Die Schweizer Gesellschaft ist sozial durchlässig, mehr noch als in Skandinavien. Die Ökonomen Melanie Häner-Müller und Christoph Schaltegger kennen die Gründe.
«Die Leute können nicht mehr einfach erwarten, sich gegenüber der Generation der Eltern zu steigern – wie man es während Jahrzehnten gewohnt war»: Melanie Häner-Müller und Christoph Schaltegger haben die soziale Mobilität in der Schweiz untersucht.
Etwa 40 Prozent der jüngeren Erwachsenen verdienen in der Schweiz mehr als ihre Väter, gut 80 Prozent verdienen mehr als ihre Mütter. Muss das Sorgen machen?
Christoph Schaltegger: In wohlhabenden Gesellschaften ist es schwierig, grosse Sprünge nach vorne zu machen. Beim Einkommen, Vermögen, Wohnraum und bei den materiellen Bedürfnissen bewegen wir uns schon auf einem sehr hohen Niveau. Für die Generation unserer Grosseltern war es einfacher, aufzusteigen, als für uns. Bei den Frauen gibt es noch einen Nachholeffekt: Die aktuelle Generation hat im Vergleich zu ihren Müttern noch mehr Luft nach oben als zu ihren Vätern. Für die nächsten Generationen von Frauen wird es hingegen auch nicht mehr einfach sein, mehr zu erreichen, als die Vorgängerinnen erreicht haben.
Melanie Häner-Müller: Die klassische Aufsteigergeneration ist zum Beispiel die Nachkriegsgeneration. Das zeigt sich bei den Einkommen, die nach dem Zweiten Weltkrieg enorm zugelegt haben. Noch deutlicher sehen wir es bei der Bildung und der steigenden Zahl der Hochschulabschlüsse. Wenn immer mehr Leute einen Hochschulabschluss haben, kann die Generation ihrer Kinder nur auf demselben Niveau bleiben oder absteigen.
Schaltegger: Das gilt sogar für die Lebenserwartung. In den USA ist es ein relativ weit verbreitetes Phänomen, dass die Lebenserwartung wieder zurückgeht – und das nicht nur bei den sozialen Randgruppen.
Gelingt es der Schweizer Gesellschaft, den Wohlstand zu bewahren? Oder erleben wir gerade einen Wohlstandsverlust?
Schaltegger: Wenn man nach Europa blickt, sieht man mehrere Länder, bei denen der Lebensstandard hartnäckig zurückgeht oder stagniert, wie in Italien oder England und nun derzeit auch in Österreich oder Deutschland. In der Schweiz ist dagegen einfach der Zuwachs nicht so gross.
Häner-Müller: Von einem Verlust oder einem schleichenden Abstieg kann man im Moment nicht reden. Doch die Leute können nicht mehr einfach erwarten, sich gegenüber der Generation der Eltern zu steigern – wie man es während Jahrzehnten gewohnt war. Allgemeiner sozialer Aufstieg ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Das darf aber nicht mit der Chancengerechtigkeit in einer Gesellschaft verwechselt werden: Hier geht es um den sozialen Aufstieg im Vergleich zum eigenen Elternhaus, nicht um den allgemeinen Wohlstandszuwachs über die Zeit.
Gibt es einen Unterschied zwischen Migranten und Ansässigen? Steigen Ausländer sozial eher auf als Schweizer?
Häner-Müller: Ob jemand Schweizer oder Migrant ist, erklärt nur sehr wenig vom gesamten familiären Einfluss auf den eigenen Erfolg. Wir haben in einer Studie gemeinsam mit Jonas Bühler anhand von Geschwistern den familiären Einfluss auf das eigene Einkommen gemessen und dessen Treiber untersucht. Dabei stellen wir fest: Nur 15 Prozent der Unterschiede gehen auf die Familie zurück. Das ist ein sehr tiefer Wert im Vergleich mit anderen Ländern. Von diesem ohnehin bereits kleinen Einfluss geht nur ein kleiner Teil auf die gängigen familiären Faktoren wie etwa die Nationalität, den Zivilstand oder das Einkommen der Eltern zurück.
Schaltegger: Es ist also nicht so, dass eine Person, deren Eltern aus einfachen Verhältnissen, beispielsweise aus Italien, in die Schweiz kamen, mit grosser Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, dass sie in der Unterschicht bleibt. Der allergrösste Teil des persönlichen Erfolgs von Menschen liegt an den Menschen selber. An ihrem Effort, an ihrem Streben, ihrer Disziplin, dazu kommt natürlich Glück und Pech. Der persönliche Erfolg ist individuell.
Sie widersprechen damit dem gängigen Narrativ, wonach Arbeiterkinder, zumal mit ausländischem Nachnamen, beim Zugang zum Gymnasium und zur Universität benachteiligt sind.
Häner-Müller: Es stimmt, dass die Akademikerkinder an den Gymnasien und Universitäten überrepräsentiert sind. Doch ob jemand die Universität besucht oder nicht, beschreibt in der Schweiz die Arbeitsmarktchancen unzureichend. Eine akademische Ausbildung ist hierzulande nicht der entscheidende Faktor; an den Fachhochschulen ist die Bildungsrendite höher als an den Universitäten. In den USA hingegen sind Bildungs- und Einkommenschancen ziemlich identisch. Nur mit einem Ivy-League-Abschluss erhält man eine Top-Job-Position mit einem grossen Einkommen.
Schaltegger: In der Schweiz absolvieren sehr viele Jugendliche mit Migrationshintergrund eine Berufsbildung. Sie verdienen später nicht selten mehr als Akademiker und leisten für Gesellschaften vielleicht auch wertvollere Arbeit. Hierzulande gibt es neben den Universitäten andere Kanäle, um aufzusteigen, und Secondos nutzen diese Kanäle. Wenn wir uns nur auf die akademische Elite konzentrieren, ergibt das ein falsches Bild.
Dennoch fokussiert sich die Diskussion um Chancengerechtigkeit stark auf die Bildung. Welche Rolle spielt die Familie für den Bildungsgang?
Schaltegger: Wenn die Eltern studiert haben, dann erklärt das 40 Prozent des Erfolgs der heutigen Studenten. Das heisst: Die soziale Mobilität liegt für die Generation der Kinder bei 60 Prozent. Und wenn man noch eine Generation weiter zurückgeht zu den Grosseltern, lässt sich der Erfolg der aktuellen Generation nur noch zu 20 Prozent mit den familiären Banden erklären. Für die Urgrosseltern lässt sich gar kein Effekt auf den Erfolg nachweisen. Das konnten wir mit einer Untersuchung, die über 15 Generationen hinweg bis ins Spätmittelalter zurückgeht, nachweisen.
Was genau haben Sie untersucht?
Häner-Müller: Wir haben, vereinfacht gesagt, den Auf- und Abstieg von Basler Familien über knapp 500 Jahre nachverfolgt. Wir haben in jeder Generation die Vertretung aller Nachnamen in der Elite eruiert – Studenten, Zünfter, Politiker – und dann die Nachnamen in der Gesamtheit der Basler Gesellschaft gezählt und anschliessend miteinander verglichen. So konnten wir für jeden Nachnamen in jeder Generation ermitteln, wie stark die jeweilige Familie in der Elite über- oder unterrepräsentiert ist. Dabei zeigte sich, dass die familiäre Zugehörigkeit nach drei Generationen keine Bedeutung mehr hat. Es kamen neue Familien zur Elite hinzu, andere stiegen ab – der Buddenbrook-Effekt.
Schaltegger: Es sagt eben nicht alles über die soziale Mobilität einer Gesellschaft aus, wenn man den gesellschaftlichen Erfolg nur von der einen zur nächsten Generation anschaut. Es kann sehr viele Gründe geben, warum sich gerade von der einen zur anderen Generation wenig ändert. Die Frage, ob unsere Gesellschaft im Fluss ist, Fleiss belohnt, meritokratisch ist oder ob die Entwicklung vielmehr von anderen Dingen wie Privilegien, Nachnamen, vom guten Umfeld abhängt, muss man längerfristig untersuchen. Der Ansatz mit dem Nachnamen ist eigentlich der einzige gangbare Weg, wie man bis ins Mittelalter eine Gesellschaft verfolgen kann.
Und Ihr Fazit ist: Die Schweiz ist recht durchlässig.
Schaltegger: Mehr noch: Sie ist sehr durchlässig.
Häner-Müller: In der Schweiz gibt es im Durchschnitt keine dynastischen Effekte. Es reicht nicht, aus der «richtigen» Familie zu stammen.
Schaltegger: Das gilt auch für die Einkommen: Die Erfolgsabhängigkeit der aktuellen Generation ist in der Schweiz tiefer als in skandinavischen Ländern. Sie liegt bei 15 Prozent gemäss unseren Geschwister-Analysen.
Häner-Müller: In Deutschland macht der familiäre Einfluss über 40 Prozent aus, in Frankreich rund 30 Prozent, in den USA beinahe 50 Prozent. Und in Dänemark doch immerhin auch noch 20 Prozent.
Schaltegger: Skandinavien gilt ja in all diesen Fragen als Vorreiter. Doch in der Schweiz sind wir mobiler und chancenreicher als die Skandinavier. Unsere Ergebnisse widersprechen dem üblichen Narrativ, dass die Schweiz eine verknöcherte Gesellschaft sei.
Wie erklären Sie sich, dass die Schweiz sozial so mobil ist im Vergleich mit aufgeschlossenen Ländern wie zum Beispiel Dänemark oder Schweden?
Häner-Müller: Ich sehe einen Grund beim Bildungssystem. Es ist dual und zudem auch durchlässig. Kinder aus ärmeren Familien besuchen eher später noch weiterführende Schulen, also höhere Fachschulen oder Fachhochschulen oder sogar Universitäten.
Schaltegger: Neben der Bildung spielt auch der Arbeitsmarkt eine wichtige Rolle. Wenn ein Arbeitsmarkt praktisch keine Arbeitslosigkeit kennt, ist er ein Einkommensgenerator par excellence. Die Schweiz ist eines der egalitärsten Länder in der Einkommensverteilung vor Umverteilung. Die Bildung ist die Basis, der Arbeitsmarkt ist das Sprungbrett für die hohe Mobilität beim Einkommen.
Früher galt als wichtig, wer Steuern zahlte, heute gilt als wichtig, wer studiert hat: Stimmen Sie dieser Aussage zu? Sieht man eine Verschiebung des sozialen Status vom Einkommen hin zur Bildung?
Häner-Müller: Wenn man jüngere Personen fragt, was ihnen wichtig sei, so spielen die Work-Life-Balance und die Sinnhaftigkeit der Arbeit eine grosse Rolle. Das mag darauf hindeuten, dass das Einkommen vielleicht gar nicht mehr wirklich das relevante Mass ist. Aber ich glaube, derzeit sind wir doch noch ein gutes Stück davon entfernt. Für den Arbeitsmarkt ist vielmehr entscheidend, wie weit unterschiedliche Lebensläufe gefragt sind. Klassisches Beispiel ist Sergio Ermotti, der über eine Banklehre zum CEO aufstieg. Ist das künftig noch möglich? Oder gibt es bald nur noch Manager mit universitärem Abschluss? Das beeinflusst die soziale Mobilität in der Schweiz stark.
Schaltegger: Vor 30 Jahren hob man sich mit einem MBA nach dem Universitätsstudium von den anderen ab. Heute kann man bald an jeder Fachhochschule einen MBA machen, da beeindruckt man niemanden mehr. Die Lebensläufe sind standardisiert und hochpoliert und sehen alle irgendwie gleich aus. Aber vielleicht beeindruckt es einen Arbeitgeber, wenn jemand in früheren Jahren handwerklich tätig war oder ein Geschäft aufgebaut hat. Das sind interessante Lebensläufe.
Frauen haben über die Jahrhunderte tendenziell «nach oben» geheiratet. Steigt man heute noch sozial auf durch die Heirat?
Häner-Müller: Das ist praktisch nicht mehr der Fall. In unseren Studien zeigt sich vielmehr etwas anderes: Wer erfolgreich ist im Job, ist in der Regel auch auf dem Heiratsmarkt erfolgreich. Hier zeigt sich das sprichwörtliche «Gleich und Gleich gesellt sich gern». Dass Frauen nach oben heiraten, lässt sich kaum mehr beobachten. Wer reich ist, heiratet mit grosser Wahrscheinlichkeit auch reich. Wer arm ist, heiratet auch überdurchschnittlich oft arm.
Das spricht eher gegen die soziale Mobilität. Die obere und die untere Schicht bleiben unter sich.
Häner-Müller: Das stimmt so nicht. Die Steuerdaten zeigen nämlich, dass bei der Heirat das Vermögen der Eltern eine untergeordnete Rolle spielt, dafür aber das eigene Vermögen entscheidend ist. Die grosse soziale Mobilität in der Schweiz verhindert, dass es zu einer Zementierung von Dynastien kommt. Wir sehen in der Schweiz keine habsburgischen Verhältnisse: Eigene Leistung, nicht Abstammung ist entscheidend. Ehepartner sind sich beim Einkommen, beim Vermögensstatus und bei der Bildung oft sehr ähnlich.
Das heisst, man steigt sozial auf und heiratet dann entsprechend?
Häner-Müller: Im Prinzip ja: Die Personen verlassen das Milieu des Elternhauses und heiraten jemanden, der das auch so gemacht hat.
Paare, die Teilzeit arbeiten, haben in der Schweiz dank Subventionen nicht selten ökonomische Vorteile gegenüber Personen, die Vollzeit arbeiten. Wie wirkt sich das aus?
Schaltegger: Menschen optimieren ihre wirtschaftliche Situation. Sobald man heiratet, stellt man sich Fragen zur Arbeitsteilung: Wer macht was? Wer arbeitet wie viel? Wenn man reicher wird durch viel Arbeit, dann schafft das einen Erwerbsanreiz. Aber es hat eben auch den Effekt, dass man sich mehr Freizeit leisten kann. Reiche Gesellschaften neigen viel stärker zum Hedonismus als arme: Wenn man es sich leisten kann, lässt man jemanden für sich arbeiten.
Die Teilzeit-Generation, die gerne reist und das Leben geniesst, wird den Nachkommen dereinst nicht viel vererben können.
Häner-Müller: Das ist so. Diese nächste Generation wird sich selber etwas einfallen lassen müssen, um das Niveau zu halten oder aufzusteigen.
Schaltegger: Im Übrigen ist es auch für jene, die von den Eltern erben, meist nicht einfach, vom Vermögen zu leben. In der Schweiz wird das Vermögen mehrfach besteuert. Da kann auch ein stattlicher Betrag schnell dahinschmelzen.
Bremst Teilzeitarbeit die soziale Mobilität?
Häner-Müller: Nein, im Gegenteil: Sie fördert sie. Wenn Gutverdiener mehr Teilzeit arbeiten, wenn sich die «Oberen» wie im alten Rom ausruhen, gibt es für die anderen mehr Spielraum und mehr Möglichkeiten aufzusteigen. Soziale Mobilität bedeutet ja Platztausch. Die einen müssen absteigen, damit die anderen aufsteigen können.
Liberale Ökonomen
fon. Melanie Häner-Müller leitet den Bereich Sozialpolitik und ist Bildungsverantwortliche beim Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern. Christoph Schaltegger ist Professor für politische Ökonomie an der Universität Luzern und Direktor des IWP.