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Rund 300 Kunstwerke aus 137 Ländern hängen, stehen oder schweben in den Sälen, Gängen und Parkanlagen des Uno-Hauptquartiers: von einem Picasso-Wandteppich über antike Artefakte bis zu einem erregten Elefanten. Geschätzter Wert der Sammlung: eine Milliarde Franken.
Ginge es bei der Organisation der Vereinten Nationen (Uno) nach der Kunst, wäre der Weltfrieden längst erreicht. Pistolenläufe würden verknotet, Schwerter verwandelten sich in Pflugscharen, Raketenköpfe lägen verrostet da. Jeder Mensch würde jeden anderen wertschätzen, ungeachtet der Hautfarbe, der Religion oder der Nationalität. 298 Kunstwerke, Einrichtungen und Artefakte, Geschenke von 137 Mitgliedstaaten sowie einigen Stiftungen und Privatpersonen, vermitteln im und rund um das Hauptquartier der Uno solche Botschaften. Sie widerspiegeln die Ziele der Vereinten Nationen, allen voran deren höchstes: international Frieden und Sicherheit zu wahren.
Schon draussen durch die Gitterstäbe ist die verknotete Pistole des schwedischen Bildhauers Carl Fredrik Reuterswärd zu sehen: seine Reaktion auf den gewaltsamen Tod von John Lennon. Dieses Sinnbild, das jeder in einer Viertelsekunde begreift, ist das vermutlich am häufigsten fotografierte Kunstwerk der Sammlung. Dessen Humor tut der Uno-Kunst gut, denn auch das Pathos kommt hier nicht zu kurz.
Unübersehbar ist der 40 Tonnen schwere heilige Georg, der auf dem Rasen der Uno reitend einen doppelköpfigen Drachen erledigt hat. Der Körper des Monsters besteht aus den Überresten einer sowjetischen SS-20-Rakete und einer amerikanischen Pershing-Rakete. Dieses Ungetüm des sowjetischen Realismus namens «Good Defeats Evil» (das Gute besiegt das Böse) soll an den Vertrag über die Abschaffung nuklearer Mittel- und Kurzstreckenraketen erinnern. 1990 hat es die damalige UdSSR der Uno geschenkt; zum hoffnungsvollen Ende des Kalten Kriegs.
Der 40 Tonnen schwere Heilige Georg von Zurab Tsereteli auf dem Rasen der Uno, ein Geschenk der UdSSR (links); Uno-Hauptquartier in New York.
Doch niemand ahnte, dass innerhalb der Friedensskulptur die verschiedenen Metalllegierungen der Raketen einander weiter kalt bekriegen würden. Sie begannen zu rosten, so dass der heilige Georg zusammenzubrechen drohte und die Skulptur abgesperrt werden musste – bis Russland für ihre Restauration aufkam. Solche Anekdoten kennt Werner Schmidt, Koordinationsbeauftragter der Uno. Der freundliche Herr mit der dunkelroten Fliege und der Baskenmütze gibt eine Privattour durch die Sammlung. Und zwar auf Deutsch: Werner Schmidt stammt aus Oberfranken und arbeitet seit fast zwanzig Jahren für die Vereinten Nationen.
Meisterwerke auf Tuchfühlung
Wir betreten die hohe Eingangshalle. «Die wurde so konzipiert, dass man beim Reinkommen erst einmal denkt: ‹Wow!›», sagt Werner Schmidt. 1952 wurde der Uno-Gebäudekomplex eröffnet, entworfen von einem Architektenteam, in welchem Le Corbusier und Niemeyer die prominentesten Vertreter ihrer Zunft waren. Hier begrüsst uns mit ausgestreckten Händen ein lebensgrosser Nelson Mandela – neben Gandhi nur eine von zwei politischen Persönlichkeiten unter den Statuen. Denn solche sind normalerweise als Schenkung nicht erlaubt – sie könnten einen der Mitgliedstaaten provozieren.
Über uns schwebt Sputnik, genauer: eine lebensgrosse Replika des Satelliten – der echte ist 1958 nach 1400 Erdumrundungen in der Atmosphäre verglüht. An der linken Wand, hinter einer Poseidon-Statue, wärmen sich Männer, die Arme gegenseitig hinter den Rücken verschränkt, an einem enormen Feuer; das Wandgemälde «Bruderschaft» des mexikanischen Malers Rufino Tamayo ragt zehn Meter in die Höhe.
In diesem Bereich der Eingangshalle finden oft Apéros statt. Da hätten sich über Jahre Delegierte, Gläser in der Hand, immer wieder an dieses Gemälde angelehnt, erzählt Werner Schmidt. «Als die Mexikaner das Werk während einer Gesamtrenovation des Uno-Gebäudes für eine Weile zurücknahmen, waren sie entsetzt und fragten: ‹Wie seid ihr bloss darauf gekommen, ein solches Bild so exponiert aufzuhängen?›» Da habe seine Kommission in den Akten nachgeschaut und habe eine gute Antwort liefern können: Der Maler hatte es so gewollt.
«Wir haben hier Meisterwerke, um die uns jedes Museum der Welt beneidet», sagt Werner Schmidt, «aber ihre Ausstellung und Zugänglichkeit entspricht häufig nicht Museumsstandards.» So könne man hier der Kunst sehr nahe kommen. «Doch das tut der Kunst manchmal nicht gut.» Seit der Renovation steht eine hüfthohe Abschrankung vor dem Gemälde aus Mexiko; berühren kann man es trotzdem noch.
Offensichtlich kaputt, und zwar schon seit über zehn Jahren, ist eines der schönsten Stücke der Sammlung: Marc Chagalls blaue Glaswand mit seinen bunten Engeln, Menschen und Tieren. Sie ist übersät mit biblischen Referenzen; es geht um Liebe und den Kampf für den Frieden. Der Künstler war bei der Einweihung 1963 zugegen. Doch sechs der vierzig Fenster bilden schwarze Leerstellen im strahlenden Bild. Es gibt kein Land, das heute für dieses Werk zuständig ist, denn es war damals eine Schenkung von Uno-Mitarbeitern und Chagall selbst; entsprechend steht heute niemand für dessen Reparatur in der Pflicht. Stiftungen und andere Einheiten tendieren dazu, sich mit den Jahren aufzulösen. Und wenn ein Kunstwerk gewartet werden muss, ist plötzlich niemand mehr dafür da. Aus diesem Grund werden heute nur noch Schenkungen von Ländern angenommen.
Werner Schmidt führt uns durch das Labyrinth der Uno. Es geht rauf und runter, raus und wieder rein, wir nehmen zwei verschiedene Lifte und eine Rolltreppe. Besuchergruppen scharen sich um ihre Guides, Polizisten mit Hunden sichern die Zugänge zur Generalversammlung ab, Diplomaten treffen sich in der Delegiertenlounge zum informellen Kaffeegespräch. Überall hat es Kunst. Und hinter jedem Werk steht ein Stück Staats-, Kultur- und Uno-Geschichte. Eine offizielle Schätzung des Gesamtwerts wird bewusst vermieden, er dürfte gemäss einer anonymen Quelle aber bei ungefähr einer Milliarde Franken liegen.
Knapp werdender Platz
Da hängt das dunkle Tuch aus einer Tonne Rohseide, das ein Jahr lang in Mekka die Kaaba bedeckte. Dort steht hinter Glas das vermutlich älteste Artefakt der Sammlung, eine altägyptische Osiris-Skulptur von 700 v. Chr. Beeindruckend ist ein koreanischer Drucker von Anfang des 13. Jahrhunderts. Das Gerät ermahnt Europäer daran, dass die Koreaner bereits 200 Jahre vor der Gutenberg-Bibel den Buchdruck beherrschten. Dazwischen finden sich viele Kuriositäten. Ein Liebling fast aller ist der goldene Dodo aus Mauritius; ein Vogel, so lustig, lieb und zutraulich, dass er nach dem ersten Kontakt mit dem Menschen dem Aussterben geweiht war.
Zu Beginn suchte die Uno noch aktiv nach Kunst. Das Museum of Modern Art lieh ihr in den fünfziger Jahren einiges aus, damit die Räume nicht so kahl waren. Doch mittlerweile, fast 300 Kunstgeschenke später, ist der Platz äusserst knapp geworden. Man wisse kaum mehr wohin mit neuen Werken, sagt Werner Schmidt. Dabei gibt es 56 Mitgliedstaaten, die noch keines gespendet haben. Andere hingegen mehrere. China und die USA etwa sind augenfällig übervertreten. Wenn solche Mehrfachgeber wieder etwas stiften wollen, müssen sie ein älteres Werk zurücknehmen.
Die Schweiz hat der Uno immerhin ein Wartezimmer hinter der Generalversammlung sowie eine kleine Bronzestatue des Weltpostvereins (UPU), der in Bern ansässig ist, geschenkt. Den Saal für das mächtigste Gremium der Uno, den Sicherheitsrat, hat Norwegen gestaltet, von den farbigen Sesseln bis zur dunkelgrünen Tapete. Die Ratsmitglieder haben bei ihren Sitzungen permanent das Bild von Kriegselend und der Hoffnung einer besseren Zukunft vor Augen – in Form des Wandgemäldes des Norwegers Per Krohg.
Krieg ist auch das Erste, was die Diplomaten sehen, wenn sie die Halle der Generalversammlung betreten. Frieden das Letzte, wenn sie abends nach vielen Debatten und Verhandlungen die Halle westwärts wieder verlassen. Denn beim Aufgang zur GA-Halle hängen die zwei sich ergänzenden Bilder mit dem Titel «War and Peace» einander gegenüber. Diese Gemälde des Brasilianers Candido Portinari sind zwei Stockwerke hoch. «Ein visueller Rahmen für die Verhandlungen», heisst es auf der Uno-Kunst-Webseite. «Diese Werke sind wie ein Heiligtum für die Brasilianer», ergänzt Werner Schmidt.
Ein Rührei von Léger
Schlachthöfe standen früher auf diesem Grundstück, wo heute die Glasfassade des 39 Stockwerke hohen Sekretariatsgebäudes in der Sonne leuchtet. Man könnte keine bessere Metapher erfinden für eine Institution, die als Reaktion auf den Horror des Zweiten Weltkriegs gegründet wurde, um weitere Kriege zu verhindern. John D. Rockefeller Junior kaufte das Land für damals 8,5 Millionen Dollar – das entspricht heute rund 90 Millionen Dollar – und schenkte es der jungen Institution der Vereinten Nationen.
Derselbe Rockefeller steckt gemäss Werner Schmidt auch hinter dem anonymen Spender der abstrakten Kunstwerke von Fernand Léger in der Halle der Generalversammlung. Was sie darstellten, soll der Künstler einmal gefragt worden sein. Er habe keine Ahnung, soll Léger zur Antwort gegeben haben. Eine befriedigendere Antwort lieferte alsbald Präsident Harry S. Truman, der in der einen Wandmalerei ein Rührei, in der anderen Bugs Bunny sah. Und so werden die beiden Werke seitdem bezeichnet.
Die Rockefellers, eine der reichsten Familien der USA, sind bis heute eng mit der Uno verbunden. Der Nachkomme Nelson A. Rockefeller Junior hatte während der Pandemie offenbar Zeit, sein Inventar durchzugehen, und liess einen Wandteppich, den Picasso nach seinem bekannten Antikriegsbild «Guernica» in Auftrag gegeben hatte, abhängen. Plötzlich fehlte der Teppich allen Diplomaten, die daneben gerne ihre Pressestatements abgeben. 2022 brachte der Rockefeller-Spross den Behang als Dauerleihgabe wieder zurück. Er habe ihn nur reinigen lassen wollen.
Der Uno-Kunstausschuss – er besteht aus sieben hohen Beamten diverser Abteilungen – muss nicht jedes Geschenk dankbar annehmen. Ein Kunstwerk darf nicht gegen die Werte der Uno verstossen. Auch Nacktheit ist eher unerwünscht. Ungebetene Geschenke oder schlecht in die Sammlung integrierbare Werke landen im Keller, wo etwa sechzig Objekte verwahrt werden. Ein angenommenes Geschenk, das der Uno peinlich ist, wurde im hintersten Winkel des Gartens hinter Gebüschen gut versteckt: «The Sleeping Elephant» des Künstlers Mihail Simeonov wurde der Uno von Kenya, Namibia und Nepal zusammen geschenkt. Das Werk ist ein Abguss eines betäubten Elefanten. «Er hat wohl etwas sehr Schönes geträumt», so kommentiert Werner Schmidt diplomatisch die Grösse des Tiergemächts, das wie ein fünftes Bein unter dem Bauch des Tieres hervorragt.
Was ist eigentlich das Lieblingswerk des Uno-Koordinators? «Single Form», gibt Schmidt zur Antwort. Das ist eine abstrakte Skulptur der britischen Künstlerin Barbara Hepworth – und damit eines der wenigen Werke bei der Uno, die von weiblichen Kunstschaffenden stammen. Der elliptisch geschwungene Stein mit dem kreisrunden Loch steht bei der Einfahrt vor dem von Le Corbusier geprägten Sekretariatsgebäude. «Mir gefällt dieser Kontrast unglaublich», sagt Schmidt: «Das Sekretariatsgebäude ist Ratio, Vernunft, Klarheit. Und dann kommt diese subjektive, nicht geradlinige Form dazu. Das steht für das Individuelle, das diese ganze Organisation erträglich macht.»