«Gut gegen Nordwind» hat ihn berühmt gemacht. Eben erschien Glattauers neuer Roman «In einem Zug». Ein Buch über einen Liebesromanautor, der mit dem Sich-Verlieben abgeschlossen hat.
Der Moment kam auf einem Vulkan in Costa Rica. «Völlig unerwartet», sagt Daniel Glattauer. Es muss um 2009 gewesen sein, denn im Souvenirshop auf dem Berggipfel, hoch über dem Nebelwald, lag die eben erschienene Biografie von Barack Obama. Daneben kaum eine Handvoll weiterer besonders beliebter Bücher. Eines davon war die spanische Übersetzung von Glattauers Roman «Gut gegen Nordwind» (2006).
Eine Geschichte aus einer Zeit mit weniger guten Firewalls und mehr Vertrauen gegenüber den Dingen aus dem Internet: Emmi vertippt sich in der Adresszeile einer belanglosen E-Mail, Leo antwortet. Emmi vertippt sich erneut, Leo antwortet wieder – und irgendwann entsteht im virtuellen Raum so viel Vertrautheit zwischen den eigentlich Fremden, dass der analoge Alltag nicht mehr mithalten kann.
Ein digitales Liebesgespräch, ein moderner Briefroman, Millionen Mal verkauft, in vierzig Sprachen übersetzt. Fürs Kino verfilmt und mehrfach als Theater inszeniert. Glattauers Durchbruch. Damals auf dem Vulkan in Costa Rica begriff er ein bisschen, was das bedeutet.
Die goldenen Zeiten
Ein Panorama-Café knapp über Wien und mitten im Nebel. Es gibt Kaffee, und es gibt Kuchen, und dass die Aussicht fehlt, ist nicht weiter schlimm. Man blickt stattdessen auf das glattauersche Lebenspanorama, das sich über bald 65 Jahre erstreckt.
«Mir war dort oben auf dem Gipfel sehr bewusst, dass ich so etwas nur einmal erlebe», sagt Glattauer. Darum kaufte er sich sein übersetztes Buch – als Souvenir an das eigene Leben. Denn Glattauer versteht zwar kein Spanisch, dafür aber den Literaturbetrieb. Als «Gut gegen Nordwind» zum internationalen Erfolg wurde, war er über vierzig Jahre alt und hatte bereits sieben Bücher, davon drei Romane, publiziert. Dass er je davon würde leben können, sei ihm bis zu diesem Moment gar nicht erst in den Sinn gekommen. Vielleicht auch, weil er bereits ein erfolgreiches Berufsleben hatte.
Fast seit ihrer Gründung Ende der achtziger Jahre arbeitete Glattauer bei der österreichischen Tageszeitung «Der Standard». Die «goldenen Zeiten des Journalismus» seien das gewesen. Viel Lohn, viel Freiheit, ein bisschen Ruhm auch. Als Gerichtsreporter schrieb er über den Prozess des Mafiapaten Jeremiasz Baranski oder über jenen von Österreichs erstem und einzigem Serienmörder Jack Unterweger.
Zudem hatte Glattauer, Kürzel dag., eine Kolumne über Wiener Alltagskomik. «Damit bin ich irgendwie», er macht eine Pause. Das, was jetzt kommt, freut ihn noch immer: «Ich bin kultig geworden.» Die «Der Standard»-Leserschaft schnitt seine Kolumnen aus, sammelte sie in Mappen und klebte sie in Notizbücher.
Bitte mit Harmonie
«Ich dachte, Journalist bleibe ich für immer», sagt Glattauer im Panorama-Café. Nach Cappuccino und Espresso geht es nun weiter zur Kuchentheke. Einer der Kellner erklärt ausführlich, was einen unter welchem Schokoladenüberzug erwartet – und rät freimütig von den allzu trockenen Stücken ab. Man plaudert kurz, man lacht. «Sehr sympathisch», stellt Glattauer zurück am Tisch fest. Beinahe klingt er erleichtert.
Er sei, sagt Glattauer später, vielleicht etwas zu harmoniebedürftig. Dieser Eigenschaft ist es unter anderem geschuldet, dass «Gut gegen Nordwind» eine Fortsetzung bekam: Die Fans verlangten danach.
Erst habe er sich dagegen gewehrt, sagt Glattauer. Denn er schreibe nur jene Geschichten, auf die er wirklich Lust habe. Gleichzeitig lebt Glattauer ganz gut nach dem Credo: «Man kann es nie allen recht machen – aber schon recht vielen.» So schob er den Gedanken also hin und her, und schliesslich reizte ihn die Fortsetzung doch.
Als auch dieser Roman zum internationalen Bestseller wurde, kündigte Glattauer seine Festanstellung. Nach der Lesereise, viel Trubel, viel Applaus, vielen Begegnungen, kehrte er nicht in die Redaktion zurück, sondern setzte sich an den heimischen Schreibtisch – und wusste nicht, wie weiter.
Schliesslich begann Glattauer wieder zu studieren. Fünf Semester später war er ein diplomierter psychosozialer Berater. Und wieder am Schreiben. Liebesromane und Theaterstücke. Keine derartigen Erfolge mehr wie die beiden E-Mail-Romane. Aber das habe er auch nicht erwartet.
Wärmen statt Lodern
Glattauers neustes Buch, «In einem Zug», ist ganz ausdrücklich kein Liebesroman, sondern ein Roman über die Liebe. Metaebene statt Schmetterlinge. Liebesromane, wie sie ihn gross gemacht haben, mag Glattauer keine mehr schreiben: «Liebe und Beziehung, darauf blicke ich heute anders.»
Früher, da faszinierten ihn das Verlieben und der flirrende, fiebrige Zustand des Verliebtseins. Mehr als 4,5 Millionen Bücher hat Glattauer mit dem Beschreiben dieses Zustands verkauft. Übersetzt in einen Lebensstandard bedeutet diese Zahl: eine Mietwohnung an bester Lage, im 19. Bezirk von Wien, und ein Haus im niederösterreichischen Waldviertel, mit genug Platz für Feste und Freunde. Und weder Sorgen um das Monatseinkommen noch solche um die Rente haben zu müssen.
Heute also interessiert Glattauer sich weniger für das Lodern und mehr für die Wärme. Für das gemächliche Schaukeln des Fortbestehens einer langen Liebe. «Eine Verliebtheit in eine ruhige Beziehung übergehen lassen, ist viel schwieriger, als sich immer wieder neu zu verlieben», sagt er. Ihm und seiner Frau Lisi, seit zwanzig Jahren verheiratet und bereits doppelt so lange ein Paar, sei das gelungen. Gemeinsam haben sie Lisis Sohn aus erster Ehe grossgezogen und Glattauers Erfolg überstanden.
Aber weder in den Beziehungen selbst noch in der Gesellschaft spreche man über diese Veränderung des Liebens. «Dabei ist die fade Ehe schön, meiner Meinung nach sogar befriedigender als das Verliebtsein. Weil man es nicht einfach so haben kann, sondern daran arbeiten muss.»
Glattauer hält inne. «Daran arbeiten» gefällt ihm als Formulierung nicht. Abgedroschen. Wäre das ein Roman, müsste er nun feilen. In seinen Romanen gehe es ihm zu achtzig Prozent um die Sprache. Der Plot ist ihm eine Rankhilfe, an der sich die Sätze hochziehen können. Das spürt man bei «In einem Zug» besonders stark: einem Dialogbuch, das von den Kontern seiner Protagonisten, zweier Passagiere im Zug von Wien nach München, lebt. Nicht vom Kontext. Gespräch vor Geschichte.
Über das Buch
Ein Zwei-Personen-Theater
nad. Zwei Fremde im Zug von Wien nach München; ein alternder Autor und eine jüngere, auffällig neugierige Therapeutin namens Catrin Meyr. Man kommt ins Gespräch. «In einem Zug» ist ein Dialogroman, der sich wie ein Theaterstück liest. Der Autor Eduard Brünhofer, ein Literatur gewordener Glattauer, erinnert sich an jenen weit zurückliegenden Silvester, als er seine Frau Gina kennenlernte. An Liebe und Lust, an das gemeinsame Grossziehen eines Kindes, an Grenzen, die man erreicht, Gipfel, die man erklimmt, und das Alter, in das man gemeinsam gleitet. Und gerade, wenn man denkt, jetzt sei der Augenblick des Aussteigens erreicht, macht die Therapeutin ihre grosse Ansage. Obwohl Glattauer von der alten, beständigen Liebe erzählen will, tut er dies über den Umweg einer neuen Bekanntschaft. Eine Art Kompromiss zwischen Autor und Erzählkunst. Denn die Herausforderung einer langen Liebe sei, dass man die flirrende Verliebtheit zu einem soliden Fundament umwandle, sagt Glattauer im Nebel über Wien: «Das ist aber nun einmal nicht unbedingt der Stoff von grossen Romanen.»
Preise und Publikum
So oder so: Glattauer ist ein geschwätziger Schreiber. Seine besten Bücher sind nie Erzählungen, sondern immer Dialoge. Der Mensch Glattauer ist anders. Privat kommt Glattauer mit weniger Worten aus. Nur zwei gingen ihm etwa damals auf dem Gipfel in Costa Rica durch den Kopf: «So geil.» Wie er Kritik an seinen Büchern findet? «Scheisse.»
Er sei schon zartbesaitet, führt Glattauer dann doch aus. Auch dass die vielen Buchverkäufe nie zu einem grossen Preis führten, spricht er von sich aus an. Er sagt es so: «Ich brauche keine Preise, ich habe eine Leserschaft.» Dann lacht er. In ihm steckt noch immer der Journalist. Er weiss, was sich in einem Artikel gut macht – und was abgedroschen klingt. Darum schiebt er nach: «Ich finde, Unterhaltung sollte nicht entwertet werden. Schon klar, ich schreibe keine mutigen Bücher. Ich trete nicht mit einem Fuss über den Abgrund. Ich möchte Geschichten erzählen, bei denen die Leute gerne zuhören.»
Glattauer ist ein umgänglicher Mensch, der umgängliche Bücher schreibt. Er will gefallen, nicht beeindrucken. Er sei auch kein guter Team-Mensch: «Weil ich dazu neige, in der Gruppe auf mich selbst zu verzichten.»
So war das auch, als «Gut gegen Nordwind» 2019 verfilmt wurde. Ein schöner Film, sagt Glattauer, stimmig. Stille. Dann: «Sie haben das Ende anders gemacht.» Er habe damals niemandem dreinreden wollen, Film erfordere ja auch ein anderes Erzählen, er sei da kein Profi. Aber der Schluss, wie er im Buch stehe, das bleibe für ihn der passendere Schluss.
Das Hausmädchen und der Chauffeur
Im vergangenen Jahr ist Glattauers Vater gestorben, der Tod der Mutter ist schon länger her. Auch Glattauer Senior war Journalist wie später seine beiden Söhne. Über einige Jahre waren die Glattauer-Brüder Rivalen, gönnten sich tief drin eher die Misserfolge als die Erfolge. Alles lange her. Nun seien sie einfach zwei ältere Herren, die sich gern hätten.
Glattauer holt sein Smartphone hervor. Neulich hat er Bilder abfotografiert, die seinen Vater als jungen Mann zeigen. «Hier, mit Udo Jürgens», er zeigt auf das Telefon. Nächstes Bild, «mit Ella Fitzgerald», es folgt der gleiche Mann mit dicken Koteletten und Mireille Mathieu, und auch von Glattauer senior mit den Rolling Stones – mit allen Pop- und Rock-Grössen der sechziger und der siebziger Jahre eigentlich – gibt es Bilder. Er hat so viele Stars interviewt, dass er selber einer wurde. Der Vater trug den Ruhm davon, die Söhne bekamen dafür Freikarten zu allen wichtigen Rock- und Pop-Konzerten. Harmonisch wie ein Pop-Song war die Vatergeschichte allerdings nicht.
Glattauers Eltern lernten sich im Zürich der fünfziger Jahre kennen. Wie viele kamen sie aus den kriegsversehrten Ländern Deutschland und Österreich zum Arbeiten in die heil gebliebene Schweiz. Sie als Hausmädchen, er als Chauffeur. Sie eine 34-jährige Kärnterin, er ein 22-jähriger Wiener. Sie stark und streng, er lustig und locker. In der Fremde wurde man sich vertraut, heiratete, bald kam das erste Kind. Aus dem Hausmädchen wurde eine Hausfrau, aus dem Chauffeur ein Journalist beim «Blick». Diesen warb der österreichische «Kurier» ab, die Familie zog nach Wien.
Als die Ehe endete und der Vater auszog, schärfte die Mutter den Kindern ein, ja nichts zu sagen. «Damals war eine Scheidung eine Schande», sagt Glattauer. Die Mutter wollte sie so lange wie möglich hinauszögern. Sie hatte nie wieder einen Mann. Er hinterliess bei seinem Tod Ehefrau Nummer drei.
Vielleicht hat damals in Glattauers Jugend etwas gefehlt, als der Vater ging. Das Lustige, das Lockere, das Happy End auch. Vielleicht konnte Glattauer all das darum so gut beschreiben in seinen Romanen – weil er es sich davor schon so oft ausgemalt hatte. Am Ende, sagt Glattauer über die Beziehung zum Vater, «haben wir ein grosses Mögen hingekriegt».
Nächstenliebe und Fremdenangst
Geht es um eines seiner Bücher, erzählt Glattauer immer erst den Plot. So, als hätte er es selbst eben erst gelesen. Zwischenbemerkungen wie Klappentexte. Nie geht er davon aus, dass das Gegenüber so oder so alles von ihm kennen könnte. In «Die spürst du nicht» (2023), seinem zweitletzten Roman, gehe es um den Tod eines somalischen Flüchtlingsmädchens – und die Schuld, die eine privilegierte Familie im Besonderen und die westliche Gesellschaft im Allgemeinen daran tragen würden.
Inspiriert zu dieser Geschichte hat ihn ein afghanisches Mädchen, dessen Patenschaft Glattauer und seine Frau übernahmen, als das Kind vor einigen Jahren ohne Eltern nach Österreich flüchtete. Auch die Patenschaften dreier somalischer Jungs, Männer mittlerweile, übernahmen die Glattauers. «Nächstenliebe kann man den Leuten nicht vorschreiben. Es bleibt bloss, sie vorzuleben», sagt der habilitierte Pädagoge.
Mit dem Mädchen und seiner Familie, die mittlerweile auch in Wien angekommen sei, pflege man «eine richtig schöne Beziehung». Mit den Jungs, nein, den Männern, sei es allerdings gerade etwas schwierig. Mehr mag Glattauer nicht erzählen.
Es gab etwas Aufhebens, als der Liebesromanautor vor zwei Jahren plötzlich politisch wurde. Aber es sei nun einmal das Thema gewesen, das ihn beschäftigt habe. Das ihn gereizt habe. «Aber heute hätte ich noch viel mehr Gegenwind», sagt Glattauer. «Die Vorbehalte gegen Migranten werden immer grösser.»
Die heutige Politik, Glattauer seufzt. «Red ma nicht drüber.» Aber erleichtert sei er schon, dass auf das gegenwärtige Klima nicht das sehr politische Buch, sondern das sanfte aus dem Zug treffe. «Wäre es umgekehrt, hätte ich wahrscheinlich kaum Auftritte», sagt er. Denkt nach. «Eigentlich müsste man die Problematik massiv und lautstark öffentlich ansprechen. Es braucht Leute, die das tun.»
Glattauer schweigt einen weiteren Moment. «Aber ich bin wohl zu konfliktscheu dafür.» Manchmal, da staune er über sich selbst. «Ich staune, mit wie schmalen Schultern ich durchs Leben komme.»
Der glückliche Rentner
Schreiben müssen, das tut Glattauer nicht mehr: Weder das Portemonnaie noch das Ego drängten ihn dazu, sagt er. Hund, Zeit, Enkelkind – mittlerweile habe er auch alles, was es für ein gutes Rentnerleben brauche. Er hätte es dabei belassen können.
Aber dann habe ihn doch die Lust auf ein neues Buch – und auf einen neuen Verlag – gepackt. «In meinem Leben verändert sich ja relativ wenig. Ich wollte einfach noch einmal etwas Neues ausprobieren.»
Nun ist also Glattauers neuster Roman bei Dumont erschienen. «Das autobiografischste Buch, das ich je geschrieben habe», sagt Glattauer. Es ist die Geschichte eines erfolgreichen Liebesromanautors, der seine besten Schreibzeiten hinter sich hat. Die Gipfelstürme sind vorbei. Stattdessen sei er nun «über den Berg», sagt der Autor im Buch. Flachere Gefilde. «Sehr angenehm.»
Daniel Glattauer: In einem Zug. Roman. Dumont, Köln 2025. 205 S., Fr. 33.90.