Das Gerichtsdrama ist ausgetüftelt. Genau besehen, erzählt der obrigkeitskritische Filmemacher vom gespaltenen Amerika. Und klagt subtil das linke Lager an.
Er ist Jahrgang 1930. Ende Mai feiert Clint Eastwood seinen 95. Geburtstag. Ein Filmemacher, fast so alt wie der Tonfilm. Beweisen muss er längst nichts mehr. Aber nach «Cry Macho» von 2021 war sich der Regisseur und Schauspieler selber noch etwas schuldig.
Mit dem durchwachsenen Neo-Western wollte Eastwood nicht abtreten. Laut dem «Hollywood Reporter» habe er ein letztes Projekt gesucht, «um erhobenem Hauptes in den Sonnenuntergang zu reiten».
Dieses Projekt ist «Juror #2». Der Star spielt zwar nicht mit, aber nach der holprigen Inszenierung von «Cry Macho» rehabilitiert er sich als Regisseur. Der neue Film ist sehr gut, ein raffiniertes Gerichtsdrama.
Der Prozess wird zum Albtraum
Im Zentrum steht Justin Kemp (Nicholas Hoult). Ein Mann Mitte dreissig, adrett, unaufgeregt. Kemp wird berufen, als Geschworener in einem Mordprozess zu dienen. Das Aufgebot kommt ungelegen, die Ehefrau erwartet das erste Kind. Weil es eine Hochrisikoschwangerschaft ist, wäre der besorgte Gatte gerne zu Hause bei der werdenden Mutter. Aber er muss seiner Bürgerpflicht nachkommen.
Hoffentlich gibt es einen kurzen Prozess, denkt er. Stattdessen wird die Verhandlung zu einem Albtraum, aus dem es für Kemp kein baldiges, frohes Erwachen gibt.
Angeklagt ist der tätowierte Hitzkopf James Sythe (Gabriel Basso). Nach einem Streit in der Spelunke soll Sythe seine Freundin Kendall Carter (Eastwoods Tochter Francesca Eastwood) umgebracht haben. Die blonde Schönheit wurde nahe der Bar tot unter einer Brücke gefunden. Allem Anschein nach ist Sythe der davonstürmenden Frau nachgefahren, dann hat er sie erschlagen und in den Abgrund gestossen.
Für die ambitionierte Anklägerin (Toni Collette) verspricht der Fall den Aufstieg zur Bezirksstaatsanwältin. Siegessicher bringt sie vor Gericht die Anhaltspunkte gegen James Sythe vor. Die Indizien sind erdrückend.
Doch der Angeklagte beteuert seine Unschuld. Und Justin Kemp kommt ein fürchterlicher Gedanke. Der Geschworene erinnert sich daran, dass er in jener Nacht nicht nur in derselben Bar sass wie der Verdächtige. Vor allem war er auf der Fahrt nach Hause auf nächtlicher, regennasser Strasse mit etwas kollidiert. Ein Reh, so dachte er damals. Im Dunkeln konnte er nichts erkennen. Womöglich war es aber gar kein Tier gewesen, dämmert es Justin Kemp nun. Nicht auszuschliessen, dass er die junge Kendall Carter umgefahren hat.
In der Zwickmühle
Das Drehbuch von Jonathan Abrams schöpft die Spannung zunächst klassisch aus der Frage, was vorgefallen ist: Wer ist für den Tod der Frau verantwortlich, Justin Kemp oder James Sythe? Sehr wahrscheinlich ist es Kemp, denn der Geschworene realisiert, dass die Kollision auf der Brücke stattfand, unter der die Leiche gefunden wurde.
Er ist in der Zwickmühle. Die übrigen Geschworenen sind überzeugt davon, dass Sythe schuldig ist. Schliesst sich Kemp ihnen an, ist das Urteil gefällt. James Sythe würde wohl lebenslänglich bekommen. Aber Kemp hätte einen mutmasslich unschuldigen Mann hinter Gitter gebracht.
Tritt er hingegen mit seiner eigenen möglichen Schuld hervor, ruiniert er wohl sein Leben. Das Familienglück wäre zerstört, noch bevor sein Kind geboren ist. Dieses würde ziemlich sicher ohne Vater aufwachsen. Denn Kemp hätte seinerseits mit einem harten Urteil zu rechnen. Er ist nämlich gar kein so makelloser Mann, wie es den Anschein hat. Er ist ein trockener Alkoholiker. Und der Umstand, dass er an jenem Abend in der Spelunke sass, deutet darauf hin, dass er einen Rückfall hatte. Sollte er in alkoholisiertem Zustand einen tödlichen Verkehrsunfall verursacht haben, wäre das Strafmass kaum auszudenken.
Gar noch verzwickter wird die Lage, als einem der anderen Geschworenen plötzlich Zweifel an James Sythes Schuld kommen. Der Mann (J. K. Simmons), stellt sich heraus, ist ein ehemaliger Polizist. Als solcher kann er es nicht lassen: Er stellt Nachforschungen an. Kemp steckt immer tiefer in der Klemme.
Der politische Subtext
«Juror #2» ist vordergründig eine Variation von Sidney Lumets Gerichtsklassiker «12 Angry Men» (1957). Darin hat der von Henry Fonda gespielte Geschworene als einziger Zweifel an der Schuld eines Angeklagten. Nach und nach bringt er seine Kollegen zum Umdenken. Der Unterschied zu Lumets Film ist freilich, dass Kemp weiss, dass der Angeklagte wohl unschuldig ist, weil er selber der Schuldige ist.
Der innere Konflikt muss den Mann zerreissen. Ein psychologisch ausgetüfteltes Gerichtsdrama gestaltet sich, ein besserer Grisham. Doch das allein ist es nicht, was den Film zu einem würdigen Schlussakt in der Karriere von Clint Eastwood macht. In «Juror #2» steckt mehr. Klassisch Eastwood, schwingt ein autoritätskritischer Subtext mit. Die Geschichte lässt sich politisch lesen.
Sie spielt in einer mittelgrossen Stadt im Gliedstaat Georgia. In einem Swing State also. Da, wo sich das gespaltene Amerika am extremsten zeigt. James Sythe und seine Freundin sind, was Hillary Clinton einst abschätzig als «deplorables» bezeichnet hat. Leute aus beklagenswerten, bildungsfernen Schichten, solche vom ungehobelten Typ. Die Spelunke, in der es zum wüsten Streit kommt, trägt den sprechenden Namen «Rowdy’s».
Auf der anderen Seite: Justin Kremp. Ein leiser, freundlicher Mann. Bei der Vorstellung der Geschworenen gibt er an, als Journalist bei einem Gesellschaftsmagazin zu arbeiten. Der Angeklagte Sythe steht dagegen am Rand der Gesellschaft. Als Jugendlicher war er in einer Gang aktiv. Welten trennen die beiden. Kemp beschäftigt sich mit Lifestyle-Themen. Im politischen Spektrum möchte man ihn instinktiv linksliberal verorten.
Kritik am linken Milieu
Eastwood drängt dem Zuschauer keine Lesart auf, aber man ist geneigt, «Juror #2» als Parabel zu verstehen: Vor Gericht treffen die zwei Amerikas aufeinander. Angeklagt ist Kernamerika, das Land der Trump-Wähler. Über sie richtet mit Justin Kemp ein Vertreter des progressiven Lagers. Dieses fühlt sich moralisch überlegen. Doch stellt sich heraus, dass es womöglich blind war für die eigenen Vergehen. Und der Angeklagte mag ein Rowdy sein. Aber deswegen ist er nicht automatisch ein Kapitalverbrecher, der weggesperrt gehört.
So interpretiert, ist «Juror #2» eine Kritik an der Selbstgefälligkeit eines linksliberalen Milieus, ohne gleichzeitig die rechte Trump-Klientel reinzuwaschen. Die Auslegung liegt auf der Hand bei Clint Eastwood. Links ist er sicher nicht. In der progressiven kalifornischen Industrie gilt der Filmemacher vielen als rechter Nestbeschmutzer. Schon länger fremdelt Hollywood mit Eastwood.
In den vergangenen Jahren hat er sich sowohl gegen Barack Obama als auch gegen Hillary Clinton ausgesprochen. Bei Donald Trump ist er ambivalent. In einem Interview mit «Esquire» sagte Eastwood 2016, dass Trump teilweise «dumme Dinge» verzapfe, er ihn aber ein Stück weit auch verstehen könne. Im Duell Clinton contra Trump tendiere er notgedrungen zu Letzterem, fügte er hinzu. Allerdings ruderte er kurz darauf in der «Los Angeles Times» zurück und bescheinigte beiden Kandidaten unisono «einen gewissen Grad an Unzurechnungsfähigkeit».
Nach eigener Aussage fühlt sich Eastwood bei keiner Partei aufgehoben. Er sei libertär, pflegt er zu sagen, «was so viel heisst wie: Lasst die Leute in Ruhe.» Eastwood schätzt die Eigenbrötelei. Das bezeugen auch seine Filme. Mit Vorliebe verleibt er sich einzelgängerische Gestalten ein. Der Fotograf aus «The Bridges of Madison County», der das Weite sucht. Der Boxtrainer aus «Million Dollar Baby», der sich alleine durchs Leben schlägt. Einer wie Walt Kowalski auch, der knurrende Korea-Veteran aus «Gran Torino»: Mit dem Gewehr im Anschlag wacht er über seinen Vorgarten.
Sein Kino ist Anti-Establishment
Clint Eastwood gefällt sich in der Rolle des radikalen Individualisten. Den Institutionen traut der Filmemacher nicht. Sein Kino ist Anti-Establishment. In jüngeren Jahren, sagen wir vor 85, nahmen Eastwoods Figuren das Gesetz geflissentlich selbst in die Hand. Mit «Dirty Harry» hat er sich 1971 in der Rolle des Rächers etabliert. Faustrecht blieb sein Thema.
Über die Jahre setzte er mehr Zwischentöne. Im meisterhaften Drama «Mystic River» (2003) trifft die Selbstjustiz den Falschen. Doch der amerikanischen Gerichtsbarkeit gab er nie viel Kredit. Jede Autorität scheint verdorben, bis hoch zum Präsidenten in «Absolute Power» (1997).
Mit «Juror #2» kalibriert er den Kompass noch einmal neu. Kein hemdsärmeliger Kämpfer für die Gerechtigkeit, aber auch kein Bösewicht biegt sich das Gesetz zurecht. Nicht das System steht am Pranger. Die Institutionen sind intakt. Aber gewöhnliche Menschen machen menschliche Fehler. Vorurteile machen blind.
Versteht man den Film als weiter greifenden Gedanken zur Lage des Landes, liegt darin seine Klugheit: Er nimmt den Einzelnen in die Pflicht. Clint Eastwood, Jahrgang 1930, hat einen wahrlich altersweisen Film realisiert.