhin fuhr man die Einwanderer und ihr Gepäck mit dem Lastwagen in ein Auffanglager.
«Für meinen Vater war das ein Kulturschock», sagt Aviva Ballas. Auf die Reise hatte er sich in seinem besten Anzug und mit der traditionellen irakischen Kopfbedeckung Sidara begeben. «Und dann strandete er in einem Zelt voller Sand, mit Skorpionen und Schlangen.» Diese Entwurzelung habe er nie überwunden, zusehends sei ihr Vater dem Alkohol verfallen.
Als ein Taifun nach wenigen Monaten das Zelt niederriss, wurde der Familie Ballas im Auffanglager Amishav immerhin eine Holzbaracke zugeteilt. Für die junge Aviva war es das Paradies. «Wir hatten einen grossen Garten, darin tummelten sich Hunde, Schafe, Hühner und Ziegen.»
Talent als Leichtathletin
Mit dem Lauftraining begann Aviva Ballas erst zehn Jahre später. In der Kleinstadt Petah Tikva konnte die Familie erstmals in eine Wohnung ziehen. Neben der Ausbildung als Buchhalterin schloss sich die Jugendliche dem örtlichen Leichtathletik-Verein an, wo ihr Talent schnell erkannt wurde.
1972 erreichte Aviva Ballas den Höhepunkt ihrer Sportkarriere: An den grossen Meetings in London und Oslo stand sie jeweils auf dem Podest, an kleineren Meetings ging sie als Siegerin hervor. Der deutsche Verband lud sie ein, im Leistungszentrum Leverkusen zu trainieren. Ihre Landesrekorde über 400 und 800 Meter, die sie in jenem Sommer aufstellte, hielten mehr als zwanzig Jahre, der israelische Rekord über 600 Meter wurde sogar erst im vergangenen Jahr unterboten.
In der deutschen Unterkunft
Doch für die Olympischen Sommerspiele in München wurde Aviva Ballas nicht selektioniert – aus sportlich nicht nachvollziehbaren Gründen verweigerte ihr der israelische Verband eine Teilnahme. Der deutsche Verband reagierte prompt und bot ihr zum Trost ein Zimmer im olympischen Dorf an, im Haus der deutschen Betreuer.
So konnte Aviva Ballas zwar nicht an den Wettkämpfen teilnehmen, sie verbrachte aber die ganze Zeit im olympischen Dorf, wo sie täglich trainierte und sich in der Mensa verpflegte. Sie fühlte sich als Teil der olympischen Familie.
Einmal setzte sich in der Mensa ein Schweizer Ruderer an ihren Tisch und kam mit ihr ins Gespräch. Es war Nicolas Lindecker. Er habe sich wenig Hoffnung gemacht, die schöne Frau für sich zu gewinnen, erzählt er mehr als fünfzig Jahre später. «Um sie herum bildete sich stets eine Traube von Männern, die alle um sie buhlten.»
Immerhin konnte er sie dazu überreden, mit ihm an einem wettkampffreien Tag ins Münchner Olympiastadion zu gehen. Nach dem Abschluss seiner eigenen Wettkämpfe – im Zweier mit Steuermann erreichte er den B-Final – reiste Nicolas Lindecker zurück nach Zürich, wo er an der ETH eine Prüfung für sein Maschinenbaustudium ablegen musste.
Aviva Ballas aber blieb.
Die Einladung ins Musical
Am Abend des 4. September besuchte die israelische Delegation in der Münchner Innenstadt ein Musical. Der Gewichtheber Yossef Romano und sein Zimmerkollege Zeev Friedman luden Aviva Ballas ein, mitzukommen.
Romano war in Libyen aufgewachsen, in der Küstenstadt Benghasi. Mit ihm konnte sie sich auch auf Arabisch unterhalten. Nach der Aufführung könne sie bei ihnen übernachten, sagte er, sie hätten bereits eine Matratze ins Zimmer gelegt. So müsse sie spätabends nicht alleine in ihre Unterkunft am anderen Ende des olympischen Dorfes laufen.
Aviva Ballas sagte zu.
Es war Romanos zweitletzter Abend in München. Für den 6. September hatte er den Rückflug nach Israel gebucht. Die Geschenke für seine Frau und die drei Töchter hatte er bereits besorgt, sie stapelten sich in seinem Zimmer.
Als die palästinensischen Terroristen am frühen Morgen des 5. September in die israelische Unterkunft drangen, war Aviva Ballas nicht da. Am Vorabend war überraschend ihr Trainer in München eingetroffen. Er hatte seine Athletin gebeten, ihm das olympische Dorf zu zeigen – ins Musical könne sie ja ein andermal gehen.
Aviva Ballas mochte ihm den Wunsch nicht abschlagen – das rettete ihr vermutlich das Leben. «Ja, sonst würde ich jetzt wohl nicht auf diesem Sofa sitzen», sagt sie nachdenklich. «Und ich hätte Nicki nicht heiraten können», fügt sie hinzu und legt eine Hand auf seine Schulter.
Neben Yossef Romano töteten die Geiselnehmer in der Unterkunft einen zweiten Israeli, den Trainer Moshe Weinberg, Sohn österreichischer Juden, die kurz vor dem Krieg nach Palästina ausgewandert waren.
Weinberg und Romano hatten sich zu Beginn der Geiselnahme den Attentätern todesmutig entgegengestellt. Romano nahm auch seine Krücken zu Hilfe – er hatte sich bei seinem Wettkampf an einem Knie verletzt. Während die palästinensischen Attentäter als Erstes Weinberg erschossen, sollte an Romano, so die Vermutung, ein Exempel statuiert werden. Indem die Terroristen ihn malträtierten und verbluten liessen, schüchterten sie die übrigen neun Geiseln ein.
Tatsächlich leisteten diese keinen Widerstand, als sie viele Stunden später, nach langen Verhandlungen, zuerst in einen Bus und dann mit zwei Helikoptern zum Militärflugplatz Fürstenfeldbruck gebracht wurden. Dort kamen alle noch lebenden Geiseln in einer Schiesserei zwischen den Attentätern und der Polizei ums Leben, unter ihnen Romanos Zimmerkollege Friedman. Mit ihm hatte Aviva Ballas am israelischen Sportleistungszentrum studiert, zusammen schrieben sie die Abschlussarbeit.
Am 6. September 1972 wurden die Särge mit den elf Toten nach Israel übergeführt. Im Sonderflug sass auch Aviva Ballas. Zeit, um die Trauer zu verarbeiten, gab es für sie keine. Um zu zeigen, dass man sich vom Terror nicht unterkriegen lässt, wurde sie schon bald zurück nach Europa geschickt, an ein Leichtathletik-Meeting in Graz.
Doch von da an seien sie an jedem Wettkampf von einem riesigen Sicherheitsapparat bewacht worden, erzählt Ballas. Das habe keinen Spass mehr gemacht. Ein Jahr später, nach den Asienspielen in Manila in den Philippinen, beendete sie ihre Karriere.
Doch eines ist geblieben. «Die Angst von München habe ich noch immer in meinen Knochen», sagt Aviva Ballas sinnierend, «die werde ich vermutlich nicht mehr los.» Sie traue grundsätzlich keinem Menschen mehr – ihr Vertrauen müsse sich jeder zuerst verdienen.
Ein kleines Bagdad im Brunaupark
Nicolas Lindecker hat sich ihr Vertrauen offensichtlich verdient. Sie hatte ihn schon fast vergessen, als er sich nach den Olympischen Spielen wieder bei ihr meldete. Der Umzug in die Schweiz fiel ihr schwer, alleine schon wegen der Kälte im Winter.
Doch im Zürcher Brunaupark hat sie eine neue Heimat gefunden. Von hier aus konnte sie auch eine zweite Karriere lancieren, als Sportlehrerin für verschiedene Institutionen und Gruppierungen.
Ein Stück weit erinnert die Siedlung mit mehreren hundert Wohnungen – die trotz Abrissplänen noch immer stehen – sogar an ihr verlorenes Zuhause in Bagdad. Im nahen Migros-Einkaufszentrum treffen jüdische Familien aus der Nachbarschaft auf muslimische Einwanderer aus dem Nahen Osten. Aviva kennt sie alle, und alle kennen Aviva – egal, ob Christ, Jude, Muslim oder nichts von allem. Aviva Ballas unterhält sich mit ihnen, auf Deutsch, Englisch, Hebräisch oder Arabisch.
Die syrischen Nachbarn nennt sie ihre Habibi, und manchmal, wenn sie einem von ihnen in die Augen schaut, erkennt sie darin ihren Vater.
Und wenn sie auf dem Balkon ihrer Wohnung im zweiten Stock steht, kann sie jederzeit die Wohnungen ihrer drei erwachsenen Kinder und der sechs Enkelkinder überblicken. Die ganze Familie lebt in Sichtdistanz – fast wie damals in Bagdad.
Neuer Spielfilm zum Münchner Olympia-Attentat
Derzeit läuft im Kino der Spielfilm «September 5». In einem packenden Drama zeigt der Schweizer Regisseur Tim Fehlbaum, wie die Sportjournalisten des amerikanischen TV-Senders ABC am 5. September 1972 um die Bilder der Geiselnahme im olympischen Dorf in München ringen. Wenn in den kommenden Tagen in Los Angeles die Nominationen für den Oscar bekanntgegeben werden, wird «September 5» auf der Shortlist für den besten Film erwartet.