Nun will ein Parteiloser das «Kartell» aufbrechen.
Ist eine Wahl, deren Ausgang von vornherein feststeht, wirklich eine Wahl? Mit solchen Fragen müssen sich Schweizer Stimmberechtigte, anders als Menschen in autokratischen Pseudodemokratien, zum Glück kaum je auseinandersetzen. Und doch findet in der Stadt Zürich am 9. Februar eine Wahl statt, bei der die Parteien schon lange im Voraus aushandeln, wer antritt. Und in der Regel auch gewählt wird.
Das Amt, um das es geht, ist der fünfköpfige Bezirksrat – jene Instanz, die die Oberaufsicht über die Stadt Zürich hat. Heute ist es so geregelt, dass die Parteien im Vorfeld bestimmen, wer den lukrativen Job erhalten soll. Und die sogenannte Interparteiliche Konferenz des Bezirks Zürichs, in der alle grösseren Parteien vertreten sind, winkt die Kandidatinnen und Kandidaten durch.
Ein Jurastudium ist zwar von Vorteil, aber keine Voraussetzung. Kandidaturen müssen schon gravierende Mängel aufweisen, um nicht genehm zu sein.
Aussenstehende Gruppierungen soll man «abwehren»
Einen Wahlkampf zwischen den Parteien gibt es nicht, die Kandidatinnen und Kandidaten treten öffentlich kaum in Erscheinung. In der Satzung der Interparteilichen Konferenz steht, die Parteien würden «die erkorenen Kandidaten gemeinsam unterstützen, den Wahlkampf gemeinsam führen und Ansprüche ausserhalb der Konferenz stehender Gruppierungen abwehren».
Eine Absprache, die der Jurist Daniel Kauf kritisiert. In seinen Augen hat sie «Kartellcharakter». Der 56-Jährige ist ein Insider. Er hat achtzehn Jahre lang auf der Kanzlei des Bezirksrats als juristischer Mitarbeiter gearbeitet. Nun tritt er als Parteiloser zur Wahl in den Bezirksrat an. Ohne seine Kandidatur wären die Bisherigen stillt wiedergewählt worden.
Kauf sagt, nun hätten die Stimmberechtigten zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten eine echte Auswahl. Parteilose Gegenkandidaten gab es zwar auch in der Vergangenheit. Aber dies waren Figuren wie der Dauerbewerber Marian Danowski und keine, die öffentlich auftraten.
Kauf macht nun – im Gegensatz zu seinen Konkurrenten – Wahlkampf: Er verteilt Flyer in der Stadt und hat eine Website, auf der es sich ausführlich vorstellt. Kauf setzt sich als Kandidat ausserhalb des Establishments in Szene.
Dass der Kampf unter den Parteien ausbleibt, erstaunt – nur schon deshalb, weil das Amt in vielerlei Hinsicht attraktiv ist. Das 42-Prozent-Pensum wird mit jährlich rund 75 000 Franken entlöhnt, wobei die meisten Bezirksräte einen Anteil an ihre Partei abgeben.
Dies für einen Job, bei dem man keinen eigentlichen Chef hat. In der Regel halten die fünf Bezirksräte nicht einmal Sitzungen ab. Entscheide fallen meist als sogenannte Zirkularbeschlüsse: Die Akten liegen in der Kanzlei auf, die Bezirksräte kommen einzeln vorbei und tun ihren Entscheid schriftlich kund.
Hinzu kommt, dass eine siebenköpfige Kanzlei die Entscheide vorbereitet – der Schlussentscheid durch die Bezirksräte ist in vielen Fällen nur noch Formsache. «Sie machen in diesem Amt genau so viel, wie sie möchten», sagt Daniel Kauf. Er sagt, er habe bei seiner Arbeit auf der Kanzlei beides erlebt: sehr engagierte Bezirksräte, aber auch Minimalisten.
Der Bezirksrat ist Aufsichtsbehörde über die Gemeinden. In der Stadt Zürich fiel er jüngst deshalb auf, weil er Entscheide gefällt hat, die der rot-grünen Mehrheit im Stadtparlament entgegenliefen, allen voran jener zur Basishilfe für Sans-Papiers, die der Bezirksrat als widerrechtlich taxierte und bei der er eine Aufsichtsbeschwerde der FDP guthiess.
Besonders Mathis Kläntschi (Grüne), der Statthalter ist und auch dem Bezirksrat als Präsident vorsteht, hat sich den Ruf erarbeitet, unabhängig von der Parteilinie zu entscheiden. Je nach Rechtsgebiet entscheidet entweder der Statthalter alleine oder der Rat.
Zudem fungiert der Rat in Verwaltungssachen als Rekursinstanz und in Kesb-Fällen als erste richterliche Instanz. Und er hat die Oberaufsicht über die Stadtzürcher Heime. Der Rat bewegt sich somit im Spannungsfeld zwischen Recht und Politik – entscheidet insgesamt aber eher juristisch als politisch.
Die Parteien unterwerfen sich freiwillig
Dass das Gremium dennoch vom Volk gewählt wird, hat historische Gründe. Vor zwei Jahrhunderten wurde die Ebene Bezirk zwischen Kanton und Gemeinde nach dem Vorbild französischer Départements im Kanton Zürich eingeführt. Damit entstand neben dem Bezirksgericht auch der Bezirksrat.
Dieser sollte bürgernah sein: Man wollte die Rechtspflege einer vom Zentralstaat unabhängigen Kollegialbehörde übertragen. Zunächst war es die 200-köpfige Bezirksversammlung, die den Bezirksrat wählte, doch 1865 wurde die Volkswahl eingeführt.
Durch diese Entstehungsgeschichte ist der eigentümliche Charakter des Rats zu erklären. Doch was hat es mit der Absprache der Parteien auf sich?
Die Stadtzürcher Parteien unterwerfen sich seit Jahrzehnten freiwillig dem Parteienproporz, wie er sich aus den Kantonsratswahlen ergibt. Sie tun dies nicht nur beim Bezirksrat, sondern auch beim Bezirksgericht und bei den Staatsanwälten.
Der Gedanke ist es, in den Gerichten den Parteienproporz abzubilden. Man orientiert sich an der gutschweizerischen Konkordanz. So sei sichergestellt, dass die verschiedenen Perspektiven der Gesellschaft vertreten seien, lautet der Tenor. Sogar wenn sich die Wähleranteile verschieben, werden Bisherige nicht zur Abwahl empfohlen, sondern im Gegenteil weiterhin von allen Parteien bei der Wiederwahl unterstützt.
Allerdings: Der Frieden unter den Parteien ist eine Stadtzürcher Besonderheit. Das Arrangement funktioniert nur deshalb, weil in der grossen Stadt für alle Parteien etwas abfällt. Sogar die Linkspartei AL, die die Absprache früher ebenfalls als «Kartell» kritisierte, ist seit 2012 und nach mehreren Wahlerfolgen Teil davon.
Insgesamt 118 Ämter sind in der Stadt Zürich zu vergeben: 1 Statthalteramt, 4 Bezirksräte, 2 Ersatz-Bezirksräte, 75 Bezirksrichterinnen, 35 Staatsanwälte. In ländlichen Bezirken, wo die Ämter rarer sind, gibt es oft Kampfwahlen. Parteilose erringen dort immer wieder Ämter. Derzeit tritt beispielsweise im Bezirk Meilen der Altkantonsrat Hans-Peter Amrein an, ebenfalls als Parteiloser.
Der Stadtzürcher Bezirksrat umfasst fünf Sitze. Einen davon besetzt der Statthalter, der in Personalunion Bezirksratspräsident ist. Kläntschi wurde im letzten Herbst bereits bestätigt – in stiller Wahl, weil niemand ihn herausgefordert hatte.
Nun müssen die vier übrigen Bezirksratssitze am 9. Februar wieder besetzt werden. SP, FDP, SVP und GLP stellen Kandidaten. Die Interparteiliche Konferenz empfiehlt das Quartett zur Wahl.
Daniel Kauf, der Gegenkandidat, hat seinen Job auf der Bezirksratskanzlei nach einem persönlichen Schicksalsschlag vor eineinhalb Jahren aufgegeben. Sein siebenjähriger Sohn verstarb bei einem Unfall. Nach einer schwierigen Zeit habe er wieder Energie, sich einzubringen. Die Materie kenne er aufgrund des beruflichen Hintergrunds bestens, sagt er. Politisch sei er im Zentrum anzusiedeln.
Neben ihm treten vier Bisherige an: Jedidjah Bollag, Rechtsanwalt, Jahrgang 1981, SVP; Marita Hauenstein, Rechtsanwältin, Jahrgang 1973, GLP; Matyas Attila Sagi-Kiss, Jahrgang 1983, SP; sowie Patrice Martin Zumsteg, Rechtsanwalt, Jahrgang 1988, FDP.
Ein Wahlzettel, der die Stimmberechtigten rätseln lässt
mvl. In den Abstimmungsunterlagen für den Urnengang am 9. Februar fällt der Wahlzettel für die Erneuerungswahl von zwei Staatsanwältinnen oder Staatsanwälten im Bezirk Zürich auf. Eine Kandidatenliste fehlt. Dies dürfte die meisten Stimmberechtigten ratlos zurücklassen: Wen soll man bitte schön auf den Zettel schreiben?
Hinzu kommt: Es kommt keineswegs jede und jeder für eine Wahl infrage. Kandidierende brauchen ein Wahlfähigkeitszeugnis der Oberstaatsanwaltschaft. Normalerweise werden Staatsanwälte in stiller Wahl gewählt. Doch dieses Mal haben sich zu wenig Kandidierende fristgerecht gemeldet. Der formale Ablauf sieht es vor, dass in diesem Fall leere Wahlzettel ohne Kandidatenliste verschickt werden.
Allerdings besteht kein Anlass zur Sorge, dass die beiden freien Sitze tatsächlich unbesetzt bleiben. Nach Ablauf der Frist fanden sich zwei Kandidierende: Marco Menger (FDP) und Thomas Grolimund (SP).
Dass es bei der Bestellung der Staatsanwälte zu einem Urnengang oder gar zu einem Wahlkampf kommt, ist selten. In der Regel einigen sich die Parteien im Vorfeld auf eine Person. Diese wird dann in stiller Wahl bestätigt, womit die Sache erledigt ist. Eine Volkswahl durchgeführt wird nur, wenn es mehrere Kandidatinnen und Kandidaten geben sollte. Oder, paradoxerweise, wenn es gar niemanden für die Stelle gibt. So wie jetzt in der Stadt Zürich.
Dieser Fall trat vergangenes Jahr bereits einmal ein, nämlich im Bezirk Bülach. Auch dort wurde mangels Kandidaten ein Wahlzettel ohne Kandidatenliste verschickt. Und auch dort fand sich kurz vor dem Wahltermin noch ein Kandidat, der dann auch gewählt wurde – wenn auch mit einer rekordtiefen Stimmbeteiligung.
Dies dürfte auch in der Stadt Zürich der Fall sein, weil sich nur jene an der Wahl beteiligen werden, die von der späten Kandidatur der beiden Staatsanwälte auf anderem Weg als aus den Abstimmungsunterlagen erfahren.