Exzessives Training kann diverse Schäden verursachen: Entzündungen, Muskelabbau und sogar eine mysteriöse Krankheit. Trotzdem darf man viel Sport treiben – sofern man die Erholung ernst nimmt.
«More pain, more gain», so heisst es: mehr Schmerz, mehr Erfolg. So lautet das Mantra vieler Sportenthusiasten, ob auf der Laufstrecke, im Fitnessstudio oder auf dem Fussballrasen. Wer mehr und härter trainiere, erreiche seine sportlichen Ziele – früher oder später.
Tatsächlich sei dem Menschen kein zeitliches Limit beim Sporttreiben gesetzt, sagt der Sportmediziner und Trainingswissenschafter Kuno Hottenrott von der deutschen Universität Halle-Wittenberg: «Gibt es eine klare physiologische Grenze für den Trainingsumfang beim Menschen? Nein, die gibt es nicht.»
Ein Beispiel ist der Extremsportler Jonas Deichmann. Der Deutsche schaffte zwischen Mai und September 2024 einen Rekord: An 120 aufeinanderfolgenden Tagen lief der Extremsportler einen Ironman. 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42 Kilometer Laufen, Tag für Tag. Für Laien klingt das unglaublich.
Macht dieser Mensch seinen Körper nicht kaputt? «Wenn jemand wie Jonas Deichmann an 120 Tagen einen Ironman mit moderater Intensität absolviert, bringt das in der Regel keine gesundheitlichen Probleme», sagt Hottenrott. Deichmann lief nicht auf Zeit und nicht gegen andere Gegner, er war also nicht leistungsfokussiert. «Das wird immer verwechselt. Denn leistungsorientiertes Training muss ganz klare Vorgaben in Bezug auf Umfänge und Intensitäten berücksichtigen.»
Wer sich nicht an diese Vorgaben hält, droht seinen Körper zu schädigen. «Dauerhafte Schäden durch Belastungen gibt es nur, wenn diese unter Leistungsanforderungen ausgeübt werden», sagt Hottenrott. Wenn zu häufig und zu rücksichtslos die eigene Schmerz- und damit Belastungsgrenze überschritten werde, könne Sport den Körper kaputtmachen, so der Wissenschafter. More pain, more gain – die Formel stimmt also nicht.
Mehr als 12 000 Kilometer im Jahr? Davon wird keiner schneller
Auf leistungsfokussiertes Training setzen Sportler immer dann, wenn sie Bestmarken setzen oder Gegner bezwingen wollen. Das gilt für Profis wie Amateure gleichermassen – und ebenso in ganz unterschiedlichen Sportarten.
Ausdauerathleten etwa wollen mit polarisiertem oder pyramidalem Training über lange Distanzen maximal schnell sein. Hierzu kombinieren sie wenige kurze Einheiten von hoher Intensität jenseits der Belastungsgrenze – etwa Sprints oder Bergläufe – mit vielen Long Runs mit niedriger und mittlerer Intensität. Das regt die Bildung von Kapillaren in der Muskulatur und von Mitochondrien an, den Sauerstoff umsetzenden Kraftwerken in den Zellen. Das Ziel besteht darin, dass der Körper Sauerstoff schneller und Energiereserven effizienter verstoffwechselt, so dass Trainierende rascher ans Ziel kommen.
Doch die Formel lasse sich nicht endlos skalieren. «Triathleten trainieren nicht über 1500 Stunden im Jahr. Das ist die absolute Grenze, wie Wissenschafter festgestellt haben. In der Regel reichen 1000 Stunden systematisches Training», sagt Kuno Hottenrott. Ähnliches gelte für Langstreckenläufer. Für Spitzenathleten reichten maximal 8000 Kilometer im Jahr. «Es hilft überhaupt nichts, 10 000 oder 12 000 Kilometer zurückzulegen», davon werde keiner schneller oder effizienter, sagt Hottenrott. Und: «Zu viele Trainingskilometer führen zu muskulären oder Ermüdungsproblemen.» Der Ausdauerathlet riskiert etwa Entzündungen an Sehnen und Muskeln, die wochen- oder gar monatelang anhalten können und langfristig strukturschädigend wirken.
Falsches Training lässt die Muskeln schrumpfen
Grenzen sind dem Training insbesondere im Kraftsport gesetzt. Wird eine Muskelgruppe mit einem hochintensiven Krafttraining bis zur Erschöpfung trainiert, muss diese danach 48 Stunden lang ruhen. Das ist gemäss Hottenrott wissenschaftlich mehrmals klar belegt worden. Er sagt: «Wenn man das nicht einhält, kommt es eher zu Muskelabbau als Muskelaufbau.»
Ein ermüdeter Muskel ist geschwollen. Ruht sich der Kraftsportler aus, kommt es zu einer Hypertrophie der Muskelstränge, die Folge sind dickere Muskelfasern und damit ein wohlgeformter Bizeps. Trainiert man den Muskel hingegen im Schwellzustand, kann die Regeneration nicht erfolgen. «Es kommt zu einem erhöhten Proteinabbau und damit zu muskulärem Rückbau», sagt Hottenrott. Die Proteine, die zur Regeneration eingesetzt würden, werden verschlissen. Trotzdem kann man jeden Tag ein Fitnesstraining absolvieren – wenn man in jeder Einheit andere Muskelgruppen trainiert und die 48-Stunden-Regel berücksichtigt.
In Bezug auf Verschleiss und Verletzungen besonders gefährdet sind Spiel- und Mannschaftssportler, die die Signale ihres Körpers ignorieren und im Zustand der Ermüdung trainieren. Ob Handball, Fussball, Rugby oder Tennis – in all diesen Sportarten sind kurze Sprints, harte Richtungswechsel und teilweise massive und unerwartete Einwirkungen des Gegners üblich, etwa durch eine Grätsche oder ein Tackling in vollem Lauf.
«Das Grundproblem ist, dass Spieler von ihrer ermüdeten Muskulatur hochintensive Reize abverlangen, auf die sie nicht vorbereitet ist, da die Ermüdung sie ja noch beschäftigt», sagt Hottenrott. Dabei könne es zu Muskelfaser- und Sehnenrissen sowie Entzündungen kommen, so der Sportmediziner. Besonders Profis mit ihren eng getakteten Spielplänen, aber auch Amateure, die viele Erholungsphasen auslassen, sind verletzungsanfällig – manche werden dadurch sogar zu Sportinvaliden.
Auch ein stressiger Job und ein dichter Zeitplan behindern die Regeneration. «Je müder und ausgelaugter jemand ist, desto mehr muss er sich mit Muskelpflege beschäftigen, auch als Hobbysportler.» Zur Muskelpflege zählen Dehnen, Kräftigen, Massagen, aber auch Schlaf.
Das Syndrom, das Sportlerkarrieren beenden kann
Doch selbst wer von Muskelabbau, -rissen und -zerrungen verschont bleibt, kann durch exzessives Training einen Leistungsabfall oder im Extremfall den Verlust der maximalen Leistungsfähigkeit erleiden. Dafür verantwortlich ist ein mysteriöses Syndrom namens Übertraining, nach dem englischen «Overtraining Syndrome» auch OTS genannt.
Ein solches Übertraining-Syndrom resultiert aus mehreren unterschiedlichen Phasen, wie Romain Meeusen erklärt. Er ist der ehemalige Leiter der Forschungsgruppe Humanphysiologie an der Freien Universität Brüssel und sagt: «Gehen Athleten in ein Höhentrainingslager, sind sie danach extrem erschöpft. Aber sie erholen sich nach wenigen Tagen und werden besser. Das ist der Zweck eines Höhenlagers.» Man nennt das funktionelle Überlastung.
Doch nicht alle Sportler werden im Höhentrainingslager besser. Meeusen, der derzeit Direktor des Human Performance Lab in Brüssel ist, hat das schon häufig beobachtet. Befindet sich ein Athlet in diesem Zustand, so spricht die Sportwissenschaft von nichtfunktioneller Überbelastung. «Auf manche Athleten hat das Trainingslager keine Wirkung. Bei ihnen kann es ein paar Wochen oder einen Monat dauern, bis sie sich erholen. Sie müssen sich ausruhen.» In extremen Fällen reicht selbst ein Monat nicht aus für die Erholung. Dann besteht der Verdacht auf ein Übertrainings-Syndrom oder eben OTS.
«Das wichtigste Symptom ist mangelnde Performance. Ein Sportler erbringt nicht die Leistung, die er erbringen sollte», sagt Meeusen. Daneben gibt es noch weitere mögliche Indizien: Muskelschmerzen, Schlafstörungen oder erhöhter Puls können, müssen aber nicht zwingend auftreten. «Es ist ein Syndrom. Das bedeutet, dass jemand mehr als ein Symptom und nicht immer die gleichen Symptome aufweist. OTS ist sehr individuell», sagt Meeusen.
Unbestritten sind hingegen die Folgen von OTS. Athleten, die an dem Syndrom leiden, benötigen mindestens ein paar Monate zur Erholung. «Wir hatten Sportler, die nie wieder ihr früheres Niveau erreichten. Aber auch solche, die drei Jahre brauchten und dann wieder sehr gut waren», sagt Meeusen.
Über die Ursache des Übertraining-Syndroms ist sich die Wissenschaft weitestgehend einig: ein über längere Zeit anhaltendes Ungleichgewicht zwischen Training und Erholung. Athleten, die sich in einer nichtfunktionellen Überlastung und letztlich im Übertraining befinden, geraten oft in einen Teufelskreis: Sie erbringen nicht die Leistung, die sie erwarten, trainieren deshalb verbissener – und verstärken damit die Problematik. Die Kur ist in jedem Fall eine lange Erholung.
Wer es richtig macht, kann trotzdem fast jeden Tag Sport treiben
Schwierig ist hingegen die Diagnose, denn zuerst müssen andere Gründe für die schlechte Leistung ausgeschlossen werden können. In Meeusens Labor müssen die Athleten deshalb eine Reihe von Vortests machen, damit psychologische oder aus falschen Verhaltensweisen resultierende Gründe ausgeschlossen werden können. «Viele Sportler nehmen etwa nicht genug Kalorien auf, um die verbrannten Kalorien zu kompensieren. Manchmal fehlen ihnen diese Kalorien über einen längeren Zeitraum.»
Weiterhin unklar sind zudem noch viele zelluläre und physiologische Grundlagen des mysteriösen Übertraining-Syndroms. Einigen kommt die Sportwissenschaft durch ihre Diagnoseverfahren auf die Schliche. So stützt sich der Trainingswissenschafter Meeusen auf einen Hochleistungstest, der einmal am Morgen und einmal am Mittag zu absolvieren ist. Dabei wird in Blutproben ein Cocktail an Hormonen gemessen. Ein Athlet mit Übertraining-Syndrom hat beim zweiten Test abgeflachte Kurven – beim Mittagstest ist die Hormonproduktion also gestört. «All diese Hormone kommen aus der Hypophyse, der Hirnanhangdrüse. Nach dem morgendlichen Test, einem grossen Stressor, ist die Nachbildung gehemmt.» Das sieht man im Mittagstest anhand der fehlenden Ausschläge. Gestützt auf psychologische Gutachten kann Meeusen dann OTS diagnostizieren.
Exzessives Training unter hohem Leistungsdruck ist in allen Fällen der Auslöser dieses mysteriösen Syndroms –wie auch vieler weiterer Symptome, bei denen Sport den Körper schädigt. «Wenn der Körper sich beschwert, sollte man ihn ruhen lassen. Ein Ruhetag, zwei Ruhetage, sogar eine ganze Woche Ruhe sind kein Drama. Das ist die wichtigste Botschaft», sagt Meeusen.
Hört man auf seinen Körper und gönnt ihm die notwendige Ruhe zwischen den Trainingseinheiten oder verzichtet auf den Leistungsaspekt, können sowohl Profis als auch Amateure bis ins hohe Alter gesund Sport treiben – und das (fast) jeden Tag.