Seit Henry Dunant der ersten Genfer Konvention den Weg bereitete, versucht die Staatengemeinschaft, den Krieg mit völkerrechtlichen Mitteln zu zivilisieren. 1928 wurde er sogar verboten. Dass es ihn noch immer gibt, spricht nicht gegen diese Bemühungen.
Eigentlich sind Kriege ja verboten. Aber nicht jedes Unheil lässt sich mit Verboten aus der Welt schaffen. Paris, 27. August 1928: Nach einer französisch-amerikanischen Initiative und ausgiebigen Verhandlungen liegt ein Dokument auf einem Konferenztisch, das von den Vertretern von fünfzehn Staaten unterschrieben wird. Damit erklären sie «feierlich im Namen ihrer Völker», wie es in Artikel 1 des Vertrags heisst, «dass sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug internationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten».
Bis 1939 werden fast fünfzig weitere Staaten dem «Briand-Kellogg-Pakt» beitreten, neben den westlichen Mächten auch China und die Sowjetunion. Vier lateinamerikanische Länder fehlen, aber sonst gilt nun praktisch auf dem ganzen Globus: Keine zwischenstaatliche Auseinandersetzung darf mehr mit Waffen ausgetragen werden. Namentlich Angriffskriege sind damit völkerrechtlich ausgeschlossen.
Das ist ein neues Kapitel in der Geschichte. Denn bis dahin galt das Gegenteil: Es gab ein «ius ad bellum», wie es im Abendland hiess, ein Recht auf den Krieg. Organisierte Gewalt galt, jedenfalls bei einem hinreichenden «Kriegsgrund», als natürliches Mittel souveräner Staaten, um Konflikte mit anderen souveränen Staaten zu entscheiden, um nationale Interessen durchzusetzen und um Herrschaft auszuüben. Grob gesagt: Wer die Macht hatte, einen Krieg zu führen, der hatte auch das Recht dazu.
Eine «grosse Hoffnung» erwacht
Wie weit dieses Recht genau ging, wann sich ein Staat darauf berufen konnte und wie lange es im Grundsatz unbestritten blieb, ob bis zum Ersten Weltkrieg oder doch nur bis zum Wiener Kongress von 1814/15, darüber sind sich die Forscher heute nicht ganz einig. Klar ist aber: 1928, dank dem Pakt, der in Paris geschlossen wird, ist es vorbei mit dem Recht auf den Krieg.
Das ist das welthistorische Ereignis, das der französische Aussenminister Aristide Briand beschwört, bei der Zeremonie mit den Unterzeichnern im Uhrensaal des Ministeriums am Quai d’Orsay: «Im nächsten Augenblick wird der Telegraf das Erwachen einer grossen Hoffnung verkünden. Es wird für uns eine heilige Pflicht sein, nunmehr alles zu tun, was möglich und notwendig ist, damit diese Hoffnung nicht enttäuscht wird. Den Frieden zu proklamieren, ist gut, ist viel. Aber man wird ihn organisieren müssen. An die Stelle gewaltsamer Ordnungen wird man Rechtsordnungen setzen müssen. Das ist die Arbeit von morgen.»
Man muss nicht bis 1939 warten, bis zum deutschen Überfall auf Polen, mit dem Hitler den Zweiten Weltkrieg entfesselt, um die Lücke im Pakt zu bemerken. Japan hat ihn unterzeichnet, genau wie Deutschland, setzt sich aber über ihn hinweg, als es 1931 die chinesische Region Mandschurei erobert und dort einen Marionettenstaat errichtet. Das Gleiche gilt für Italien, das 1935 Abessinien angreift. Das Problem: Die Vertragsstaaten haben keine Möglichkeit, einen Vertragsbruch zu bestrafen und einen Aggressor zur Rechenschaft zu ziehen. Ist der schöne Plan also gescheitert?
Das ist schnell gedacht und noch schneller gesagt. Man kann im 20. Jahrhundert eine Zeit kriegerischer Katastrophen sehen, die bis dahin unvorstellbar waren. Man kann aber auch jene Zeit sehen, in der der Wille zum Frieden eine Weltmacht wurde: Im 20. Jahrhundert verliert der Krieg seine Akzeptanz, und sie kommt auch nicht zurück. Man versucht, den Krieg zu verhindern. Und wo er sich nicht verhindern lässt, soll die Gewalt eingedämmt werden.
Tatsächlich setzt die Staatengemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Bemühungen fort, und sie kann dabei auf den Anlauf von 1928 bauen: Am 24. Oktober 1945 werden die Vereinten Nationen gegründet – als Organisation, die den Weltfrieden sichern soll, macht sie den Kriegsverzicht zum Prinzip aller internationalen Beziehungen. Die Mitglieder der Uno unterlassen «jede Androhung oder Anwendung von Gewalt», die «gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtet» ist. So verlangt es die Uno-Charta, die Gründungsverfassung der Vereinten Nationen. Damit ist nicht mehr nur der Krieg völkerrechtswidrig, sondern jegliche Gewalt in den Beziehungen zwischen den Staaten, auch unterhalb der Schwelle zum Krieg.
Hundertprozentig gilt dieses «Allgemeine Gewaltverbot» nicht. Es gibt ein Recht zur Selbstverteidigung: Wer mit Waffen angegriffen wird, darf sich mit Waffen wehren. Und wenn der Uno-Sicherheitsrat eine Bedrohung oder einen Bruch des Friedens feststellt, kann er politische oder wirtschaftliche Sanktionen ebenso beschliessen wie ein militärisches Eingreifen, durch ein Mandat an «die Luft-, See- oder Landstreitkräfte von Mitgliedern der Vereinten Nationen».
Das bedeutet: Es ist nicht beim «Erwachen der Hoffnung» geblieben, das Aristide Briand im Sommer 1928 in Paris verkündet hat. Ganz in seinem Sinn hat sich die internationale Gemeinschaft daran gemacht, den Frieden zu «organisieren», statt nur den Krieg zu ächten: Seit 1945 lassen sich Staaten bestrafen, die sich nicht ans Gewaltverbot halten. Damit hat die Uno die Lücke geschlossen, die der Briand-Kellogg-Pakt offengelassen hatte.
Links: Als Organisation, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Weltfrieden sichern soll, machen die Vereinten Nationen den Gewaltverzicht zum Prinzip aller internationalen Beziehungen. Delegierte von fünfzig Staaten beraten von April bis Juni 1945 in San Francisco die Gründungsverfassung. Rechts: In der Pressezeichnung von D. R. Fitzpatrick sind es die Mütter der Welt, die über die Unterzeichnung der Uno-Charta wachen.
Eroberungskriege sind selten geworden
Dass es seither doch nicht in jedem Fall zu einer Strafmassnahme kommt, hängt mit der berüchtigten Realpolitik zusammen: mit der Macht jener fünf Länder, die einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat und damit ein Vetorecht bei dessen Entscheiden haben. Das ist der Grund, warum es nicht die Vereinten Nationen waren, sondern die USA und die EU, die zu Sanktionen griffen, als Russland 2014 die Krim besetzte und acht Jahre später die Ukraine überfiel.
Aber auch das ändert nichts daran, dass die Geschichte des Kriegsverbots seit 1928 eine Erfolgsgeschichte ist. So sehen es Oona Hathaway und Scott Shapiro, Völkerrechtsexperten an der amerikanischen Yale University: Seit dem Briand-Kellogg-Pakt habe sich nicht nur das Recht, sondern auch das Verhalten der Staaten «radikal verändert». Natürlich wissen die beiden Juristen, welche grossen Kriege auf den Zweiten Weltkrieg folgten – Korea, Nahost, Vietnam, Jugoslawien, Syrien, Ukraine. Das Kriegsverbot hat den Krieg nicht aus der Welt geschafft. Doch es war «hochwirksam» gegen jene Art von Krieg, die laut Hathaway und Shapiro bis dahin die wesentlichste war: die Eroberung von Territorium.
Die Forscher haben gezählt. Ihre Statistik umfasst alle weltweit bekannten Fälle von Gebietsgewinnen, die im Lauf der letzten zweihundert Jahre aus bewaffneten Konflikten resultierten. Bis zum Briand-Kellogg-Pakt gab es im Durchschnitt eine kriegerische Eroberung pro Jahr, 295 000 Quadratkilometer Territorium kamen jährlich unter neue Herrschaft. Dann folgten die zwei Jahrzehnte, in denen sich aus dem Pakt von 1928 das erweiterte Gewaltverbot der Uno von 1945 entwickelte. «Erobern wurde illegal», und damit sei es «beinahe zum Stillstand gekommen», schreiben Hathaway und Shapiro in ihrem Buch «The Internationalists». Zum einen wurden mit der Neuordnung der Welt am Ende des Zweiten Weltkriegs die Eroberungen seit 1928 weitgehend rückgängig gemacht. Zum anderen kam es fortan nur noch jedes vierte Jahr zu einem Eroberungskrieg. Dabei wurden jährlich 15 000 Quadratkilometer erobert – ein Zwanzigstel dessen, was vor dem Kriegsverbot üblich gewesen war.
Krieg war nicht unmöglich geworden. Doch sein Verbot, international festgeschrieben und schliesslich auch mit Strafmöglichkeiten beschwert, hatte ihn unwahrscheinlicher gemacht. Und das war ein Fortschritt. Seit im 19. Jahrhundert die Beziehungen unter den Staaten zunehmend in völkerrechtliche Verträge übergeführt wurden, hatten sich Pazifisten und Internationalisten, aber auch Juristen und Diplomaten darum bemüht, dass das entstehende Völkerrecht auch der bewaffneten Gewalt etwas entgegensetzte: eine internationale Ordnung, die auf der friedlichen Beilegung von Konflikten beruhte und schliesslich in den Vereinten Nationen ihre Form fand.
Dabei ging es nicht nur um das Recht zum Krieg (das «ius ad bellum»), sondern auch um das Recht im Krieg («ius in bello»): Wenn es zum Krieg kam, trotz allem, dann sollte es Regeln für die Kriegsführung geben. Diese Regeln bilden das «humanitäre Völkerrecht», und das Prinzip ist simpel: Im Krieg sind nicht alle Mittel und Methoden erlaubt. Und wer nicht kämpft oder nicht mehr kämpfen kann, darf nicht angegriffen werden. Deshalb gehört die Zivilbevölkerung genauso geschont wie die gefangenen und die verwundeten Soldaten.
Entstanden ist dieses Recht zusammen mit dem Roten Kreuz, mehr als ein halbes Jahrhundert vor dem Kriegsverbot des Briand-Kellogg-Pakts, und zwar in Genf. Dort bereiteten Henry Dunant und seine Rotkreuzbewegung jene europäische Konferenz vor, an der am 22. August 1864 die erste Genfer Konvention beschlossen wurde: zehn Vorschriften zur «Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen». Das Abkommen verpflichtet die Kriegsparteien, die verwundeten Soldaten auf dem Schlachtfeld zu versorgen, das medizinische Personal zu schützen und das Kennzeichen des Roten Kreuzes zu respektieren.
157 Paragrafen für die Kriegsführung
Ein Vielfaches länger ist der Kodex, den der amerikanische Präsident Abraham Lincoln schon ein Jahr zuvor in Kraft gesetzt hat, am 24. April 1863. Kein Völkerrecht, weil er nur einseitig gilt, für eine Kriegspartei. Aber das erste Mal, dass ein universelles Regelwerk für die Kriegsführung schriftlich fixiert wird und über einen aktuellen Anlass hinaus besteht.
Darf man den Feind foltern? Oder eine Stadt bombardieren, wenn Zivilisten dort leben? Die 157 Artikel des «Lieber Code», benannt nach dem Juristen Francis Lieber, der ihn aufgestellt hat, instruieren die US-Armee, die im Amerikanischen Bürgerkrieg den Truppen der Südstaaten gegenübersteht. «Jeder gefangen genommene verwundete Feind muss entsprechend den Möglichkeiten des Sanitätspersonals medizinisch behandelt werden», heisst es etwa in Artikel 79. Aber der Schutz jener, die nicht oder nicht mehr an den Kämpfen teilnehmen, ist nicht die einzige Richtschnur. «Befehlshaber», so Artikel 19, «informieren den Feind über ihre Absicht, einen Ort zu bombardieren, damit die Nichtkombattanten und insbesondere die Frauen und Kinder evakuiert werden können. Es ist jedoch kein Verstoss gegen das allgemeine Kriegsrecht, den Feind nicht zu informieren. Überraschung kann eine militärische Notwendigkeit sein.»
«Notwendigkeit», verstanden als Logik hinter «jenen Massnahmen, die zur Erreichung der Kriegsziele unabdingbar sind» (Artikel 14) – das ist in diesem Kodex ein zentraler Begriff, der manches verbietet, aber auch manches gestattet. «Die militärische Notwendigkeit», besagt beispielsweise Artikel 16, «duldet keine Grausamkeit, also das Zufügen von Leid um des Leids willen oder aus Rache, auch kein Verstümmeln oder Verwunden, ausser im Kampf, und keine Folter, um Geständnisse zu erpressen. Sie duldet weder den Einsatz von Gift in irgendeiner Form noch die mutwillige Verwüstung eines Bezirks. Sie duldet Täuschung, aber keine hinterhältigen Taten; und im Allgemeinen schliesst die militärische Notwendigkeit keine Feindseligkeiten ein, die die Rückkehr zum Frieden unnötig erschweren.»
Zugleich steht diese «Notwendigkeit» aber über einem anderen Grundsatz: dem Schutz der Nichtbeteiligten. So gestattet sie «jede direkte Vernichtung von Leben oder Gesundheit bewaffneter Feinde» – aber auch «anderer Personen, wenn es in den bewaffneten Auseinandersetzungen unvermeidlich ist». So steht es in Artikel 15.
Nur ein Minimum an Menschlichkeit
Wer definiert, was in einem Krieg «unvermeidlich» ist? Die Gefahr von Willkür, die sich hier zeigt, ist das humanitäre Völkerrecht bis heute nicht losgeworden. Wer Zivilisten angreift, verstösst zwar gegen das Recht. Das gleiche Recht schliesst es aber nicht aus, dass bei Angriffen auf militärische Ziele auch Zivilisten ums Leben kommen. Das nennen die Militärs «Kollateralschaden», und völkerrechtlich darf es ihn geben, solange er «notwendig» (für den militärischen Vorteil) und «verhältnismässig» (so klein wie möglich) bleibt. Es ist also der Krieg selber, der den Massstab liefert. Und mehr als ein Minimum an Menschlichkeit verteidigt das Recht im Krieg nicht. «Die Bezeichnung ‹humanitäres Völkerrecht› sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein nachgiebiges Instrument handelt», schreibt der Völkerrechtler Raphael Schäfer: «Es akzeptiert und autorisiert in gewissen Grenzen die Tötung von Menschen.»
Was heisst das für die Bemühungen, den Krieg zu zivilisieren? Wird er nicht opportuner, wenn humanitäre Standards versprechen, ihn weniger grausam zu machen? Genau das finden manche, als 1864 die erste Genfer Konvention zustande kommt, für die sich Dunant und sein Kreis eingesetzt haben. Ausgerechnet Florence Nightingale ist skeptisch. Die Engländerin hat als Sanitäterin das Publikum in Europa bewegt, mit ihrem Einsatz auf britischer Seite im Krimkrieg zehn Jahre zuvor. Nun befürchtet sie, der Schutz von Verwundeten und Helfern durch das Rote Kreuz und das Abkommen von Genf nehme den Regierungen Europas eine ethische Verantwortung ab – er biete ihnen «grössere Möglichkeiten, neue Kriege zu entfachen». Auch die österreichische Friedensaktivistin Bertha von Suttner spricht von einem «stillschweigenden Sanktionieren und Vorhersagen» neuer Kriege.
Noch ist bewaffnete Gewalt nicht völkerrechtlich verboten. Und doch sind dem Genfer Abkommen von 1864 auf Anhieb ein Dutzend europäische Staaten beigetreten, weitere folgen in den Monaten danach. Das ist ein Erfolg für Henry Dunant. Und wie der Erfolg seiner Rotkreuzbewegung hat auch er mit dem gesellschaftlichen Klima in Europa zu tun, mit nationalen Öffentlichkeiten, in denen das Leiden der eigenen Soldaten nicht länger unwidersprochen hingenommen wird.
Den politischen Entscheidungsträgern ist der Geist von Genf aber auch noch aus anderen Gründen willkommen. Das deutsche Königreich Preussen gehört zu den Erstunterzeichnern der Konvention, und der preussische Kriegsminister spricht von einem Segen – mit Blick auf seine Kasse. Die Arbeit gemeinnütziger Hilfsvereine an der Front erspare dem Militär «sehr beträchtliche Kosten», und es könne diese Freiwilligen «rufen und entlassen, wenn immer es beliebt»: So hat die Führung des Roten Kreuzes selber ihr Projekt beworben.
«Ein Schlag ins Gesicht der Friedensidee»
Die Humanisierung des Kriegs scheint also eine zweischneidige Sache zu sein. Und das bekommt auch Henry Dunant persönlich zu spüren. Es ist im Oktober 1901, als die Nachricht die Runde macht, er sei mit grosser Mehrheit für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, der bald zum ersten Mal vergeben werden soll. Das könne nicht sein, heisst es in der «Friedens-Warte», einem zentralen Organ der pazifistischen Bewegung, und es dürfe nicht sein. Das Rote Kreuz sei zwar ein «ungeheurer Kulturfortschritt». Aber es habe «mit dem Gedanken des Pazifismus absolut keinen Zusammenhang». Mehr noch: «Eine Krönung Dunants mit dem Nobelpreis wäre ein Schlag ins Gesicht der Friedensidee, die ja den Krieg beseitigen will und sich nicht zufrieden gibt, wenn seine Schäden durch eine immer verspätete Humanität nur um ein Weniges gemildert werden. Das Werk Dunants setzt den Krieg voraus, und es wird niemals dahin führen, den Krieg zu beseitigen, denn es erleichtert das Gewissen der für den Krieg Verantwortlichen.»
Dunant wird den Nobelpreis dann trotzdem erhalten, im Dezember 1901. Genau wie zehn Jahre später Alfred Hermann Fried, der Pazifist, von dem die Tirade in der «Friedens-Warte» stammt. Bei aller Kritik, die bis heute nicht ganz verstummt ist: Die humanitären Standards machen es dem Militär nicht einfacher, sondern schwerer, Kriege zu führen. Zumal es nicht bei der ersten Genfer Konvention bleibt.
Das «ius in bello» wird in den folgenden Jahren und Jahrzehnten ausgebaut. Neue internationale Abkommen folgen, sie erweitern den Schutz auf Schiffbrüchige, Kriegsgefangene und Zivilisten; 1949 werden die vier Genfer Konventionen überarbeitet und in die heutige Form gebracht, danach kommen «Zusatzprotokolle» hinzu. Ursprünglich auf internationale Kriege gemünzt, dehnt man das Völkerrecht im Lauf der Zeit zudem auf Bürgerkriege und andere gewaltsame Konflikte aus, die nicht zwischen Staaten, sondern innerhalb eines Staates ausgetragen werden.
Und es gibt nicht nur Genf. Während sich das «Genfer Recht» die schutzbedürftigen Personenkreise bestimmt, werden mit Konferenzen in Den Haag die technischen Möglichkeiten der Kriegsführung begrenzt. Dabei geht es bald um biologische und chemische Waffen, Landminen, Brandbomben, Streubomben. Doch zunächst einmal verbietet es das «Haager Recht», Sprengkörper aus Ballonen abzuwerfen.
Wie hält man den Krieg kurz?
Für die Armeen bedeutet dies alles: Verzicht auf Schlagkraft. Und das in einer Ära, in der bewaffnete Gewalt noch nicht verboten und ein verbreitetes Ideal von Militärs und Politikern die «energische Kriegsführung» ist. «Je energischer Kriege geführt werden, desto besser für die Humanität», heisst es im «Lieber Code», denn «heftige Kriege sind kurz», und «das letztgültige Ziel des Kriegs ist die Wiederherstellung des Friedens». Das klingt heute fragwürdig, aber es hat seine Logik, solange man an den Krieg als legitimes Mittel glaubt, um in Konflikten zwischen Staaten zu einem Entscheid zu kommen und damit Unfrieden aus der Welt zu schaffen. Dann legt man diesen Weg tatsächlich besser schnellstmöglich zurück.
So denkt man damals nicht nur in den USA. Gegen eine weitere «Humanisierung des Kriegsrechts» sei grundsätzlich nichts einzuwenden, erklärt der Jurist Carl Lueder im deutschen «Handbuch des Völkerrechts» von 1889 – aber nur dann, wenn solche Rücksichten dem «Zweck des Krieges» nicht in die Quere kämen, also dem Sieg über den Gegner. Abgesehen davon: «Das Allerinhumanste ist ein Hinziehen des Krieges. Wahre Humanität fordert eine möglichst energische und rücksichtslose Kriegsführung.»
Das kann man tatsächlich nur noch so lange behaupten, wie Kriege überhaupt erlaubt sind. So zeigt sich hier, was das gern belächelte Kriegsverbot seit 1928 eben auch noch bewirkte: Die Abschaffung des Rechts zum Krieg hat auch die Art und Weise verändert, wie man über das Recht im Krieg urteilen kann und muss – darüber, wie Kriege geführt werden sollen.
Das betrifft auch die Vorbehalte der Pazifisten. Stimmt es, dass Kriege eher losgetreten werden, wenn das Völkerrecht und die humanitäre Hilfe die Gewalt mässigen und erträglicher machen? Die Bilanz ist eindeutig, jedenfalls jene, die der Völkerrechtler Raphael Schäfer zieht, wenn es um die bewaffneten Konflikte der Gegenwart geht: Keiner sei nur deswegen leichter oder schneller ausgebrochen, weil sich die Gegner auf jenes Minimum an Menschlichkeit berufen konnten, das die Genfer Konventionen verlangen. «Im Gegenteil: Das humanitäre Völkerrecht wird von gewissen Staaten durchaus als Bürde wahrgenommen, die einer effektiven Kriegsführung entgegensteht.»
Auch das: ein Fortschritt, trotz allem.
Literatur zum Thema
Oona Hathaway und Scott Shapiro: The Internationalists. How a Radical Plan to Outlaw War Remade the World. New York 2018.
Madeleine Herren: Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung. Darmstadt 2009.
Daniel-Erasmus Khan: Das Rote Kreuz. Geschichte einer humanitären Weltbewegung. München 2013.
Jörn Leonhard: Über Kriege und wie man sie beendet. München 2023.
Raphael Schäfer: Ein grausames Recht? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 74 (2024), S. 13–18.
Cora Stephan: Das Handwerk des Krieges. Berlin 1998.
Kerstin von Lingen: «Crimes against Humanity». Eine Ideengeschichte der Zivilisierung von Kriegsgewalt 1864–1945. Paderborn 2018.