Als massgeblicher Schriftsteller der jugoslawischen Nachkriegsavantgarde lebte Bora Ćosić in einem System, dessen Rahmen von Lenin geschaffen wurde. Was ihm am Vater der bolschewistischen Revolution interessiert, ist dessen Bildlichkeit.
Ich weiss nicht genau, weshalb man mir dieses Thema vorgeschlagen hat. Weil ich den grössten Teil meines Lebens in einer links stehenden Ordnung zugebracht habe oder weil ich in dieser Erscheinung eine verständliche Desillusionierung erlebt habe? In beiden Fällen schwebt der Name Lenins wie ein unvermeidlicher Punkt in der Luft.
Heute unterliegt der 100. Todestag von Lenin allein der Zählung des Kalenders, und dieser beruht auf dem lange währenden aristotelischen Denken, nicht auf dem wirklichen Stand der Dinge. Denn der bleibt auch nach so viel Geschichte letztlich ungeklärt.
Daher geht meine Beschäftigung mit dem Thema Lenin nicht über die reine Mutmassung hinaus. Wie soll man den chaotischen Weg einer in dumpfer sibirischer Abgeschiedenheit geborenen Person erklären, all die Kaskaden verfolgen, die den Weg jeden Umstürzlers charakterisieren: seine frühen Gedanken über die Umgestaltung der Gesellschaftsordnung, das ganze Hin und Her zwischen Illegalität und Verfolgung durch die Polizei, das ganze Kompendium, das sich in unterschiedlichen Verhältnissen und in verschiedenen Ländern abspielte, wobei dieser Mann trotz aller revolutionären Nervosität die Zeit hatte, alles Mögliche zu lesen, dann auch etwas darüber zu schreiben.
Das bezieht sich nicht nur auf seine umstürzlerischen Artikel und Aufrufe, seine Studien ökonomischer Natur, es gibt auch eine – relativ amateurhafte – wissenschaftliche Arbeit: seine «Philosophischen Hefte». Zwangsläufig lassen diese Konvulsionen grosse Spannungen und einen guten Anteil psychotischen Verhaltens erkennen, kein Wunder, dass er bereits in seinem 54. Lebensjahr zerbrach; ein Psychogramm von Lenin müsste erst einmal sorgfältig erstellt werden.
Bürgerlicher Dreiteiler
Vorerst haben wir einen ziemlich kleinen, früh kahlköpfig gewordenen Mann mit dünner Stimme vor uns, wobei es dieser Stimme trotz verschiedener Hindernisse und Zufälligkeiten dennoch gelang, viele zu übertönen. Und dann verpennte der Führer des revolutionären «Oktobers» den ersten Tag des Umsturzes.
Da der Zug, mit dem er aus Finnland an den Ort des Geschehens gelangte, offenbar Verspätung hatte, soll sich Wladimir Iljitsch, wie ein Propaganda-Spielfilm zeigt, müde von der Reise, zuerst auf dem Fussboden im Zimmer eines Petrograder Arbeiters ausgeschlafen haben, während seine Matrosen und die übrigen Arbeiter- und Bauernhaufen angeblich den Winterpalast einnahmen und «Alle Macht den Sowjets!» proklamierten.
Dessen ungeachtet stellte er sich am nächsten Tag ans Rednerpult im Mädcheninstitut Smolny, alles ist vollendet, «Lenin ist mit uns! Es lebe Lenin!», wie es in Majakowskis Poem heisst. Dabei ist ihr Führer für diesen Anlass sehr ungewöhnlich gekleidet, seine Garderobe besteht aus dem typischen bürgerlichen Dreiteiler, da ist dann auch die Krawatte. Keinem in diesem Getümmel buntscheckig gekleideter Aufständischer fällt dieses Paradox auf, das ich doch sehr interessant finde. (Unter den Führern des kubanischen Umsturzes war ebenfalls einer, der bei all den Uniformen in «Zivil» gekleidet war, wenn er auch bald in der Versenkung verschwand.)
Betrachtet man heute ein Gemälde des sozialistischen Realismus mit Lenin in dessen Arbeitszimmer, gewinnt man den Eindruck eines gewöhnlichen Beamtenbüros von früher. Das Äussere, das von Lenin (Hose, Jackett, Weste aus demselben Stoff), wurde bald aufgegeben, Trotzki legte mehr Wert auf Uniform, Stalin neigte viel deutlicher zu einer Variante des russischen Bauernhemds. Obwohl er das, was Lenin begonnen hatte, bereits selbst vollendet hatte, die Vernichtung der Dörfer und des Dorflebens; in der ukrainischen Kornkammer der Welt, um die auch heute Krieg geführt wird, aber auch in Russland verhungerten Millionen. Meist Bauern.
Es hat ganz den Anschein, dass meine Unwissenheit über die Angelegenheiten der Geschichte, besonders die der Politik, kein wahres Bild von der Erscheinung Lenins liefern wird. Das ist schon verunklart durch die enigmatische Definition des Marxismus-Leninismus; sind denn nicht auch die Marxisten durch ihre Rigidität ziemlich von Marx abgewichen, was auch mit den «Leninisten» geschah.
Wie war es möglich, dass ein streng materialistisches Programm mit der Mumifizierung des verstorbenen Führers auf Pharaonenart endete? Dieser kleine Mann hat im Übrigen viel von seiner Energie mit der alltäglichen Parteilogistik verbraucht, auf Schritt und Tritt mussten verschiedene Abweichungen, Fraktionen und widersetzliche Ambitionen verhindert werden. Der Sozialismus ist eigentlich gescheitert, weil er nicht imstande war, mit sich selbst übereinzukommen. Weil es ihm nicht gelang, sein eigenes ideales Programm der Freiheit, sozialen Fürsorge und allgemeinen Brüderlichkeit zu verwirklichen.
Tito-dies-oder-das
Mich interessiert an Revolutionen blasphemisch mehr deren Bildlichkeit, das zeigten auch die Künstler nach dem Oktober, die Schriftsteller dieser Epoche, die sehr an einer Ästhetik des Umschwungs interessiert waren, bis man sie später, die meisten von ihnen, wie Hunde erschoss. Da gibt es dann noch etwas, die Frage der Symbolik. Mir kommt es ganz so vor, als handelte es sich, wenn ein Eisbrecher oder eine Bibliothek den Namen Lenin erhält, um ein Bestehlen. Der Symbolismus birgt in sich das Syndrom der Falschdarstellung. Man muss den Eisbrecher dem Eisbrecher, die Bibliothek der Bibliothek lassen, lieber ohne jeden Namen. Das gab es auch bei uns, Tito-dies-oder-das, ob es eine Stadt, eine Fabrik oder ein Kindergarten war.
In Ihrer Stadt Zürich gibt es die abschüssige Spiegelgasse; oben lebte einst Lenin, unten wirkte das dadaistische Cabaret Voltaire. So stellte ein schmaler Durchgang zwischen malerischen Häusern eine Art historische Schaukel zwischen Revolution und Avantgarde dar. Irgendwo in der Mitte hatte ein Jahrhundert früher Goethes Freund Johann Kaspar Lavater gelebt, der sich, als hielte er das Gleichgewicht aufrecht, mit menschlichen Physiognomien befasste. Das tue auch ich.
Lenins Schatten hallt bis heute in seltsamer Weise wider. Einmal verriet der Dichter Bulat Okudschawa in einem Brief an den kroatischen Literaten Predrag Matvejević seinen bitteren Befund, «Russland hat seine eigenen Gesetze nie geachtet, in Russland wurden die Menschenrechte nie geachtet!» Der revolutionäre Terror à la Robespierre war dort ständig voll in Kraft, wurden die Kronstädter Matrosen, Soldaten der Revolution, in der Regie von Trotzki nicht durch die Entscheidung Lenins umgebracht? Dies setzte sich später mit dem Gulag und anderen Formen des Zwangs fort, vergebens hatte dieses Volk einen Dostojewski, einen Skrjabin und den weisen Sacharow! Vieles wiederholt sich in diesem Augenblick.
Trotzdem geht der Habitus des Menschen über vieles hinweg. Unlängst auf einem Treffen in Zagreb von jungen, avantgardistischen und in allem bewussten Menschen befand sich auf dem Tisch, zwischen Käse und Trauben, eine kleine Lenin-Figurine aus Gips. Ich hatte nicht die Courage, die Gastgeberin, eine Konzeptkünstlerin, zu fragen, wie diese Sache auf ihren Tisch geraten sei. Das gab es auch schon früher. Ich erinnere mich, dass es bei uns, in der alten Zeit, Leute gab, die in ihren Namen den Namen des russischen Revolutionsführers verbargen, so hiess einer Marklen, eine andere Ninel.
Unlängst kam es nach einer Krankheit zu einer kurzfristigen Versteifung meiner rechten Hand, das erinnerte mich an die apoplektische Krümmung von Lenins Fingern, bekannt von einem Foto. Das ist fast das Einzige, was mich mit dem mythischen Führer des sowjetischen Proletariats verbindet.
Der serbische Schriftsteller Bora Ćosić, Jahrgang 1932, lebt in Berlin und Rovinj. 2022 ist bei Schöffling sein letztes Buch, «Operation Kaspar», erschienen. – Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Griesshaber.