Halina Reijns herausragender Film ist mehr als ein Drama über sexuelle Enthemmung: Nicole Kidman brilliert als Heldin der Emanzipation.
Eine mächtige Frau, die alles hat: toller Ehemann, tolle Kinder, toller Job. Aber sie ist unzufrieden, etwas fehlt. Was dieses Etwas ist, das will Halina Reijns exzellenter Film herausfinden. Ist es eine gesteigerte Form sexueller Lust? Eine Freiheit jenseits der bürgerlichen Rolle? Die Möglichkeit, das eigene, mühsam in Gang gehaltene und verwaltete Leben implodieren zu lassen?
Auf den ersten Blick ist «Babygirl» ein erotisches Drama. Topmanagerin um die 50, Praktikant Anfang 20. Sie hat alles unter Kontrolle, bis er ihr das Glück des sexuellen Kontrollverlusts vermittelt. Die Konstellation ist befrachtet mit einem psychologischen Klischee: Je mächtiger jemand ist, desto mehr sehnt er sich nach Machtlosigkeit, wenn auch in kuratierter Form. So gesehen ist Romy, die Chefin eines Grosskonzerns, nur eine weitere Verkörperung des Leistungsträgers, den die sozialen Konventionen zu erdrücken drohen und der in der Enthemmung einen Ausweg sucht.
Und am Anfang weist alles auf diese Perspektive hin: Romy und der 23-jährige Samuel beginnen ihre Affäre als sadomasochistisches Macht- und Unterwerfungsspiel. «Ich denke, dass Sie wollen, dass man Ihnen sagt, was Sie tun sollen», sagt der Praktikant zur Chefin, und genau so läuft es dann auch: Treffen in schäbigen Hotelzimmern, wo sie auf allen vieren wie ein Hund um Zuwendung bettelt oder wie ein Delinquent mit dem Gesicht zur Wand auf eine Bestrafung wartet, die zugleich eine Belohnung ist.
Sexuelle Subversion
Es hätte ein filmischer Holzschnitt werden können mit der Idee der sexuellen Subversion als Grundmotiv. Aber die Regisseurin Halina Reijn macht aus der Konstellation ein Gesellschaftsdrama, in dem am Ende viel mehr zur Debatte steht als die Frage, ob ein ausserehelicher Orgasmus moralisch korrekt oder therapeutisch wertvoll sei.
Sexualität ist in Reijns Film eine konkrete, schmerzvolle und kreatürliche Sache. Sie ist aber auch das Medium, in dem ein Charakter ganz und schonungslos zum Ausdruck kommen kann. Romy sehnt sich nach einer Akzeptanz, die dort hinreicht, wo die etablierten Formen von Intimität und Kommunikation infrage stehen.
«Babygirl» ist ein Ensemble-Werk, das so nur gelingen konnte, weil drei überragende Darsteller aufeinandertreffen: Antonio Banderas als gefühlvoller Ehemann. Harris Dickinson als dreist-selbstbewusster Praktikant. Nicole Kidman als Frau im Zentrum von Konfliktlinien, von denen Sexualität eine wichtige, aber nicht die einzige ist.
Die ebenso brisante Herausforderung für die sich hier ermächtigende Frau ist eine Form der Selbstakzeptanz, die destruktive Impulse nicht leugnet oder ins Schattenreich der Lüge und Verdrängung auslagert, sondern integriert. Solche Integration kann nur gelingen durch Ehrlichkeit. Deshalb wird die Affäre auffliegen, Ehemann und Liebhaber treffen aufeinander. Und dann kommt das subversive Projekt, das diese Liaison von Anfang an gewesen ist, erst richtig in Gang.
Nicht mehr nur immer Meryl Streep
In Hollywood schlägt die Stunde der Boomer-Frauen. Endlich. Noch 2018 konnte Tina Fey bei der Moderation der Golden Globes den Witz machen, es gebe Rollen für Frauen bis 40 und dann nur noch Rollen für Meryl Streep. Die sexistische Rollenpolitik Hollywoods wurde jahrzehntelang hingenommen, und erst der Qualitätssprung des Serienfernsehens ermöglichte den lange nötigen Kulturwandel.
Denn für die über mehrere Staffeln ausgespannten Erzählungen der Serie braucht man mehr Personal und Akteurinnen unterschiedlicher Generationen. So entdeckte das amerikanische Filmgeschäft eine kostbare Ressource neu: die Schauspielerin ab 50. Spätestens als Ryan Murphy dem einstigen Superstar Jessica Lange in «American Horror Story» zu einer gefeierten Rolle verhalf, begann das Comeback der grossen Darstellerinnen der 1980er und 1990er Jahre.
Sharon Stones berühmtes Zitat, mit 40 sei es als Frau in Hollywood, als ob man Lepra hätte, ist mehr oder weniger obsolet. Demi Moore in «The Substance», Jean Smart in der Serie «Hacks», Jamie Lee Curtis in «The Bear»: Das sind nur drei Beispiele für einen Paradigmenwechsel, von dem alle etwas haben: das filmische Erzählen, die Regisseure und Regisseurinnen. Und vor allem das Publikum.
Verstörend präzise
Nicole Kidmans Gesicht ist in den letzten Jahren zur Projektionsfläche für jene Konflikte geworden, die eine bürgerliche Gesellschaft umtreiben und die sie auf Kosten ihrer weiblichen Akteure mehr schlecht als recht bewältigt. Auch in «Babygirl» ist ihr Spiel auf verstörende Weise präzise. Was einen Menschen an ambivalenten Regungen umtreiben kann: Kidmann übersetzt sie in feinste physiognomische Zeichen. Die Kameraarbeit von Jasper Wolf ist ganz auf dieses Talent zugeschnitten und präsentiert in vielen Nahaufnahmen Kidmans Gesicht als Tableau einer vertrackten inneren Dramatik.
Harris Dickinson spielt seinen Part mit patziger Lässigkeit, aber diese Patzigkeit wird mit der Zeit brüchig, und zum Vorschein kommt ein Mensch, dessen energische Jugend aufgeladen ist mit Zweifeln und Angst. Banderas stellt den verständnisvollen Ehemann nicht als Pantoffelheld dar, sondern als Mann, der eine neue Rollen finden will in einer Welt, die auseinanderbrechen muss, um weiter bestehen zu können. Um so ein Szenario zu bebildern, braucht es eine Ästhetik jenseits der kosmetischen Ansprüche und Verwertbarkeiten. Die Regisseurin Halina Reijn und ihre Hauptdarstellerin Nicole Kidman zeigen ihre Version eines moralischen, gesellschaftlichen und persönlichen Dilemmas mit grösster Wucht. In einem Wort: ungeschminkt.