Aus Knochen und Zähnen, die bis zu 34 000 Jahre alt sind, haben Forscher Erbgut gewonnen und sequenziert. So konnten sie nachzeichnen, wie und wann die Menschen vom Osten nach Nordeuropa kamen – und welche Genvarianten sie mit sich trugen.
In Nordeuropa sind die Menschen im Durchschnitt deutlich grösser als in Südeuropa. Und auch bei der multiplen Sklerose (MS), einer Autoimmunkrankheit, bei der das Immunsystem im Hirn und im Rückenmark die Isolierschicht der Nervenfasern zerstört, gibt es ein Gefälle: In Nordeuropa kommt die Krankheit so häufig vor wie nirgendwo auf der Welt und zweimal so häufig wie in Südeuropa.
Warum das so ist, war bisher ein medizinisches Rätsel. Eine neue Studie in der Fachzeitschrift «Nature» liefert jetzt eine mögliche Erklärung: Laut ihr ist das Problem importiert. Frühe Migranten haben es vor 5000 Jahren aus dem Osten in den Norden eingeschleppt.
Für seine Arbeit hat das internationale Team unter der Leitung von Wissenschaftern der Universität Kopenhagen in Dänemark und der Universität Cambridge in Grossbritannien die biologischen Überreste von fast 5000 prähistorischen Menschen untersucht. Die in verschiedenen Museen lagernden Skelette stammen von dokumentierten Fundorten in Europa und Asien. Sie umfassen die Zeit von der Steinzeit über die Bronze-, die Eisen- und die Wikingerzeit bis ins Mittelalter. Das älteste untersuchte Individuum lebte vor 34 000 Jahren.
Mathematisches Modell füllt die Lücken im Erbgut aus
Aus den Zähnen und Knochen – besonders gut eignet sich das sehr harte, im Schädelinnern liegende Felsenbein – haben die Forscher in einem ersten Schritt unter sterilen Laborbedingungen das Erbgut (DNA) entnommen und sequenziert. Das ist eine schwierige Aufgabe. Denn solch alte DNA liegt oft nur noch in Bruchstücken vor, da Teile des chemischen Moleküls abgebaut sind. Die Lücken im Erbguttext füllten die Wissenschafter mit einem mathematischen Modell aus, das auf sehr vielen kompletten DNA-Profilen von heute lebenden Menschen basiert.
Mit den analysierten Proben von prähistorischen Menschen hat die internationale Forschergruppe in den letzten fünf Jahren die weltweit grösste Datenbank für alte DNA aufgebaut. Die dänische Lundbeck Foundation hat das Projekt mit 8 Millionen Euro unterstützt.
«Der Aufbau der Datenbank war ein kolossales Projekt», so wird der dänische Genetiker Eske Willerslev, einer der Studienleiter, in einer Pressemitteilung zitiert. Damit stehe jetzt aber ein «Präzisionswerkzeug» zur Verfügung. Mit diesem können Wissenschafter neue Einblicke gewinnen in die frühe Migration von Menschen und die damit verbundene Ausbreitung von genetischen Merkmalen und Krankheiten.
Für die jüngste MS-Studie haben die Forscher die aus den prähistorischen Skeletten gewonnenen DNA-Profile mit den genetischen Merkmalen von 400 000 heute lebenden Personen verglichen. Die Daten erzählen eine vielschichtige Migrationsgeschichte. Diese beginnt in der Eurasischen Steppe, einer Region, die Teile der heutigen Ukraine, Russlands und Kasachstans umfasst (vgl. Karte).
In diesem Gebiet lebte eine Gruppe von Menschen, die Archäologen heute als Jamnaja bezeichnen. Die Viehbauern hielten Schafe und Rinder und bauten Gerste an. Vor rund 5000 Jahren wanderten sie nach Nordwesteuropa aus. In ihrem Erbgut trugen sie viele der über 200 heute bekannten Genvarianten, die das Risiko für eine MS erhöhen. Diese Risikogene brachten sie nach Nordwesteuropa, wo sie vor rund 4850 Jahren eintrafen und die damals ansässige Bevölkerung zu einem grossen Teil ersetzten.
Die nächsten Verwandten vieler Nordeuropäer
In Dänemark etwa verschwanden die zuvor ansässigen Menschen innerhalb von wenigen Jahrhunderten. Möglicherweise war der Wandel in der Bevölkerung durch neue Krankheiten getrieben, die die Jamnaja mitbrachten, oder durch gewalttätige Auseinandersetzungen. Jedenfalls gelten die Jamnaja laut den Studienautoren als die nächsten Verwandten der heutigen Däninnen und Dänen. Dies hat die Forschergruppe mit ihren DNA-Daten in einer weiteren, in der gleichen «Nature»-Ausgabe veröffentlichten Arbeit dargelegt.
Auch für einen Grossteil der heutigen Bewohner in Nordwesteuropa gelten die Viehbauern aus dem Osten als wichtige Vorfahren. Dagegen ist ihr genetischer Einfluss auf die heutige Bevölkerung in Südeuropa relativ gering. Das dürfte laut den Forschern auch zu einem guten Teil erklären, warum Nordeuropäer im Durchschnitt grösser sind als Südeuropäer. Auch für dieses Körpermerkmal spielt die vererbte genetische Ausstattung eine wichtige Rolle.
Zurück zu den Risikogenen für multiple Sklerose. Viele dieser Genvarianten haben Auswirkungen auf das Immunsystem. «Die Gene verliehen den Jamnaja wahrscheinlich einen deutlichen Überlebensvorteil», so der Genetiker Willerslev. Die Menschen dürften dadurch besser vor Infektionskrankheiten geschützt gewesen sein, die von ihrem Vieh auf sie übertragen werden konnten.
Was früher ein Vorteil war, könnte heute ein Nachteil sein. Denn genetische Risikovarianten stehen nicht isoliert da – ihre Auswirkungen werden auch von Umgebungs- und Lebensstilfaktoren beeinflusst. Und diese Faktoren haben sich in den letzten 5000 Jahren stark verändert. Wir leben heute ganz andere Leben als unsere Vorfahren. Das zeigt sich etwa bei der Hygiene, der Ernährung oder den medizinischen Behandlungsmöglichkeiten. Deshalb ist es laut den Studienautoren möglich, dass uns ursprünglich vorteilhafte Genvarianten heute anfälliger für Krankheiten wie die MS machen. Ein Studienautor bringt es so auf den Punkt: «Wir sind die Empfänger von uralten Immunsystemen, leben aber in einer modernen Welt.»
Die neuen Forschungsergebnisse bieten somit ein neues biologisches Verständnis für Krankheiten wie die MS. Wir können sie als genetische Adaption an Umweltbedingungen verstehen, die vor sehr langer Zeit geherrscht haben. Sie zeigen zudem, dass sich genetische Risikoprofile selbst in Tausende von Jahren alten Knochen und Zähnen noch nachweisen lassen.
Diese Erkenntnis wollen die Forscher für weitere Studienprojekte nutzen. Sie planen bereits Untersuchungen zu Risikogenen, die Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer, Autismus, ADHS oder Schizophrenie begünstigen. Die wertvollen DNA-Profile aus der Urgeschichte der Menschheit sind auch für andere Forschergruppen interessant. Die dänischen Wissenschafter überlegen sich deshalb, ihre Datenbank öffentlich zugänglich zu machen.