Der dänische Choreograf Kim Brandstrup schafft in Zürich ein beeindruckendes Ballett nach Motiven aus den berühmten Märchen und aus dem Leben von Hans Christian Andersen. Behaglich wird einem dabei nicht zumute.
Die Welt des Hans Christian Andersen (1805–1875) ist düster und dunkel. Daran lässt der neue Ballettabend im Opernhaus Zürich von Anfang an keinen Zweifel. «Of Light, Wind and Waters» von Kim Brandstrup ist ein Ballett voller Sehnsucht – mit kaum einem Hoffnungsschimmer. Entsprechend dringt in diese schwarz-graue Welt wenig Licht, gerade genug, dass noch Schatten fallen.
Da ist namentlich der Schatten jenes gelehrten Mannes aus dem kalten Land im Norden, der im Süden Angst vor der eigenen Courage bekommt, als er im Nachbarhaus Musik zu hören und eine liebliche Frau zu erblicken glaubt. Also schickt er seinen Schatten vor. Der kommt nicht zurück. Und als er sich endlich nach langer Zeit wieder meldet, will er Mensch sein, den Spiess umdrehen und sich seinen Menschen als Schatten halten. Sie gehen zusammen auf Reisen, «der Schatten war Herr, und der Herr war Schatten». Schliesslich lässt der Schatten seinen Menschen hinrichten. So erzählt das der dänische Dichter in seinem Märchen «Der Schatten».
Motive aus Werk und Biografie
Wer die Geschichte kennt, wird sie in Kim Brandstrups Andersen-Ballett leicht wiedererkennen. Wem die Geschichte entgeht, der darf sich trotzdem auf verblüffende Begegnungen freuen. Das gilt für das ganze Ballett, aber ganz besonders für die Szenen aus «Der Schatten». Esteban Berlangas Tanz mit seinem Schattenbild grenzt an Zauberei: Gibt es einen, zwei, drei Schatten? Täuscht uns die stupende Technik des Tänzers, die Choreografie Brandstrups oder die gewiefte Lichtregie Martin Gebhardts? Später tanzt er mit seinem emanzipierten Schatten, doch der Zwietanz von Esteban Berlanga und Karen Azatyan ist nur noch halb so wild.
Zwischen den beiden Szenen liegen Welten: die Welt der Schneekönigin im hohen Norden und die Welt der Seejungfrauen auf dem Meeresgrund. Der dänische Choreograf verwebt die drei Märchen «Der Schatten», «Die Schneekönigin» und «Die kleine Meerjungfrau» mit der Biografie ihres Autors. Genauer: Er verwebt Fragmente der Märchen mit Motiven aus der Lebensgeschichte des Schriftstellers, der vor 150 Jahren, am 4. August 1875, in Kopenhagen starb. Aus den Märchen treten die wichtigsten Figuren auf, aus der Lebensgeschichte des Märchendichters die Mutter.
Hans Christian Andersen wuchs in armen Verhältnissen auf. Sein Vater war Schumacher und starb jung; seine Mutter war eine alkoholkranke Wäscherin. Als 14-Jähriger zog der Sohn nach Kopenhagen, wo er Schauspieler werden wollte und sich dank Förderern bilden konnte. Als er 1875 starb, waren seine Märchen weltberühmt und ein Denkmal in Kopenhagen bereits in Planung.
Seine Bindung an die Mutter soll stark gewesen sein. Kim Brandstrup gibt seinem Bühnen-Andersen nur die eine Person an die Seite, dazu die Figuren aus den Märchen. Fraglich scheint indes, inwiefern diese Beziehung den Dichter tatsächlich zum Fliegen brachte, wie der Schluss von «Of Light, Wind and Waters» andeutet. Da löst sich Lucas Valente als junger Andersen aus der Umarmung mit der Mutter, getanzt von Shelby Williams, und hebt von ihren Füssen ab in den Himmel. Neunzig Minuten davor ist er über Kopf und Schultern aus dem Bett gekullert, ist über den Boden gerollt, bevor er auf die Füsse kam. Jetzt fliegt er. Das kann als Andeutung an die Mythomanie des Hans Christian Andersen gelesen werden, der sich seine Lebensgeschichte schönschrieb und mehrmals überarbeitete.
Zwischen den beiden Szenen liegt ein Leben mit den Figuren. Der Autor schaut ihnen durchs Fenster oder von der Hausecke her zu. Von einem Hypochonder, der die Menschen auch nerven konnte, ist nichts zu sehen, nichts von der Zerrissenheit des Märchendichters. Lucas Valente ist ein Andersen, der beobachtet und mit den Figuren – und Wahrheiten – spielt. Richard Hudson hat dafür ein kongeniales Bühnenbild geschaffen mit zweimal zwei dunkelgrauen im rechten Winkel stehenden Wänden, die wie zwei Hälften zu einem Haus geschlossen werden können, aber auch geöffnet wie ein Buch.
Wieder und wieder schieben die Tänzerinnen und Tänzer die Wand vor sich her und schlagen so eine neue Seite auf. Eben hatte die Schneekönigin den Jungen Kay in ihren Schleier gehüllt. Nun spielt die kleine Meerjungfrau mit ihren Schwestern. Eben hat sich der Schatten im Haus der Poesie umgesehen, nun liebt der Prinz eine andere. Das sind harte Schnitte, die das Ballett nicht einfach zu lesen machen. Sie verhindern indes jegliches Aufkommen von Nostalgie oder gar Kitsch.
Schnitte und Schmerzen
Schnell wie die Szenen wird die Musik auf Tonträger durch das Ballett gepeitscht. Ian Dearden hat Kompositionen von Franz Schubert, Frédéric Chopin, Arnold Schönberg und anderen mit zeitgenössischer Musik von Hans Abrahamsen und Anna Clyne, mit traditioneller armenischer Musik und Klezmer sowie eigenen Klängen zu einer Collage verwoben. Darin sind die einzelnen Musikausschnitte nur noch da und dort zu erkennen. Der Umgang mit der Musik ist gewöhnungsbedürftig an einem Haus, in dem das Ballett während Jahrzehnten, erst unter Heinz Spoerli, dann unter Christian Spuck, grosse Musikwerke integral auf die Bühne brachte. Hier aber funktioniert die Fragmentierung erstaunlich gut, weil sie sich mit der rasanten Schnitttechnik der Erzählweise trifft und ebenso mit der Stimmung des Balletts.
Entsprechend dunkel sind auch die Bewegungen. Expressiv, bodennah – Kim Brandstrups frühe Verbindung zum amerikanischen Modern Dance ist deutlich sichtbar. Der Däne hatte an der London School of Contemporary Dance studiert und lebt seit fast vierzig Jahren in London. «Of Light, Wind and Waters» speist sich aber auch aus der Eleganz der klassischen Tänzer. Elena Vostrotina, technisch eine der besten Tänzerinnen in der Schweiz, hat als Schneekönigin eigentlich nur zu schreiten. Doch mit welcher Eleganz sie das tut – und mit welcher Kälte im Gesicht! Der scharfe Schmerz in den Füssen der kleinen Meerjungfrau, die auf unsichtbaren Messern geht, zieht sich bei Max Richter die Beine hoch, er taumelt gleichsam durch den Körper. Eigentlich hätte dieser Schmerztanz, passend zur Stimmung, das ganze Ballett über durchgehalten werden müssen.