Der albanische Sänger ist am Opernhaus Zürich mit einem herausfordernden Rollendebüt in Puccinis «Manon Lescaut» zu erleben. Ein Gespräch über eine Kindheit im Kommunismus und den Balanceakt zwischen Hingabe und Präsenz auf der Bühne.
Es war einmal ein kleiner Junge in Albanien vor dem Fernseher, der eines Tages seinem Traum begegnete. So könnte sie beginnen, die Geschichte von Saimir Pirgu, dessen Biografie ohne Frage etwas Märchenhaftes an sich hat, magischer Erweckungsmoment, gute Geister und schicksalhafte Wendungen inklusive. Im Kern aber ist Pirgus Weg ein Lehrstück über die Kraft intrinsischer Motivation.
Mit 43 Jahren ist der Tenor heute international unterwegs und füllt die grossen Partien seines Fachs mit aussergewöhnlicher Bühnenpräsenz und emotionaler Hingabe aus. Als er am 23. September 1981 in Elbasan auf die Welt kam, lag diese Zukunft in weiter Ferne. In Albanien herrschte eine kommunistische Diktatur, und Pirgu kam in seiner Kindheit kaum über die Stadtgrenzen hinaus. Die Oper kannte in seinem Umfeld niemand, stattdessen erklang auf den Strassen nationale Volksmusik. Obwohl seine Eltern keinerlei musikalische Vorbildung hatten, übte die Welt der Klänge früh eine magische Anziehungskraft auf Pirgu aus. «Die Musik war von Anfang an in mir», sagt er.
Vorbild Pavarotti
In der Vorschule wurde er als besonders talentiertes Kind für den Geigenunterricht angemeldet. Wirklich warm geworden ist er in den folgenden zehn Jahren freilich nie mit dem ihm auferlegten Instrument. Und doch: «Auch wenn das damals nicht mein Wunsch war, hat mir das Geigenspiel viel gebracht. Bei der Geige muss man extrem fein hören und den Klang erst einmal suchen – das hilft mir bis heute.»
Seine wahres Berufsziel erkannte der damals 13-Jährige, als eines Abends eine Aufzeichnung des Auftritts der legendären «Drei Tenöre» in den Caracalla-Thermen im Fernsehen lief. Was genau damals im Wohnzimmer in Elbasan passierte, lässt Pirgu noch heute um Worte ringen. «Ich sah da diese drei Männer, wie sie Opernarien sangen, sah den Dirigenten, die Bewegungen seiner Hände, sah das begeisterte Publikum – und war einfach komplett gefangen von diesem Erlebnis.» Alles daran sei neu für ihn gewesen, wie im Fieber habe er noch Tage danach versucht, die Sänger zu imitieren. «Damals entstand der Traum in mir, irgendwann einmal einer von ihnen zu sein.»
Gepackt von dieser Vision, hat er dann seinen weiteren Weg geplant und sich schliesslich für ein Studium in Bozen beworben. Seine Eltern haben ihm vertraut und ihn unterstützt. «Sie kannten meine Welt nicht. Dadurch war ich zwar komplett frei, aber auch allein in meinen Entscheidungen», erzählt Pirgu.
Der Kaltstart in Italien war entsprechend schwierig. Pirgu arbeitete als Küchengehilfe, um sein Leben zu finanzieren. In Vito Brunetti fand er einen Professor, der ihm die Augen geöffnet habe. «Mein Lehrer hat mir früh gesagt: ‹Du hast eine schöne Stimme und grosses Talent – jetzt lerne so viel wie möglich, denn das Talent reicht nur kurz, und wenn du Erfolg hast, darfst du die Menschen nicht enttäuschen.›» Pirgu hat damals schnell verstanden, wovon Brunetti sprach: «Erst einmal denkt man, man sei der grösste Sänger der Welt. Dann macht man seine ersten Erfahrungen, hört andere und merkt: So einfach ist das nicht.»
Nach nur zwei Jahren Studium schickte Brunetti seinen Zögling auf die Bühnen, um dort «hundertmal mehr zu lernen, als wenn du noch weiter studierst». Pirgu traf rasch auf Künstler wie Nikolaus Harnoncourt, Riccardo Muti oder Claudio Abbado. An jeder dieser Begegnungen sei er selbst gewachsen. «Ich hätte diese Karriere nie gemacht, wenn ich diesen Menschen nicht begegnet wäre.» Über allen aber steht für Pirgu bis heute Luciano Pavarotti – als Idol und als Vorbild, an dem er sich selber misst.
Dass er selbst inzwischen zu den gefragtesten Vertretern im Tenor-Fach zählt, macht ihn demütig. «Es gab eine Zeit, in der ich Angst hatte, plötzlich aufzuwachen und zu realisieren, dass mein Leben gar nicht echt ist.» Aber mittlerweile hat er begriffen, dass sein Traum Realität geworden ist, und spricht mit Dankbarkeit von dem «schwierigen und gleichzeitig ganz wunderbaren Leben», das er führen dürfe. Im Gegensatz zu etlichen seiner Kollegen liebt er das viele Reisen in seinem Beruf. «Ich durfte die Welt kennenlernen in den vergangenen Jahren. Wer in Freiheit und Vielfalt geboren wurde, kann womöglich nicht nachvollziehen, was für ein Glück das ist.»
Sinn für abgründige Charaktere
Die Begeisterungsfähigkeit und das Staunen seiner Kindheit hat sich Saimir Pirgu bei aller Professionalität und Reife bewahrt, und vielleicht sind es genau jene Facetten, die die besondere Intensität seiner Interpretationen ausmachen. In Zürich hat er bereits als Pinkerton in «Madama Butterfly» gezeigt, wie eindrücklich er auch in abgründige Rollen zu schlüpfen vermag. Nun gibt er den Renato Des Grieux in Puccinis Oper «Manon Lescaut», einen der ambivalenten Frauenfigur komplett verfallenen Mann, der sich selbstlos aufopfert. «Des Grieux ist jung, ein bisschen naiv und wirft sich kompromisslos hinein in seine Liebe zu Manon», sagt Pirgu.
Wie Puccini das Drama dieser Liebe ausgestaltet hat, sei einzigartig. Der Komponist sei sehr jung gewesen, als er die Oper geschaffen habe, und er habe sich offensichtlich nicht viele Gedanken darüber gemacht, was ein Sänger hierfür können müsse und wie herausfordernd das sei. «Er hat einfach voller Hingabe komponiert, und das spürt man in jedem Moment. Da ist unglaublich viel wilde Leidenschaft, Freiheit und Kreativität in der Musik.»
Diese Wucht und Intensität auszuleben und ganz in die Rolle hineinzugehen bei gleichzeitig höchstem technischem Anspruch, das sei ein extremer Balanceakt. «Du kannst auf offener Bühne von deinen Emotionen gekillt werden», sagt Pirgu, schliesslich sei er als Sänger emotional und musikalisch komplett involviert in die Musik und müsse obendrein als Schauspieler überzeugen. «Gleichzeitig darf ich nicht komplett die Kontrolle verlieren.»
Irgendwo zwischen Hingabe und Präsenz liegt für Pirgu das Geheimnis verborgen, das im besten Fall zu einem transzendentalen Wunder auf der Bühne führe. «Manchmal realisiere ich erst später beim Ansehen eines Mitschnitts der Aufführung, was ich da getan habe. Wenn ich ganz verbunden bin mit den anderen Musikern und dem Publikum, ist es, als ob ich meinen Körper verlasse», sagt Pirgu. Ein surrealer Moment sei das. Fast wie im Märchen.