Knochenbrüche, Bluttransfusionen, Wochen im Koma: Die Ski-Rennstrecke in Kitzbühel hat schon manches Opfer gefordert. Auch in diesem Jahr steht der Helikopter zum Abtransport der Sturzopfer bereit.
Die Streif in Kitzbühel ist die Rennpiste schlechthin, sie ist Mythos und Monster zugleich. Wer hier gewinnt, trägt sich in die Liste der grossen Ski-Helden ein; wer hier abfliegt, braucht eine gute Unfallversicherung. An keinem anderen Ort wurden so viele Karrieren geknickt oder gar beendet wie in Kitzbühel. Die folgende Liste ist eine Auswahl der Stürze aus den letzten 40 Jahren – und bei weitem nicht vollständig.
Hiroyuki Aihara, 1985
Der Japaner kann in seinem Palmarès anführen, dass es ihn auf den berühmtesten Rennstrecken der Welt erwischt hat, 1981 am Lauberhorn und 1985 auf der Streif. Insgesamt wurde er in seiner Karriere neunmal mit Knochenbrüchen von der Piste getragen. Der Sturz in Kitzbühel war besonders spektakulär: Aihara schlug in der Mausefalle mehrere Salti auf dem eigentlich als Fangschutz aufgestellten Staketenzaun, verlor den Helm und blieb bewusstlos liegen. Als Zaunkönig von der Mausefalle ging er in die Geschichte dieses verrückten Rennens ein. 15 Jahre später luden ihn die Organisatoren nach Kitzbühel ein und überreichten ihm eine kleine Trophäe – einen Stein, auf den eine Miniatur des Zauns montiert war.
Klaus Gattermann, 1985
Der Deutsche kam weiter als der Japaner, er stürzte erst nach der Hausbergkante. Dort wirbelte er derart spektakulär durch die Luft, dass auch er einen Spitznamen bekam: der Flattermann. Mit einem Nasenbeinbruch und einer schweren Gehirnerschütterung kam er noch glimpflich davon. Doch seine Karriere war geknickt. Er selbst war sich bewusst, dass von ihm als Skirennfahrer nur der spektakuläre Abflug von Kitzbühel in Erinnerung bleibt. Und er trug es mit Humor: «Es gibt halt mehrere Möglichkeiten, berühmt zu werden», sagte er Jahre später.
Todd Brooker, 1987
Der Kanadier gewann 1983 auf der Streif, doch vier Jahre später erlebte er, was eigentlich nur im Albtraum passieren dürfte. Kurz bevor er in den brutal steilen Zielschuss einbog, verlor er bei einem Schlag einen Ski und flog, sich wieder und wieder überschlagend, den Hang hinunter. Sein Körper wirkte willenlos wie eine Stoffpuppe, und so lag er schliesslich auch im Schnee: reglos hingeworfen, den Kopf am Fangzaun.
Die kanadische «Ski Hall of Fame» nennt das den spektakulärsten Sturz, der je auf Film festgehalten wurde. Brooker sagt dazu, die ganze Welt erinnere sich an diesen Crash – nur er selbst nicht. Das medizinische Bulletin: Nasenbeinbruch, Gesichtsverletzungen, Gehirnerschütterung, Knie kaputt. Brooker trat zurück und wurde in der Heimat für seinen besonderen Sportsgeist ausgezeichnet.
Brian Stemmle, 1989
Noch ein Kanadier, und er hatte Glück, dass er überhaupt mit dem Leben davonkam. Bei der Ausfahrt aus dem Steilhang, wo jeder versucht, möglichst viel Tempo mitzunehmen, geriet er zu nahe ans Fangnetz. Man hat an dieser Stelle schon viele spektakuläre Aktionen gesehen: Marco Odermatt vermied 2023 knapp den Sturz, Bode Miller surfte 2008 über die Plane, die als zusätzliche Sicherheit über das Netz gelegt wird.
Solche Planen gab es bereits 1987, doch an der Steilhangausfahrt waren sie lückenhaft. Trainer beschwerten sich, aber die Organisatoren sagten, sie hätten nicht mehr Plastik zur Verfügung. Prompt fädelte Stemmle mit dem Ski im Netz ein – mit grausamen Folgen. Der Athlet zog sich einen Beckenbruch und einen Darmriss zu; er verlor so viel Blut, dass er 25 Transfusionen brauchte.
Drei Monate lang lag Stemmle im Spital, anderthalb Jahre dauerte seine Rehabilitation. Dass es noch schlimmer hätte ausgehen können, zeigte sich zwei Jahre später in Wengen: Der Österreicher Gernot Reinstadler verhakte sich ebenfalls im Netz und erlag den schweren Verletzungen, die er sich dabei zuzog.
Stemmle klagte gegen die Kitzbüheler Organisatoren und erstritt sich einen Schadenersatz, dessen Höhe nie bekanntwurde. Und er kämpfte sich tatsächlich auf die Rennpisten zurück, auch auf die Streif. Zehn Jahre nach dem schweren Unfall beendete er seine Karriere an den kanadischen Meisterschaften mit Gold in der Abfahrt.
Andreas Schifferer, 1996
Wenn ein Abfahrer erstmals am Start der Streif steht, schlottern ihm die Knie. Didier Cuche sagte einmal, er wäre am liebsten rückwärts aus dem Starthaus und nach Hause gefahren. Dass die Ängste nicht unbegründet sind, erlebte der Österreicher Schifferer bei seiner Premiere mit 21 Jahren. Am Zielsprung crashte er so brutal, dass er mit einem Schädel-Hirn-Trauma für drei Tage in ein künstliches Koma versetzt werden musste.
Schifferer liess sich vom Unfall nicht beirren und entwickelte sich zu einem der besten Rennfahrer der Welt; im Frühling 1998 gewann er die kleine Kristallkugel für den Gewinn der Disziplinenwertung in der Abfahrt. In Kitzbühel aber schafft er nie den Sprung aufs Podest. Dafür hinterliess er einen Aphorismus: «Wenn du hier am Start stehst, bellt dich die Streif wie ein böser Hund an. Und wenn du nicht zurückbellst, dann beisst sie dich.»
Patrick Ortlieb, 1999
Der Österreicher gewann nur vier Rennen im Weltcup, wurde 1992 aber Olympiasieger und 1996 Weltmeister in der Abfahrt. Ab 1997 fuhr er den guten alten Zeiten hinterher, und schliesslich begrub er seine Karriere im Schnee. 1999 stürzte er in Wengen, kam aber mit Prellungen davon. Ein paar Tage später erwischte es ihn dann in Kitzbühel richtig. Nach der Hausbergkante verlor er die Kontrolle über die Ski und flog fast ungebremst ins Netz: Trümmerbruch im Oberschenkel, Absplitterung der Hüftpfanne – Karriereende.
Seine Tochter Nina Ortlieb wurde ebenfalls Rennfahrerin und gewann zwei Weltcup-Rennen. Derzeit absolviert sie zum wiederholten Mal eine Comeback-Saison. Mit 28 Jahren hat sie bereits ungezählte schwere Stürze und 22 Operationen hinter sich.
Daniel Albrecht, 2009
Der Walliser galt nach der Jahrtausendwende als eine der grössten Hoffnungen des Schweizer Skisports. 2003 gewann er drei Goldmedaillen an Junioren-WM, 2007 wurde er bei den Profis Weltmeister in der Kombination. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis er den Gesamtweltcup gewinnen würde. Bis zum Training in Kitzbühel 2009. Daniel Albrecht raste mit über 140 km/h auf den Zielsprung zu, den Didier Cuche am Vortag noch kritisiert hatte. Der Sprung gehe ganz vorne leicht aufwärts und sei deshalb gefährlich, sagte er.
Und tatsächlich: Albrechts Ski wurden nach oben gedrückt, die Luftströmung tat das Ihre, und der Rennfahrer schlug mit Rücken und Hinterkopf auf der eisigen Unterlage auf. Drei Wochen lang lag er im künstlichen Koma, und als er wieder erwachte, war die Festplatte in seinem Kopf gelöscht. Albrecht erkannte nicht einmal seine Eltern und musste sich die Sprache neu erwerben.
Albrecht kämpfte sich zurück ins Leben und in den Skizirkus. Dreimal klassierte er sich im Riesenslalom sogar in den Punkterängen, doch an die Spitze schaffte er es nicht mehr. 2012 verletzte er sich im Training zur Abfahrt von Lake Louise schwer, 2013 trat er zurück.
Hans Grugger, 2011
Nur wenige Sekunden nach dem Start schiessen die Fahrer in Kitzbühel auf die Mausefalle zu, dann heben sie ab zu einem 60-Meter-Flug in ein Schattenloch hinunter. Hans Grugger verdreht es dabei in der Luft, er konnte die Landung nicht kontrollieren und prallte mit voller Wucht auf den Boden. Mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma und Verletzungen an der Lunge wurde er ins Spital eingeliefert, Grugger schwebte in akuter Lebensgefahr.
Später versuchte er eine Rückkehr auf die Rennpisten, musste aber bald einsehen, dass das illusorisch war. Grugger holte die Matura nach und liess sich zum Lehrer ausbilden. Auch das war eine Herausforderung, weil sein Kopf zu Beginn bereits nach 15 Minuten müde war. Dem «Blick» sagte er 2020: «Das Leben ist sehr viel entspannter, wenn man nicht eine derart vereiste und steile Piste hinunterdonnern muss!»
Urs Kryenbühl, 2021
Der Zielsprung hat auf der Streif schon so manches Opfer gefordert. Wenn etwas passiert, wird er entschärft, in den folgenden Jahren aber sukzessive wieder aufgebaut. 2021 ging er richtig weit. Urs Kryenbühls Skispitzen zeigten nach dem Absprung leicht nach unten, der Luftdruck wurde unkontrollierbar, der Fahrer nach vorne gedreht.
Nach einer brachialen Bauchlandung lag der Schweizer bewusstlos im Zielraum. 30 Minuten lang sah das Publikum zu, wie ihn die Ärzte stabilisierten und schliesslich mit dem Helikopter evakuierten. Mit einer Gehirnerschütterung, einem gebrochenen Schlüsselbein und einer schweren Knieverletzung kam er relativ glimpflich davon. Darauf folgte eine Serie von Comebacks, die mit Verletzungen endeten: Januar 2022: schwere Beckenverletzung. Dezember 2022: Kreuzbandriss. Dezember 2024: komplexe Knieverletzung. Derzeit ist Kryenbühl in der Reha.