Vor 100 Jahren gründete der Kunsttheoretiker Karel Teige in Prag eine neue Bewegung. Der Tscheche ist eine kaum bekannte Schlüsselfigur: widersprüchlich, brillant und politisch verfemt.
In den Jahren 1923 und 1924 wurde in Prag eine neue Bewegung ausgerufen: der Poetismus. Nach dem Willen seines Schöpfers, des Studenten Karel Teige, sollte er «nonchalant, überschwänglich, phantastisch, verspielt, unheroisch und erotisch» sein und mithilfe einer «Poesie für alle Sinne» «die Welt zum Gedicht» machen. Nach dem «letzten Aufflackern der Ismen, des Dadaismus, Futurismus, Expressionismus, Kubismus, Suprematismus», forderte Teige in einem von mehreren poetistischen Manifesten, gelte es, nicht nur einen weiteren Kunststil, sondern eine neue «Ästhetik und Philosophie» zu etablieren.
Die Proklamation Teiges war auch ein Versuch, die Tschechoslowakei nach ihrer späten Geburt 1918 an die neuesten künstlerischen Strömungen anzuschliessen. Heute gilt der Poetismus immerhin als originärster Beitrag Tschechiens zu den europäischen Avantgarden. Die Bewegung und ihr Schöpfer waren lang aus der Öffentlichkeit verdrängt – vor allem in der Zeit des Eisernen Vorhangs. Nach dem Prager Frühling nahm die Rehabilitierung nur langsam Fahrt auf. Und bis heute ist Teige in Westeuropa vor allem in Fachkreisen ein Begriff.
Dabei prägte Teige die tschechische Avantgarde der Zwischenkriegszeit wie kein Zweiter. In funkensprühenden Texten profilierte sich der 1900 geborene Sohn des Prager Stadtarchivars früh als Künstler und vor allem als Kunsttheoretiker. 1920 war er Mitbegründer von «Devětsil» («Pestwurz»), einer Vereinigung von linken Poeten, Architekten, Fotografen, Musikern, Malern, Regisseuren und Schauspielern, die in Prag und Brünn agierten, unter ihnen auch einige Frauen wie die Journalistin und Kafka-Freundin Milena Jesenská.
Karel Teige, inoffizieller Kopf der Gruppe, fungierte als Motor für fast alle Kunstgattungen. Der gleichaltrige Dichter Vítězslav Nezval, zweiter Miterfinder des Poetismus, schrieb über ihn: «Teige war so beweglich, dass man meinen konnte, er sitze wie ein Spatz mit nur einem Bein auf dem Kaffeehausstuhl. Mit seinem Stuhl und seiner Pfeife bildete er quasi ein kubofuturistisches Stillleben.»
Ein Gesamtkunstwerk
Nezval war es auch, der 1922 das berühmteste Gedicht des Poetismus schrieb: «Abeceda» («Alphabet»). Die Strophe zum Buchstaben X lautet: «Kainsmal zu Kreuzotternhaupt / X ewig, X giftig Schuss / X gekreuzte Knochen, Zeit in Blütenstaub / X am Anfang, X zum Schluss.» Teiges typografische Umsetzung, kombiniert mit Fotos der Choreografie von Milča Mayerová, machte aus dem Text ein Gesamtkunstwerk. Dieser Typus des «Bildgedichts», synchron als «poetisches Bild» und «optisches Gedicht» zu lesen, gilt als Teiges folgenreichstes künstlerisches Konzept. Ursprünglich soll es von den Bild-Text-Montagen der russischen Architekten und Grafiker El Lissitzky und Alexander Rodtschenko angeregt worden sein.
Selbstverständlich entstand der Poetismus in intensivster Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Avantgarden. Dabei wechselte Teige allerdings nicht selten chamäleonhaft den Standpunkt. Ein Kritiker schrieb bissig: «Seine Auftritte in der Literatur und bildenden Kunst waren eine Reihe absurder Gegensätze. Teige verkündete die Renaissance des realistischen Primitivismus, er verkündete die kollektive Volkskunst, gleich darauf orientierte er sich am Kubismus . . .»
Schon mit 17 Jahren hatte Teige etwa in Franz Pfemferts expressionistischer Zeitschrift «Aktion» publiziert, um sich später abschätzig über den deutschen Expressionismus zu äussern. Er sei eher eine «Mythologie als eine Kunstrichtung», zu religiös und zu tragisch. Im Fall des italienischen Futurismus störte sich Teige an dessen Begeisterung für Maschinen. Dieser betreibe nur eine «Apotheose der euro-amerikanischen Zivilisation». Ein paar Jahre darauf nannte er den Futurismus eine wichtige Etappe auf dem Weg zum Poetismus.
1922 besuchte Karel Teige Paris, wo er Man Ray traf, Constantin Brancusi, Fernand Léger und Le Corbusier, zu dem er lange Kontakt hielt. Sein ausserordentliches Talent als Netzwerker kam ihm dabei zupass. «Wir haben uns in den Rhythmus des kollektiven europäischen Schaffens eingegliedert, in einen Rhythmus, dessen Metronom Paris war», so kommentierte Teige die Begegnungen später.
Die Reise an die Seine fand 1923 in der poetistischen Ausstellung «Bazaar» im Prager Rudolphinum ihr Echo. Man Ray präsentierte dort mit «Les champs délicieux» seine «Rayographien», experimentelle Fotos von Alltagsgegenständen, die an Röntgenbilder erinnern. Als eines von mehreren Readymades war eine Friseurpuppe im Stil von Giorgio de Chirico zu sehen. Neben «Harlekinaden» voller «Clowns, Tänzerinnen, Akrobaten, Matrosen und Touristen», wie ein Kritiker schrieb, zeigte die Ausstellung auch collagierte Werbebilder, Architekturskizzen und Filmausschnitte.
Hammer, Sichel – und Buch
Obwohl «Bazaar» offensichtlich mit der Berliner «Ersten Internationalen Dada-Messe» von 1920 eng verwandt war, hatte Teige auch den frühen Dadaismus zunächst für «chaotisch» befunden und eine Sackgasse genannt, um dann umzuschwenken und «Dada im Leben, Hyperdada als Lebensspender, als frisches Elixier» und «grosses Gelächter» zu preisen.
Karel Teiges intellektuelle Kontakte waren weitreichend. Auch mit dem führenden Denker der niederländischen De-Stijl-Bewegung, Theo van Doesburg, arbeitete er zusammen. In den Jahren 1929/30 war er Gastprofessor für soziologische Grundlagen der Architektur am Dessauer Bauhaus.
Wie viele linke Zeitgenossen setzte Teige auf revolutionären Fortschritt. Eine zeitgenössische Karikatur zeigte ihn mit Hammer und Sichel in der einen Hand und einem Gedichtband von Apollinaire in der anderen. 1925 bereiste er mit der ersten tschechischen Delegation Moskau und Leningrad. Allerdings hatte er bereits davor auf Internationalismus gepocht. Originelle nationale Kunstströmungen wie den tschechischen Kubismus, der in Architektur und Design mit plastischen Verzerrungen und Faltungen arbeitete, verwarf er als «bourgeois» und «anachronistisch». Prag müsse «den gesunden Zuglüften der Welt und den Golfströmen der globalen schöpferischen Aktivität» ausgesetzt werden.
Die übliche proletarische Kunst missbilligte Karel Teige. Anstelle von «Zechen und Stahlhütten» sollte seine «neue proletarische Kunst» «Tropen und ferne Länder» imaginieren, einen «modernisierten Epikureismus» leben, der «begeistern und stärken» sollte. «Die Kunst von heute», schwärmte er vitalistisch vom kommenden Arbeiter-und-Bauern-Paradies, «dreht sich im Kreis um einen grossartigen duftenden Park. Hier kommen die Stunden als blühende Rosen an.» Denn: «Der einzige Reichtum, der für unser Glück Wert hat, ist der Reichtum der Gefühle, die Weite der Sensibilität.» Ausgehend von der Kunst sei das gesamte Leben neu zu organisieren. Dem Schriftsteller sollte dabei die Rolle des «Verkünders des kommenden Königreichs des Herzens» zukommen, aber auch die des sozialistischen Agitators.
Karel Teiges Programmatik war dualistisch angelegt, manche sagen auch «dialektisch». Während der Poetismus für ihn die «Krone des Lebens» verkörperte, wollte er in Architektur und Städtebau alles Künstlerische «liquidieren». Stattdessen sollte «Wissenschaft» die «Basis» des Lebens absichern. Gemeint war damit der Konstruktivismus, den Teige bei El Lissitzky, Moissei Ginsburg und Konstantin Melnikow in der Sowjetunion kennengelernt und seinen Landsleuten 1927 im Buch «Sowjetische Kultur» vorgestellt hatte.
In Publikationen wie «Die Kleinstwohnung» (1928) warb Teige für puristische Ideen wie Einpersonenzellen anstelle von Eheschlafzimmern. Kinder sollten statt in der Familie in Kommunehäusern erzogen werden. 1930 forderte er kollektive Strukturen für eine neue Gesellschaft, die «die Institution der Familie abgebaut, die erotischen Gefühle von materiellen Beziehungen befreit hat».
Doch Mitte der dreissiger Jahre zeichnete sich eine Wende ab. Nicht nur wurde Karel Teige nach der Installierung des sozialistischen Realismus und insbesondere des sozialistischen Klassizismus in der Architektur ein Kritiker der Stalinschen Ästhetik. Er sagte sich auch von «kasernierenden» Gemeinschaftseinrichtungen los und wandte sich einer neuen Avantgarde, dem Surrealismus, zu. Nachdem er Kontakt zu André Breton aufgenommen hatte, gründete er 1934 mit Nezval die «Gruppe der Surrealisten in der Tschechoslowakei». Wie im Poetismus erblickte er auch im Surrealismus keinen blossen Kunststil, sondern eine ganze Lebensphilosophie. Ebenso hielt er am Marxismus fest.
Im Kreuzfeuer orthodoxer Marxisten
Die tschechoslowakische Surrealistengruppe sollte jedoch nur bis 1938 existieren. Stalins Grosser Terror der Jahre 1937 und 1938 führte zu einem tiefen Zerwürfnis unter den Surrealisten, durch das Teige sich immer mehr von den Moskau-treuen Künstlern entfremdete. Schon seit den zwanziger Jahren hatte der nonkonforme Bonvivant, der nie Mitglied einer kommunistischen Partei war, im Kreuzfeuer orthodoxer Marxisten gestanden. Diese wetterten immer heftiger gegen die «gewaltige Dosis Eitelkeit, Herrschsucht, Unglauben und Frivolität des Genossen Teige».
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte dies katastrophale Folgen. Mit der Machtübernahme der Kommunisten 1948 erhielt Teige Publikationsverbot und wurde zum Verfemten. Ende 1949 begannen linientreue Zeitungen, ihn direkt anzugreifen. Man nannte ihn einen «Trotzkisten» und «Revisionisten» – genau wie später im Fall des gestürzten Generalsekretärs der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei, Rudolf Slánský, der 1952 nach einem Schauprozess gehenkt wurde.
Nach Jahren der Repression starb Karel Teige am 1. Oktober 1951, wenige Tage vor einer drohenden Hausdurchsuchung, an einem Herzinfarkt. Kurz darauf begingen seine Lebensgefährtin Josefina Nevařilová und seine Geliebte Eva Ebertová Selbstmord – der stets unrasierte Antibürger Teige war auch ein Verfechter der Polyamorie gewesen.
Sein ehemaliger Mitstreiter Vítězslav Nezval verhielt sich im Gegensatz zu Teige linientreu. 1953 wurde er sogar zum Nationalkünstler der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik ernannt. In seinen Erinnerungen lobte Nezval Teige dennoch, den «Glanz, der in ihm war und mit dem er uns allen half, neue Wege der Kunst zu suchen».