Die frühere Skirennfahrerin Weirather sagt vor den WM in Saalbach, was sie an Lindsey Vonn beeindruckt. Und erklärt, weshalb Neuerungen beim Material so schwierig umzusetzen sind.
Tina Weirather, was dachten Sie, als Sie zum ersten Mal von Lindsey Vonns Comeback-Plänen hörten?
Zuerst habe ich den Gerüchten nicht geglaubt. Dann kam in Sölden die Bestätigung, und als ich das erste Trainingsvideo aus Copper Mountain sah, dachte ich: Wow! Da erkundigte ich mich zunächst, was das genau bedeutet, was sie im Knie hat: eine halbe Knieprothese. Als sie dann Vorfahrerin in Beaver Creek war, ist mir die Kinnlade heruntergefallen, ich war begeistert.
Mittlerweile ist sie sieben Rennen gefahren. Zeigt sie das, was Sie erwarteten?
Ich dachte, sie hätte Mühe in St. Anton und schlägt dann in Cortina zu. Nun war es umgekehrt, in St. Anton lief es besser. Und sie ist im Flachen momentan nicht mehr schnell. Das ist atypisch für Lindsey.
In St. Moritz hatte man das Gefühl, dass sie heute überlegter fährt als früher. In Cortina lehnte sie sich wie früher zu stark in die Kurve.
Ja, dieses Gefühl habe ich auch. Wenn sie Gas gibt, kommt das alte Risiko zurück. Sie hat in ihrer Karriere zwar 82 Mal gewonnen, ist aber wohl auch ein Dutzend Mal so gestürzt, dass es richtig gekracht hat. In St. Moritz zeigte sie keine Fahrt mit Killerinstinkt, sondern einen sauberen Lauf mit vorbildlichem Hüftknick: Der Oberkörper ist gerade, die Beine machen den Winkel. Wenn es aber eng wird wie in Cortina, hat sie die Tendenz, riskanter zu fahren.
Dennoch ist das Comeback eindrücklich. Was zeichnet Vonn aus? Wieso schaffte sie die Rückkehr nach sechs Jahren so einfach?
Sie hat ein gutes Gefühl für den Ski, ihre Stärke ist der Wechsel. Einen guten Schwung können viele fahren. Aber sie kann diese Verbindung der einzelnen Kurven richtig auf Zug machen, genau in dem Radius, für den der Ski gebaut worden ist. Das hat sie noch genauso drauf wie damals, das ist ganz tief drinnen automatisiert. Und ihre Erfahrung auf den Strecken ist nicht weniger wert, nur weil es ein wenig länger her ist. Dass sie die bisherigen Resultate trotz weniger schnellen Gleitstücken erzielt hat, ist erstaunlich.
Ihr Skifahrerinnen sagt immer, dass man schon nach der Sommerpause das Gefühl für die Ski neu finden müsse.
Lindsey hat auch Zeit gebraucht. Aber schon in Copper Mountain steigerte sie sich innert sechs, sieben Trainingstagen enorm. Zudem hilft ihre Einstellung, ihre Mentalität. Sie sagt in jedem Interview, dass sie schnell sei. Mit dem Selbstvertrauen, das sie ausstrahlt, sagt sie eigentlich: Ich bin die Beste, die es je gab. Beim Besichtigen rätseln andere, wie sie eine Stelle fahren sollen. Lindsey kommt hin und findet es überhaupt kein Problem. Als wir beide noch fuhren, sagte sie einmal zu mir: «Weisst du, ich kann alles fahren, ich mache mir nur Sorgen um die anderen.» Und sie meint es so.
Was sagt es über das Niveau in den Speed-Disziplinen der Frauen aus, dass Vonn zurückkommt und gleich wieder in die Top 15 fährt? Da muss doch jede Skirennfahrerin, die in den letzten fünf Jahren trainiert hat und irgendwo zwischen 15 und 30 klassiert ist, die Ski in den Keller stellen wollen.
Lindsey ist eine Ausnahmeathletin, daher ist es schwierig, Vergleiche zu ziehen. Wenn Federer nach fünf Jahren wieder zurückkäme und andere besiegte, müssten die dann aufhören? Und ganz so glamourös sieht es noch nicht aus: Sie hat noch keinen Podestplatz, noch kein Rennen gewonnen, ist schon zweimal gestürzt. Wenn sie Weltmeisterin wird, würden die Leute den Kopf über die anderen schütteln, aber eine Lindsey Vonn gibt es halt nur einmal.
Dennoch fällt auf, dass die Dichte bei den Frauen nicht sehr hoch ist, die Startfelder im Speed klein sind und es noch etwa gleich viele Spitzenfahrerinnen gibt wie vor 10, 15 Jahren.
Es stimmt, dass das Niveau im Speed-Bereich nicht jede Saison gestiegen ist. Bis zu einem gewissen Grad ist das Material, sind die Strecken gleich geblieben. Auch skifahrerisch ist es nicht vorwärtsgegangen, ich habe das Gefühl, eine Lara Gut-Behrami fährt gleich gut im Speed wie vor zehn Jahren. Und ich habe mir die Siegesfahrt von Lindsey Vonn 2006 in St. Anton angeschaut: Das wäre auch heute noch sehr gutes Skifahren: Der Speed war gleich hoch, die Sprünge gingen gleich weit, technisch war sie auch schon gleich gut. Der Rest des Feldes ist vielleicht etwas näher gerückt. Ich glaube, wir verlieren viele Athletinnen durch Verletzungen. Bei den Frauen sind es noch mehr als bei den Männern, Kreuzbandrisse sind häufiger. Es gibt wohl mehr Frauen, die sagen: «Danke, lieber nicht.»
Für Hirscher war das Comeback schwieriger. Liegt das an den Disziplinen oder der höheren Leistungsdichte bei den Männern?
Es ist wohl eine Kombination. In den technischen Disziplinen ist die Startnummer 31 ein grösserer Nachteil als in Speed-Disziplinen. Im Riesenslalom ist es am schwierigsten, nach vorne zu kommen, denn dort fahren so viele mit, die Speed-Fahrer wie die Slalomfahrer. Und im Slalom brauchst du viel Schnellkraft, die im Alter mehr nachlässt, als jene Qualitäten nachlassen, die man im Speed-Bereich braucht. Dann sind bei den Frauen weniger am Start, und es gibt weniger Athletinnen, die gewinnen können. Ich glaube aber, Hirscher wäre im Verlauf der Saison gut geworden. In Sölden erreichte er die drittbeste Zeit im zweiten Lauf, das hatte Lindsey noch nie.
Aus athletischer Sicht wäre es möglich, länger Ski zu fahren, das zeigt der Franzose Johan Clarey, der noch bis 42 fuhr. Aber ist die Zermürbung zu gross, weil der Sport körperlich sehr anspruchsvoll ist und keiner ohne Verletzung durchkommt?
Es ist eine körperliche wie auch eine mentale Zermürbung. Es passieren ja nicht nur deine eigenen negativen Geschichten, sondern auch jene der Teamkolleginnen und Konkurrentinnen. Dein Rucksack wird immer schwerer, und irgendwann kannst du ihn nicht mehr tragen – ausser, du bist anders gestrickt. Mein Rucksack wäre zu schwer für ein Comeback. Aber Lindsey empfindet das nicht so. Ich weiss nicht, ob sie keinen Rucksack hat oder ob es ihr egal ist, wie schwer er ist. Der Wille muss grösser sein, als der Rucksack schwer ist.
Sie sind gegen Ende der Karriere einmal wegen eines schlechten Gefühls nicht gestartet.
Ich hatte damals Materialprobleme und überhaupt kein Gefühl auf den Ski, keinen Grip. Morgens beim Aufstehen fühlte es sich gleich an wie ein andermal, als ich mich verletzt hatte. Ich erinnerte mich an den Moment im Rettungshelikopter, als ich mir versprochen hatte: Wenn ich mich nochmals so fühle, dann sage ich Nein. Dort hatte ich mein schlechtes Gefühl zur Seite geschoben und mich dann verletzt. Du musst in diesem Sport täglich über die Grenzen gehen. Der Körper schreit: Nicht so schnell! Aber du gehst schneller. Der Körper sagt: Nicht nochmals eine Fahrt! Aber du machst nochmals eine Fahrt. Du musst diese Stimme beiseiteschieben, immer pushen – und musst dann im richtigen Moment doch auf sie hören. Das ist schwierig.
Wie findet man den richtigen Moment, um dieser Stimme zuzuhören?
Es braucht wohl ein paar Verletzungen bis dahin. Denn wie willst du wissen, wo das Limit ist, wenn du es nie überschritten hast? Ich hatte diese Verletzungen und versucht, den Moment zu spüren. Zum Glück kam dieser nicht häufiger vor.
Tina Weirather: früher oft verletzt, heute Ski-Expertin
eva. Die 35-jährige Liechtensteinerin Tina Weirather ist die Tochter der ehemaligen Skirennfahrer Hanni Wenzel und Harti Weirather. Sie gewann in ihrer Skikarriere neun Weltcup-Rennen sowie je eine WM- und eine Olympiamedaille im Super-G. Die Speed-Spezialistin erlitt aber auch zahlreiche Verletzungen, unter anderem vier Kreuzbandrisse. Sie trat 2020 zurück. Heute ist Weirather Expertin beim SRF, verheiratet und hat einen Sohn.
Nimmt die Eigenverantwortung zu? Neben Ihrem Beispiel gab es jenes von Lara Gut-Behrami, die einmal nach dem ersten Tor abschwang oder in Sölden nicht startete. Und nun sagte Marco Odermatt in Kitzbühel: Heute war nicht der Tag, um mein letztes Hemd zu riskieren. Hat sich da etwas geändert?
Ich glaube schon. Das waren alles gute Beispiele, das Beste ist für mich aber Mikaela Shiffrin. Sie hat es geschafft, gar nie gierig zu werden. Ich denke, dass sie den Riesenslalom an den WM nicht fahren wird. Der erste Slalom nach ihrer Verletzungspause ist in die Hose gegangen, nun trainiert sie, bis sie wieder gewinnt, erst dann nimmt sie die nächste Disziplin dazu. Sie hat schon auf eine Olympia-Kombination verzichtet, als jeder dachte: Du musst für Gold nur runterfahren! Das finde ich inspirierend für junge Athleten und ihre Eltern, die eine Karriereplanung angehen. Als ich in den Weltcup kam, war das Harakiri: Ich fuhr möglichst viele verschiedene Rennen, um Erfahrung zu sammeln. Aber Shiffrin redete mit 16 schon davon, wie sie ihre Karriere langfristig aufbauen will. Ich dachte damals: Das kann man doch nicht planen! Doch es ging eins zu eins auf.
Eines der Hauptthemen in diesem Winter sind die vielen Verletzungen. Es wird über die Pistenpräparation diskutiert, über die Aggressivität des Materials. Welche Möglichkeiten sehen Sie, um die Verletzungen zu reduzieren?
Ich bin gemeinsam mit Beni Raich als Beraterin in der AHU, der Athlete’s Health Unit des Weltverbands FIS. Dort erlebe ich, wie das läuft – und es ist frustrierend. Das Thema ist komplex, und je mehr du drin bist, desto mehr merkst du, wie schwierig es zu lösen ist. Es gäbe ein paar einfache Dinge: schnittfeste Unterwäsche, der Airbag, rauere Anzüge. Durch Letztere würde die Fahrerin nach dem Sturz langsamer und nicht schneller, bis sie im Netz aufschlägt. Nichts davon ist bisher umgesetzt worden. Bei den Anzügen haben wir nun eine Chance, dass es klappt, aber es gibt Gegenwind: Die Anzüge seien für den Athleten sogar gefährlicher, sagen Kritiker, je nachdem, wo die Nähte gesetzt seien. Und: Es ginge nur über einen Einheitsstoff, aber welche Firma darf diesen produzieren? Es ist wirklich schwierig. Und wenn wir Dinge umgesetzt haben, dann wurden sie am Schluss entweder von den nationalen Verbänden oder den Athleten wieder im letzten Moment gekippt. Wie beim Airbag mit den Ausnahmebewilligungen.
Es fehlt ein starkes Gremium wie in der Formel 1, das bestimmt, wie die Regeln sind. Denn die Athleten selber denken immer an den Wettkampfsvorteil, nicht an die Sicherheit.
Genau. Deshalb sollte man nicht die Athleten fragen, wenn es um die Sicherheit geht. Der Mensch mag keine Veränderung. Als im Weltcup das Helmobligatorium eingeführt wurde, sagten die Slalomfahrer, sie verlören die Balance, weil sie nichts hörten. Du brauchst also eine starke Hand, die etwas vorgibt, nur: Bei der FIS sagen alle, dass man nicht auf sie höre, aber es ist ein demokratischer Verband. Zumindest im Sicherheitsthema hat sich das auch nicht geändert, seit Johan Eliasch Präsident ist. Aber meistens sind die Athleten und die nationalen Verbände dagegen – und zwar die gleichen, die sagen: «FIS, mach mal was!» Wir laufen im Kreis.
Zwei, die trotz allen Risiken immer noch starke Fahrerinnen sind, sind Lara Gut-Behrami und Federica Brignone. Mit 33 und 34 Jahren brechen sie im Skizirkus Altersrekorde. Hat sich etwas verändert, dass die Karrieren länger werden?
Bei meiner Mama war es so, dass ihre Mutter zu ihr sagte: «Wenn du mit 30 nicht verheiratet bist und Kinder hast, denkt man, du bist komisch.» Deswegen musste sie mit 27 aufhören, denn es war gesellschaftlich nicht okay. Heute ist es für eine Frau einfach okay zu sagen: «Ich bestimme über mein Leben, ich will noch Ski fahren.»
Die österreichische Speed-Fahrerin Tamara Tippler versucht gerade ein Comeback nach der Geburt ihres ersten Kindes. Hätten Sie sich das vorstellen können, als Mutter Ski zu fahren?
Nein, aber ich habe mich auch nicht darauf eingestellt. Es ist alles eine Einstellungssache und eine Frage, wie sehr du etwas willst. Eine Gemeinsamkeit von Tippler und Vonn darf man nicht unterschätzen: wie wichtig es ist, dass du selbstbestimmt aufhören kannst. Deswegen war ich in meiner letzten Saison nicht mehr schnell, ich wollte den Deckel selber schliessen und nicht wegen einer Verletzung aufhören müssen. Tamara wurde schwanger und hätte aufhören müssen, bei Lindsey war der Rücktritt verletzungsbedingt. Solche Dinge verfolgen dich ewig. Manchmal reden Leute nach zwei Bier davon, dass sie in der Jugend Ski gefahren seien und nicht hätten aufhören sollen. Es plagt sie heute noch. Gebt den beiden diese Zeit, bis sie selber sagen: «Jetzt ist gut.»