Anjan Truffer ist Bergführer und Rettungschef der Bergrettung Zermatt. Viele Wintersportler realisierten nicht, welche Gefahren sie mit Ausflügen abseits der Piste auf sich nähmen, so seine Bilanz über die Unfälle der jüngeren Zeit.
Im Januar sind in den Schweizer Bergen unüblich viele Wintersportler verunfallt. Was ist los?
In den letzten Wochen sind in wenigen Tagen grosse Mengen von Neuschnee auf eine äusserst ungünstige Art und Weise auf die alte Schneedecke niedergegangen. Dabei konnte sich der neue mit dem alten Schnee nur ungenügend verbinden. Hinzu kamen sehr starke lokale Winde mit grossen Schneeverfrachtungen. Das führte zu erhöhter Lawinengefahr.
Der Klimawandel begünstigt extreme Wetterlagen. Auch in diesem Fall?
Nein, das hat mit dem Klimawandel nichts zu tun. Es handelt sich um ein bekanntes Wetterphänomen. Zustande kommt es nach langen winterlichen Trockenphasen. Im Altschnee bilden sich dabei kantige, salzkornartige Kristalle. Diese bilden eine Art Kugellager, mit welchem sich der neue Schnee nur sehr langsam verbinden kann.
Wintersportunfälle scheinen sich zu häufen. Entspricht dieser Eindruck der tatsächlichen Entwicklung?
Wir stellen eine gewisse Häufung fest, auch wenn nicht von einer explosionsartigen Zunahme gesprochen werden kann. Das hat allerdings auch ganz einfach damit zu tun, dass immer mehr Leute in die Berge kommen. Die Kapazitäten der Bergbahnen wachsen, die Pisten sind in hervorragendem Zustand – das zieht die Leute an. Da ist es nur logisch, dass es auch mehr Unfälle gibt.
Und inwiefern verändert sich das Verhalten der Wintersportler?
In verschiedener Hinsicht. Aus meiner Sicht machen sich aber nicht zuletzt die Folgen von Social Media im Wintersport bemerkbar – vor allem bei der jüngeren Generation: Sie sieht auf Tiktok und Instagram, wie die Topathleten abseits der Piste virtuose Freerides hinlegen. Das sieht in der Tat eindrücklich aus – doch manche vergessen, dass es sich dabei um absolute Profis handelt. Sie versuchen diese Sportler nachzuahmen und gehen dabei ein viel zu hohes Risiko ein.
Sind das Einzelfälle, oder handelt es sich um ein generelles Phänomen?
Generell beobachten wir seit Corona, dass sich viele Wintersportler von der Masse wegbewegen. Heute sind mehr Leute abseits der Piste unterwegs als noch vor einigen Jahren. Es gibt ein vermehrtes Bedürfnis nach einem individuellen Erlebnis. Wie viel dies mit der Pandemie direkt zu tun hat, kann ich nicht beurteilen. Es ist generell ein Trend zu mehr Sport und Erlebnis sichtbar.
Kommt den Leuten das Bewusstsein für die Risiken in den Bergen also abhanden – auch im Zusammenhang mit Lawinen?
Ich bin nicht sicher, ob die Risikobereitschaft wirklich steigt. Viele Leute sind sich einfach gar nicht bewusst, welche Gefahren sie auf sich nehmen. Sie realisieren nicht, wie gross die Lawinengefahr ist – und wie rasch es zu tödlichen Unfällen kommen kann. Es sind viele unerfahrene Leute unterwegs. Aber vielleicht ist es tatsächlich einfach auch so, dass der Menschheit der gesunde Menschenverstand etwas abhandenkommt . . .
Gleichzeitig wird die Ausrüstung im Wintersport immer besser. Das müsste sich eigentlich positiv auswirken.
Natürlich stellt das bessere Material einen Fortschritt dar – doch es hat auch Nachteile: Es ist heute viel einfacher, auf breiten Ski neben der Piste ins Tal zu kommen. Kein Vergleich mit den über zwei Meter langen Latten der Vergangenheit, mit denen man sich nur mit viel Übung durch Tiefschnee und Buckelpisten kämpfen konnte. Dass die Leute heute besser fahren, heisst deshalb nicht automatisch auch, dass sie es besser beherrschen und körperlich fitter sind. Sie profitieren von der besseren Ausrüstung. Etwas Weiteres kommt dazu.
Nämlich?
Nicht nur die Ski und die Pistenpräparation verleihen Sicherheit. Jeder Wintersportler trägt inzwischen einen Helm, viele gehen nur mit Rückenpanzer auf die Piste. Das ist zwar sinnvoll. Doch es kann auch dazu führen, dass man sich in falscher Sicherheit wiegt. Es kann auch ein Anreiz dazu sein, mit hohem Tempo zu fahren. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden – aber man sollte sich nicht überschätzen.
Gibt es deshalb auch auf den Pisten mehr Unfälle? Im Januar kam es in Adelboden zu einem tödlichen Unfall.
Ich glaube nicht, dass man diesen Unfall mit der geschilderten Entwicklung erklären kann. Es ist manchmal halt einfach auch Pech dabei. Da unterscheidet sich der Wintersport gar nicht so sehr vom Autofahren: Wenn Millionen unterwegs sind, passieren leider auch Unfälle. Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit.
Was bedeutet dies alles für die Wintersportorte, die für die Sicherheit sorgen müssen?
Der Standard war in der Schweiz schon immer hoch. Aber in den letzten Jahren sind die Sicherheitsvorkehrungen noch einmal verstärkt worden. Auch das hat mit dem wachsenden Ansturm in den Bergen zu tun. Wenn es viele Wintersportler hat, sind auch die Herausforderungen in Bezug auf die Sicherheit gross. Ausserdem verlangen nicht nur die Kunden einen Topstandard in Bezug auf die Sicherheit, sondern auch die Versicherungen. Es ist deshalb in jeder Hinsicht im Interesse des Schweizer Wintertourismus, dass wir hier führend bleiben.
Sicherheit in den Bergen: Ist das ein Phänomen, das nur im Winter an Bedeutung gewinnt – oder ist dies im Sommer ähnlich?
Wir sehen im Sommer eine ähnliche Entwicklung – und zwar vor allem im Bike-Bereich. Auch Downhill-Biking ist mit Risiken verbunden, die für uns bis vor einigen Jahren kaum eine Rolle spielten. Mit den E-Mountain-Bikes kann heute jeder in die Berge fahren – egal, wie es um die Fitness steht. Auch dort verzeichnen wir deshalb eine Zunahme von Unfällen. Wir sehen auch viele Marathonläufer und Trailrunner, die sich als Speed-Bergsteiger versuchen, ohne irgendwelche Erfahrung im alpinen Gelände zu haben.