Die Zürcher Casting-Direktorin Corinna Glaus hat im Hintergrund jahrzehntelang dafür gesorgt, dass andere im Rampenlicht stehen – etwa Max Hubacher, Luna Wedler und Joel Basman. Nun wird sie in Solothurn geehrt.
Als vor zehn Jahren das Heidi wieder einmal im Kino auferstand, brillierte ein Bündner Mädchen in der Titelrolle an der Seite von Bruno Ganz als Alpöhi. Die zwei harmonierten unter der Regie von Alain Gsponer prima. Aber wie hatte das ungleiche Duo überhaupt zusammengefunden?
Die Antwort findet, wer den Abspann bis zum Punkt «Casting» mitverfolgt. Dort erscheint der Name Corinna Glaus. Das tut er in gefühlt jeder zweiten Deutschschweizer Kinoproduktion, nachweislich bei der Hälfte der grössten Schweizer Kassenerfolge der letzten fünfzig Jahre, von «Die Herbstzeitlosen» bis zu «Schellen-Ursli». Bei über 150 Filmen hat die 67-jährige Zürcherin mitgeprägt, welche Gesichter wir mit dem einheimischen Kino verbinden. Am Donnerstag wird sie dafür an den Solothurner Filmtagen mit dem «Prix d’honneur» geehrt.
Die Zukunft des Schweizer Films
Nach einem Ethnologiestudium an der Universität Zürich arbeitete Corinna Glaus in Theatern, ehe sie als Regieassistentin zum Film stiess und 1997 ihr eigenes Besetzungsbüro gründete, das heute Glaus & Gut Casting heisst. Im Auftrag der Filmproduktionen wirkt sie eng mit der Regie zusammen, für die dieser Prozess oft essenziell ist. Der deutsche Regisseur Tom Tykwer beschrieb die Momente, in denen er sich jeweils mit seiner inzwischen verstorbenen Landsfrau Simone Bär an die Arbeit machte, als alchemistischen Vorgang: Gemeinsam habe man in einem grossen Topf gerührt, aus dem irgendwann Gesichter aufgestiegen seien.
Der Zürcher Christoph Schaub, der in «Giulias Verschwinden» und seinen fünf weiteren Spielfilmen der letzten zwanzig Jahre mit Corinna Glaus zusammengearbeitet hat, vergleicht den Casting-Prozess mit Dates voller Fragezeichen: «Corinna ist diesbezüglich eine hervorragende Kupplerin. Sie kann ermutigen und Vertrauen schaffen – und erkennt, was zum Drehbuch und zu meiner Intention passt. Gerade weil es manchmal in eine andere Richtung geht, als ich suche.»
Neben Gespür für die Regieperson und deren Eigenarten braucht Glaus die Fähigkeit, tote Buchstaben im Geiste lebendig werden zu lassen: Aufgrund der Lektüre des Drehbuchs hat sie beim ersten Treffen meist eine Liste mit fünf, zehn Vorschlägen pro tragende Rolle parat. Das eigentliche Casting dann, bei dem die Dialoge erstmals zum Leben erweckt werden, beschreibt sie als kreativen Vorgang, bei dem das Charakterprofil einer Rolle oft nochmals angepasst werde. Und je länger die Suche nach einer passenden Besetzung dauere, desto eher entferne man sich von Äusserlichkeiten, Typisierungen und öffne sich für eine überraschende Wahl, gerade bei Hauptrollen.
Doch auch die Besetzung selbst kleinster Nebenrollen, die mitunter ein Milieu und eine Atmosphäre prägen, verlangt viel Aufmerksamkeit. So ist in Petra Volpes Spitaldrama «Heldin», das im Februar im Kino anläuft, zwar die Hauptrolle einer Pflegefachfrau mit der deutschen Schauspielerin Leonie Benesch ( «Das Lehrerzimmer», «September 5») prominent besetzt, sonst aber wirken vor allem wenig bekannte Darsteller und Laien mit. Da war Glaus’ Gespür für Gesichter, die zu den Geschichten passen, wieder einmal besonders gefragt.
Mitunter erhält man hierzulande allerdings die immergleichen Gesichter vorgesetzt, etwa zum zehnten Mal einen Philipp Graber in einem trotteligen Nebenpart wie in «Papa Moll». Die Schweiz ist eben nicht annähernd so reich gesegnet mit Filmkultur und Stars wie Frankreich, wo Schauspielagenturen mit Diven wie Isabelle Adjani und Juliette Binoche jonglieren und direkt mit den Regiegrössen dealen, wie es die köstliche France-2-Serie «Call my Agent» etwas überspitzt darstellt.
Glaus ist keine Künstleragentin, hat aber mit ihrem Gespür für Talente einer famosen jungen Schauspielergeneration den Weg bereitet, die für die Zukunft des Schweizer Films steht. Max Hubacher betont, wie wichtig sie für seinen Werdegang gewesen sei, auch als Bezugsperson, seit er 2010 in der Rolle eines krebskranken Knaben in «Stationspiraten» debütierte. Da war er ebenso noch ein Teenager wie Luna Wedler, als Glaus sie entdeckte, oder Joel Basman, als sie ihn in die Titelrolle von «Jimmie» (2008) hievte. «Er ist kein Blender, geht suchend an Rollen heran und lotet sie dann bis an die Grenze aus», sagt sie über das vielleicht grösste Schweizer Talent dieser Generation. Sie selbst hat viele durch Höhen und Tiefen begleitet und zollt allen Respekt, die sich im Schauspielerberuf mit seinen Durststrecken und Unsicherheiten behaupten.
007 zählt auf ihre Dienste
Auch wenn für internationale Grossproduktionen lokales Personal gesucht wird, ist Glaus’ Büro eine Topadresse in der Schweiz. Dabei hilft ihre Vernetzung im internationalen Casting-Verband, den sie mit aufgebaut hat, auch ist sie Mitglied der Academy, welche die Oscars verleiht. Als für Marc Forsters James-Bond-Film «Quantum of Solace» Nebendarsteller für Szenen im deutschsprachigen Raum gesucht wurden, betraute die langjährige 007-Chefcasterin Debbie McWilliams sie damit. Glaus erinnert sich an die im Vorfeld neuer Bond-Abenteuer übliche Geheimniskrämerei: «Ich erhielt fürs Casting kein Drehbuch, nur einzelne Szenen, bei denen die Hälfte eingeschwärzt war.» Ebenfalls dank Glaus tauchte 2013 in der Romanverfilmung «Nachtzug nach Lissabon» neben Weltstars wie Jeremy Irons die Baselbieterin Sarah Spale auf, inzwischen ein prägendes Gesicht des Schweizer Films.
Glaus führt eine Kartei mit professionellen Darstellern und Laien in allen Altersgruppen und sucht auch selbst Talente: Über einen E-Casting-Wettbewerb filtert ihr Büro Jahr für Jahr geeigneten Schweizer Nachwuchs unter den Abgängern der Schauspielschulen in deutschsprachigen Ländern heraus. Gelegentlich wird auch einmal ein Aufruf gestartet wie jüngst für die tragende Rolle der 12- bis 15-jährigen Lene in Michael Kochs «Erosion». Koch wie auch Nicolas Steiner hatte Glaus einst als Laiendarsteller für die Teenie-Komödie «Achtung, fertig, Charlie» (2003) gecastet. Beide sind heute Regisseure. So schliessen sich Kreise in der hiesigen Branche, die Glaus eine kleine Familie nennt.
Sind Verträge mit den Darstellern einmal unterzeichnet, endet die Mission der Caster. Sie tauchen im Abspann oft unter ferner liefen auf, stehen kaum je im Rampenlicht. Dazu passt, dass das Gespräch für dieses Porträt in einer dezidiert unrepräsentativen Eingangshalle des Theater-Departements der Zürcher Hochschule der Künste stattfindet, wo Glaus unter anderem Casting-Workshops gibt. Sie steht nicht für den Glamour der grossen Filmwelt, eher für stille Hintergrund- und Vermittlungsarbeit mit wenig Aussicht auf Ruhm. Berufe dieser Art sind weiterhin oft weiblich geprägt, auch in der männerlastigen Filmbranche: Als Pionierin im Land gilt Ruth Hirschfeld, die zweite prägende Casterin, und Glaus übergibt ihr Lebenswerk gerade schrittweise an ihre Geschäftspartnerin Nora Leibundgut.
Entdeckt – und wieder verschwunden
Und wie fanden nun Grossvater und Enkelin für die «Heidi»-Adaption von 2015 zusammen? Für die Rolle des Alpöhi hatte man zunächst vergeblich nach Laien gesucht, die manche für unabdingbar halten, um gewisse Milieus authentisch zu vermitteln. Glaus sieht das anders und schlug Bruno Ganz vor, den sie schon in diversen Filmen besetzt hatte. Er soll spontan zugesagt haben.
Um die Titelrolle bewarben sich Hunderte Mädchen, die Wahl fiel auf die die zehnjährige Churerin Anuk Steffen, deren frische Art dem verbittertsten Öhi das Herz geöffnet hätte. Vor allem aber harmonierte sie auf Anhieb mit dem Weltstar. Eine Berufsschauspielerin wurde später nicht aus dem Naturtalent, aber die kleine Anouk hatte dem NZZ-Journalisten schon damals angekündigt, nichts liege ihr ferner als das. Glaus’ Nachwuchsarbeit für den Schweizer Film wird dadurch nicht geschmälert.
60. Solothurner Filmtage, 22.–29. Januar 2025.