Von Psychoanalyse handelt Deborah Levys Stück «50 Minutes». Die atmosphärische Uraufführung überzeugt. Aber sie sorgt nicht für kathartische Entspannung.
Wenn der Hase in die Therapie geht, hat er einiges zu klagen. Das liegt an den grossen Ohren, die sein hochsensibles Wesen zuverlässig mit akustischen Informationen füttern. Die Erschütterungen im Umkreis seines ausladenden Biotops nehmen Sinne und Nerven stets in Anspruch.
Kein Wunder also, braucht er auch einmal professionelle Hilfe. Und so beginnt «50 Minutes», das Stück der britischen Dramatikerin Deborah Levy, das am Zürcher Neumarkt-Theater uraufgeführt wird, damit, dass der Hase an der Tür einer Therapeutin läutet.
Analyse à la Freud
Die Psychotherapeutin (Susanne Sachsse) hat in Zeiten von Wandel, Verunsicherung und Kriegen offenbar eine grosse Kundschaft. Ihre grosszügig-bourgeoise Praxis, geschmückt mit einem Marmor-Pferdekopf, abstrakter Kunst sowie grün-grau gemaserten Vorhängen und Tapeten, lässt auf Wohlstand schliessen.
Die dumpfen Piano-Akkorde, die durch die Wände der anonymen Nachbarschaft dringen, setzen indes eine gespenstische Note in die gutbürgerliche Ordnung, so dass das Interieur auch etwas an surrealistische Traumbilder gemahnt (Bühne: Hannes Hetta).
Der Name der Therapeutin ist nicht bekannt; sie nennt sich bloss «Professorin». Und spontan denkt man an eine Professorin Freud. Das liegt weniger daran, dass sie Wiener Strudel mag und Englisch mit schleifendem Akzent als Fremdsprache spricht, wie einst der nach London exilierte Ahnherr der Psychoanalyse. Es liegt vielmehr an ihrer freudianischen Methode: Der Hase soll sich auf die Couch legen und erzählen, was ihm auf dem Herzen liegt, um sich auf diese Weise seiner Komplexe und Ängste zu entledigen. Das Ziel wäre die Versöhnung des Hasen mit seiner Wirklichkeit.
Allerdings muss sich auch der Hase (Hauke Heumann) in Englisch ausdrücken, was seinen Hasenvorstellungen nicht entspricht. Lieber würde er seine Probleme tanzend ausdrücken, sagt er gleich – und das darf er dann bisweilen auch zu stampfenden Techno-Beats. In der Inszenierung der Neumarkt-Mitintendantin Tine Milz aber stellt sich die Fremdsprache der Kommunikation symbolisch in den Weg. Sie verweist ebenso auf Heimatlosigkeit wie auf Entfremdung. Und es erstaunt nicht, dass die Therapiestunde mitunter zu Missverständnissen führt.
Der Hase spricht über seine Neurosen und über den Ekel, den bei ihm Würste provozieren. Er mag auch nicht, wenn ihm jemand zärtlich Zucker auf die Zunge legt. Abscheu empfindet er überdies gegenüber Hundehaltern und Joggern. Er kommt auch auf sexuelle Praktiken zu sprechen, als Hase ist er der Polyamorie zugetan. In der Tiefe seiner leidenden Seele aber liegen Ängste verborgen: Angst vor Liebe und Zärtlichkeit; Angst vor dem hungrigen Fuchs. Und Angst vor einem Krieg, der vor der Türe zu stehen scheint.
Etwas unvermittelt landet Deborah Levys Stück so bei aktuellen Traumata. Und es zeigt sich, dass der Hase angesichts des Krieges von der Psychotherapeutin eigentlich nicht psychologische Hilfe und Heilung erwartet. Vielmehr will er ein medizinisches Zeugnis, das ihn selbst vom Kriegsdienst befreit. Denn bereits hat er vom Staat eine schriftliche Einberufung erhalten.
Der Rollentausch
Hat der Hase womöglich gar nie an den Nutzen der Therapie und an den Beruf der Therapeutin geglaubt? Zuhören und allenfalls mitfühlen kann er jedenfalls auch selber. So überlässt er die Hasenmaske und die Couch der Professorin, die sich ihrerseits aussprechen soll.
In ihren Sorgen scheinen die Hasenprobleme wie gespiegelt: So mag sie Hunde ebenso wie Zucker auf der Zunge; und sie trauert einer zärtlichen Liebe nach. Auch sie scheint indessen einer Stimmung verfallen, in der sich ein apokalyptisches Ende ankündigt. Und wenn es an der Türe ihrer Praxis zuletzt nochmals läutet, weiss man nicht recht: Ist das ein nächster Patient, oder wird die Professorin vom Schergen einer finsteren Macht heimgesucht?
Das Unbewusste diene der Revolution, hat die Professorin zu Beginn von «50 Minutes» verlauten lassen. Knapp sechzig Minuten später zweifelt man an dieser Behauptung. Eher verharren die gequälten Seelen so hilflos vor dystopischen Bedrohungen wie Kaninchen vor der Schlange. Die atmosphärisch dezente und gleichwohl packende Inszenierung aber nimmt sich aus wie ein absurder Traum, aus dem man selbst als Angsthase erwacht.