Der Freisinn hat seine erste Delegiertenversammlung des Jahres dazu genutzt, dem zunehmenden Sozialpopulismus den Kampf anzusagen. Es brauche, sagte der Parteichef Thierry Burkart, einen Politikwechsel.
Vor etwas mehr als drei Jahren hatte die Sozialdemokratische Partei der Schweiz eine Idee. Sie wollte eine Service-public-Revolution anstossen: kostenlose Kinderkrippen, mehr AHV, eine Erwerbsversicherung und höhere Löhne für Pflegepersonal.
Konkret forderte die SP an ihrem Parteitag vom 29. August 2021 in St. Gallen:
- Die Einführung einer Allgemeinen Erwerbsversicherung.
- Den Ausbau der Sozialhilfe, solange die Allgemeine Erwerbsversicherung noch nicht eingeführt ist.
- Eine öffentliche Krankenkasse mit einkommensabhängigen Prämien.
- Eine Prämienentlastung privater Haushalte, so dass sich die Krankenkassenkosten auf maximal 10 Prozent des Einkommens belaufen.
- Einen nationalen Mindestlohn und mindestens einen 90-Prozent-Anteil an Gesamtarbeitsverträgen. Verstaatlichung und ausreichende Finanzierung von Pflege- und Betreuungsleistungen.
- Eine Aufwertung der Gesundheitsberufe samt höheren Löhnen und Gesamtarbeitsverträgen in den Regionen.
- Familienergänzende Kinderbetreuung als Service-public-Leistung für alle.
- Die Förderung einer staatlichen Pharmaproduktion samt Abschaffung des Patentschutzes. Höhere Unternehmenssteuern.
In einem Interview mit «Blick Romandie» sagte der SP-Co-Präsident Cédric Wermuth, in der Pandemie habe man gesehen, wer in diesem Land wirklich Wohlstand schaffe: «Es sind nicht die Manager in Gucci oder Prada, sondern die Menschen, die jeden Tag um acht Uhr morgens aufstehen, um den Haushalt zu machen, die Kinder zu erziehen, all das zu tun, was man unter dem Begriff ‹Care› versteht.»
«Konsumieren, ohne zu bezahlen»
Der Spott liess nicht lange auf sich warten. Denn wenn Wermuths Service-public-Klientel offenbar noch im Bett liegt, ist die Mehrheit der Bevölkerung schon lange wach: Kinder wecken und für die Schule parat machen, Aktentasche packen, Werkzeugkasten nehmen, in den Stall, aufs Feld, auf den Zug rennen, zum Tram hetzen, die Werkstatt, das Büro aufschliessen.
An ihrer Delegiertenversammlung von Samstag in Bern hat die FDP deshalb nicht nur die Nein-Parole zur Umweltverantwortungsinitiative beschlossen, sondern auch eine Gegenrevolution ausgerufen. Die Schweiz kippe zusehends nach links, sagte der FDP-Präsident Thierry Burkart. Die Gemeinschaft zerfalle immer stärker in verschiedene Anspruchsgruppen, die mehr Leistungen vom Staat forderten. «Sie wollen», sagt er, «konsumieren, ohne zu bezahlen.»
Die Schweiz brauche deshalb dringend einen Politikwechsel, und für diesen Wechsel wolle die FDP kämpfen: «Wir kämpfen für alle, die den Wecker stellen!» Die Freisinnigen machten Politik für die stille Mehrheit, die Tag für Tag ihre Pflicht erfülle. Für alle Menschen, die sich in Beruf, Familie und Gesellschaft engagierten.
Daran knüpfte auch Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter an, die im Gespräch mit dem Ständerat Andrea Caroni betonte, dass sie einer Ostschweizer Wirtefamilie entstammt. Dort habe sie die Sorgen der Gewerbetreibenden hautnah mitbekommen, und das präge sie heute noch.
Die Schweiz ist auf den Werten der Liberalen und Freisinnigen aufgebaut. Nun macht sich die Partei, die den modernen Bundesstaat aufgebaut hat, daran, diese Werte mit neuem Schwung zu verteidigen. Die FDP hat bei den nationalen Wahlen 2023 die bitterste Niederlage ihrer Geschichte erlebt, nun könnte die Talsohle erreicht sein.
Bei den kantonalen Wahlen konnte die FDP jüngst leise Erfolge verbuchen. Der Kurswechsel, den der Parteichef Burkart angestossen hat, zahlt sich langsam aus. Die Bürgerinnen und Bürger sorgen sich um die Folgen der Asylpolitik. Sie sorgen sich um die Zukunft der Volksschule, den Wohlstand des Landes und die Zuwanderung. Die FDP hat das erkannt.
Abgrenzung gegen Mitte und SVP
Die Mitte hat der FDP in den vergangenen Tagen den Gefallen gemacht, in Partikularinteressen zu zerfallen. Von dieser Seite droht dem Freisinn eine Weile keine Gefahr mehr. Offen ist, wie der Freisinn seine Beziehung zur SVP gestalten will. Denn auch die Schweizerische Volkspartei bekam in Bern ihr Fett weg. Der Sozialpopulismus, der das Land erreicht hat, habe auch die Basis der SVP erreicht, hiess es. Man habe das bei der Abstimmung über die 13. AHV-Rente gesehen, bei der Abstimmung über die Berufsvorsorge oder bei der Abstimmung über den Ausbau des Nationalstrassennetzes.
Finanz- und wirtschaftspolitisch arbeiten SVP und FDP gut zusammen, im Bundesrat scheint es zwischen den beiden Freisinnigen und den beiden SVPlern gut zu klappen. Doch es gibt auch grosse Unterschiede. Die FDP ist weltoffener als die SVP, sie ist liberaler und, laut Thierry Burkart, auch bürgerlicher.
Die grosse Feuerprobe wird die Haltung des Freisinns zum geplanten Vertragswerk mit der EU sein. Schafft es die Partei, sich in dieser Frage entweder nicht spalten zu lassen oder die Spaltung als natürliche Folge einer liberalen Partei zu erklären, sind die politischen Aussichten für die kommenden Jahre so gut wie schon lange nicht mehr.