Wohl über 100 000 Menschen sind vor dem Krieg aus dem Gazastreifen nach Ägypten geflohen. Die meisten haben bis auf ihr Leben alles verloren. Sie trauen der Feuerpause nicht.
Als der Waffenstillstand am Mittwochabend verkündet wird, steht Nasrin Dahlan in ihrer Küche in Kairo und kocht für ihre fünf Kinder. «Dann rief mich meine Schwester aus Gaza an», erzählt sie am Tag darauf. «Ich brach in Tränen aus.»
Nasrin sitzt auf einer alten Matratze. Ihr Ehemann Salama Dahlan lehnt an der Wand, wegen eines gebrochenen Beines kann er sich kaum bewegen.
Seit etwas mehr als einem Jahr lebt die Familie in Kairo. Ein Zuhause ist die Stadt bisher nicht geworden. In Ägypten haben sie keinen Aufenthaltsstatus. Eingereist sind sie mit einem temporären Visum, das längst abgelaufen ist. Die Eltern dürfen nicht arbeiten, die Kinder können keine öffentlichen Schulen besuchen. Die Dahlans fürchten, dass die ägyptischen Behörden sie nach Gaza zurückschicken könnten, falls der Waffenstillstand hält.
Die palästinensische Botschaft in Kairo schätzt, dass seit Kriegsbeginn im Oktober 2023 über 100 000 Menschen aus dem Küstenstreifen nach Ägypten eingereist sind. Die Flucht ist teuer: Mindestens 5000 Dollar, so wird berichtet, mussten Erwachsene für eine Ausreise bezahlen. Das Geld ging meistens an die ägyptische Firma Hala, die eng mit der Regierung verbunden sein soll und die Visa organisiert hat. Wie viel die Dahlans bezahlt haben, wollen sie nicht verraten. Sie haben sich das Geld grösstenteils geliehen.
So wie die meisten geflohenen Palästinenser plant die Familie keine freiwillige Rückkehr. «Nicht, wenn die Hamas wieder die Macht übernimmt», sagt die 37-jährige Mutter Nasrin entschieden. «Denn dann wird es einen weiteren Krieg geben.» Das nun vereinbarte Abkommen sichert den Islamisten voraussichtlich das politische Überleben.
Die Dahlans stammen aus der Grossfamilie von Mohammed Dahlan, dem früheren Polizeichef der säkularen Fatah im Gazastreifen, bevor die Hamas 2007 die Macht an sich riss. Sie verachten die Islamisten, die Gaza in die Katastrophe gestürzt haben.
«Vor dem Krieg lebten wir im Luxus»
Trotz den Zukunftssorgen sind sie wegen des Waffenstillstands erleichtert. Ihre noch lebenden Familienangehörigen befinden sich in Khan Yunis, ihrer Heimatstadt im südlichen Gazastreifen. Salama hat im Krieg seinen Bruder und einen Cousin verloren. Auch eine Nichte und ein Neffe von Nasrin haben die Bombardements nicht überlebt. Beide waren noch Kinder.
Als sie von ihrem Tod erfuhren, beschlossen Salama und Nasrin, Gaza zu verlassen.
Mohammed, der Jüngste, wurde vier Tage vor dem Massaker der Hamas geboren, am 3. Oktober 2023. Heute stapft der Einjährige in Windeln durch die Wohnung. Immer wieder ertönt aus den anderen Zimmern Kindergeschrei. Nasrin ruft nach der 13-jährigen Eliana, ihrer Ältesten. Sie soll sich um die Geschwister kümmern.
Erst vor wenigen Wochen ist die Familie nach Nasr City im Osten Kairos gezogen, früher ein Quartier für die aufstrebende Mittelschicht. Ihre vorherige, möblierte Wohnung wurde ihnen zu teuer. Die braunen Wohnblöcke aus den sechziger Jahren haben bessere Zeiten gesehen. Viel mussten sie nicht zügeln. Die Familie besitzt nur wenig, darunter gespendete Kleider, die noch in Plastiksäcken verpackt sind. Ausser den Matratzen und den Sofas im Wohnzimmer sind die Räume so gut wie leer.
Die Dahlans sind auf Zuwendungen von Freunden und lokalen Hilfsorganisationen angewiesen. «Vor dem Krieg lebten wir im Luxus», sagt Salama. Sie hatten ein Auto und wohnten in einem Duplex-Apartment in Khan Yunis auf über 200 Quadratmetern. Der 43-jährige Vater arbeitete als Politikwissenschafter in einem palästinensischen Forschungszentrum.
Mit dem Krieg war dieses Leben auf einmal vorbei. Im Dezember 2023 flohen sie in den Süden. Mitnehmen konnten sie nichts. In Rafah lebte die siebenköpfige Familie dann 25 Tage auf der Strasse. An manchen Tagen hatten sie lediglich eine Dose Bohnen für die ganze Familie zu essen.
«Wir hatten die ganze Zeit Angst, von den Bomben getroffen zu werden», sagt Salama. Wenn ihr Mann vom Leben in Gaza erzählt, schaut Nasrin mit leerem Blick nach draussen, als ziehe die Vergangenheit an ihr vorbei.
Von Bomben zerfetzte Familienangehörige
Die Gaza-Flüchtlinge in Ägypten fallen durch jedes Raster. Denn das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ist für palästinensische Flüchtlinge nicht zuständig, das ist die Domäne des Palästina-Hilfswerks UNRWA. Die UNRWA hat allerdings kein Mandat in Ägypten.
Es sei schwierig, sich um die Kinder zu kümmern, die traumatisiert seien, erzählt Nasrin. Ihr Mann war ihr für einige Zeit keine Hilfe. Er sei nach dem Tod seines Bruders depressiv geworden, habe immer wieder Wutausbrüche gehabt, erzählt Salama.
Grosse Sorgen machten sich die Eltern auch um den 9-jährigen Ayham. Er hatte aus 40 Meter Entfernung zugeschaut, wie eine Bombe seinen Onkel und dessen Sohn zerfetzte. Seither leidet er unter posttraumatischem Stress. Über Wochen zeigte Ayham keinerlei Emotionen, schlief und ass nicht, bis er an Unterernährung litt. Heute geht es dem Jungen besser, dank ärztlicher Unterstützung, die eine befreundete Ärztin der Familie vermittelt hatte.
Vorerst werden die Dahlans in Kairo bleiben. «Etwas anderes bleibt uns nicht übrig», sagt die Mutter Nasrin. Ihr Traum ist es, nach Europa auszuwandern. «Hier haben wir keine Zukunft, wegen unseres Status», fügt ihr Ehemann hinzu.
Für die Zukunft des Gazastreifens sieht Salama Dahlan schwarz. «Wenn nun mehr Hilfslieferungen hereinkommen werden, wird die Hamas den Grossteil davon für ihre Leute behalten und den Rest zu hohen Preisen verkaufen – so werden sie sich finanzieren und die Macht behalten.»
5000 Dollar für die Ausreise
Ähnlich sehen es auch Heba Agha und Rabah Kamel, die im April gemeinsam mit ihren zwei Kindern aus dem Gazastreifen nach Ägypten flohen. Sie gehörten zu den Letzten, die noch hinauskamen. Nachdem Israel im Mai seine Offensive auf die Stadt im Süden des Gazastreifens begonnen hatte, besetzte es den Grenzübergang Rafah, der seitdem geschlossen ist.
«Wir haben je 5000 Dollar für uns beide bezahlt und 2500 pro Kind», sagt Heba Agha in ihrer kleinen Wohnung im Südwesten Kairos. Der Putz bröckelt herunter, und sobald mehr als drei Menschen im Wohnzimmer sind, kommt man sich unausweichlich in die Quere. 52 Tage haben Rabah Kamel und Heba Agha in Rafah gewartet, bis sie endlich die Grenze passieren konnten. Der Übertritt glich einer Szene aus einem dystopischen Film.
Bevor sie die ägyptische Seite erreicht hätten, sei eine israelische Drohne über ihnen geflogen, erzählt der 42-jährige Rabah. «Die Drohne hat uns über Lautsprecher angewiesen, wo wir hingehen dürfen, und uns aufgefordert, das Gepäck zu öffnen.» Wenn sie nicht Folge geleistet hätten, wären sie erschossen worden, glaubt der Vater. Nach stundenlangen Kontrollen durch ägyptische Grenzbeamte seien sie endlich auf der anderen Seite angekommen und dort von einem Bus abgeholt worden.
«Jetzt stecken wir hier in Kairo fest, wir sind illegal im Land», sagt Heba Agha. Wenigstens kann die Mutter von Kairo aus noch ihrer Arbeit bei einer Kulturstiftung nachgehen. Seit dem Krieg arbeitet sie online für die Zweigstelle in Ramallah. Ihre 11-jährige Tochter und ihr 14-jähriger Sohn folgen dem Online-Unterricht einer palästinensischen Schule im Westjordanland.
Keine Rückkehr in den Gazastreifen
Rabah Kamel arbeitete vor dem Krieg als Zahnarzt in einer privaten Klinik. «Ich war ein wohlhabender Mann, jetzt bin ich arbeitslos», sagt er, als er sich eine Zigarette auf dem winzigen Balkon anzündet. Er träume oft davon, in seine Klinik nach Gaza zurückzukehren. Wie Rabahs Familie stammen viele der Gaza-Flüchtlinge in Ägypten aus der palästinensischen Oberschicht – nur sie konnten sich die teure Ausreise leisten.
Ihr Mann müsse aufhören, an der Vergangenheit festzuhalten, mahnt Heba. «Ich bin eben stur, ich will zurück nach Gaza», entgegnet dieser. Doch trotz Rabah Kamels Nostalgie ist beiden klar, dass sie ebenfalls nach dem Waffenstillstand nicht zurückkehren werden.
«Die Hamas ist immer noch überall, sie kontrolliert Gaza», ist sich Rabah Kamel sicher. Einige ihrer eigenen Angehörigen seien Hamas-Mitglieder, es gebe weiterhin Unterstützung für die Islamisten. «Mein Bruder arbeitete für die Hamas-Regierung», sagt Heba Agha. «Obwohl er seit dem Krieg kein Gehalt mehr bekommt, liebt er das Regime immer noch.» Viele Menschen in Gaza sähen die Hamas weiterhin als die Einzigen, die etwas gegen den Erzfeind Israel ausrichten könnten.
Doch nicht nur wegen der Hamas werden sie vorerst in Kairo bleiben. Das Familienhaus in Gaza-Stadt stehe zwar bis heute noch und sei nur beschädigt, erzählen sie. Darum herum gebe es aber weder Schulen noch Spitäler in dem nahezu vollständig zerstörten Küstenstreifen. Es wird Jahre dauern, bis allein der Schutt weggeräumt ist.
«Israel hat uns zurück in die Vorzeit gebombt», sagt Rabah. «Es gibt kein Gaza mehr.» Beim Wiederaufbau des zerstörten Küstenstreifens wollen beide allerdings zunächst nicht helfen. «Vielleicht ist es egoistisch», sagt Heba Agha. «Aber ich habe einfach nicht die Kraft, in solchen Bedingungen zu leben.»