Die Schweiz ist eine Insel, das WEF eine Insel in der Insel und Mutter Helvetia eine janusköpfige Göttin. Kunstschaffende lieben Klischees, wenn sie über die Schweiz nachdenken: eine Ausstellung im Aargauer Kunsthaus.
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine bewegt hierzulande der Begriff der Neutralität wieder die Gemüter. Die Meinungen und Haltungen dazu, was denn Neutralität überhaupt bedeutet, nehmen sich allerdings alles andere als neutral aus. Jeder scheint etwas anderes darunter zu verstehen.
Die vielleicht urschweizerischste Gretchenfrage lautet denn auch: Wie hältst du es mit der Neutralität? Und immer auch hat sie Kunstschaffende umgetrieben, ob diese nun in der Schweiz tätig sind oder sich einfach in ihrem Schaffen mit der Schweiz befassen.
Kunst aber, das wird schnell klar, ist kaum je neutral. Künstler wollen Stellung beziehen mit ihren Werken. Das zeigt jetzt eine Ausstellung im bedeutendsten Museum für Schweizer Kunst. Das Aargauer Kunsthaus, dessen Sammlung stark auf das hiesige Kunstschaffen ausgerichtet ist, zeigt 14 Positionen zum Schweizer Modell Neutralität. Die Werke reflektieren Selbstbilder der Schweizer, aber auch das Image, mit dem Helvetia gegen aussen auftritt. Und damit das Aargauer Kunsthaus selber möglichst neutral auftritt, ist die Schau so multiperspektivisch wie möglich gehalten.
Von grundsätzlicher Neutralität des Kuratoriums kann aber selbstverständlich keine Rede sein. Es musste schliesslich eine Auswahl getroffen werden. Das zeigt sich schon beim ersten ausgestellten Werk. Es stammt von einem Künstler, der der Kunstinstitution in Aarau zumindest geografisch nahesteht: vom Aargauer Guido Nussbaum. Und er bedient gleich auch eines der gut bekannten Klischees über sein Heimatland.
Inselmythen
Nussbaums grossformatige Fotografie «Schweizer Welt» zeigt einen Globus, dessen Landmasse allein aus der Schweiz besteht. Die Schweiz als eine Insel im weiten Ozean, ganz ohne Ausland, zu dem sie sich irgendwie zu verhalten hätte.
Dasselbe Klischeebild greift auch Aleksandra Mir in ihrer wandfüllenden Filzstiftzeichnung «Island of the Dead» auf. Dafür hat sie das berühmte Gemälde «Toteninsel» des Schweizer Künstlers Arnold Böcklin als Vorlage verwendet. Böcklins schwermütiges Werk eines mit Zypressen bestandenen Felseneilands in schwarzem Gewässer gilt als eine Ikone der Schweizer Kunst.
Von dem Bildmotiv, das in fünf Fassungen existiert, war auch Adolf Hitler angetan. Eine Version zierte sein Privathaus, dann die Reichskanzlei. Der schwedisch-amerikanischen Künstlerin dürften diese Hintergründe bekannt sein. Mit ihrer «Toteninsel»-Version, die 2006 anlässlich ihrer Ausstellung «Switzerland and Other Islands» im Kunsthaus Zürich entstanden ist, verweist sie jedenfalls auf die dunklen Kapitel der neutralen Schweiz während des Zweiten Weltkriegs.
Sie zeigt ihre Böcklin-Insel umschlossen von einem dichten, an Strassensperren erinnernden Kranz von gekreuzten Gebeinen und Totenköpfen. Die Schweiz als rettende Insel der Freiheit und Sicherheit, die gleichzeitig ihre Grenzen dichtmacht – geografische Abschottung gleichsam als Tod: Wer sich als neutrales Land aus allem herausnehme, drohe am Ende gar nicht mehr zu existieren, so könnte die Botschaft dieser Arbeit lauten.
Das Goldland
Um Klischees jedenfalls kommt die Schau nicht herum. Wer sich als Kunstschaffender zu Aspekten der Alpennation äussern will, muss fast zwangsläufig mit plakativen Bildern arbeiten. Manchmal auch mit Klischeebildern, die gleichzeitig so viel Wahres enthalten, dass sie weh tun. Eine kaum neutrale politische Position bezieht die Aargauer Künstlerin Denise Bertschi nach ihren jahrelangen Recherchen zur Rolle der Schweiz als vermeintlich neutrale Akteurin in der Weltpolitik.
In ihrer Videoinstallation «Confidential» richtet sie das Augenmerk auf die oft unscheinbaren Fassaden von Schweizer Finanzinstitutionen und Gebäuden in Johannesburg und Pretoria, die in den fünfziger und sechziger Jahren mit dem Goldhandel in Südafrika verbunden waren.
Der politische Hintergrund dazu ist soweit bekannt: Die Neutralität der Schweiz ermöglichte es dem Schweizer Bankenplatz, den lukrativen Handel mit südafrikanischem Gold weitgehend zu übernehmen, nachdem dieser weltweit von der internationalen Sanktionspolitik gegen den Apartheid-Staat eingedämmt worden war. Neutralität und Opportunismus gehen in Bertschis Arbeit gleichsam Hand in Hand.
Die problematischen Ursprünge des Rohgolds, das in Tessiner Anlagen raffiniert und in Goldbarren und Goldvreneli umgewandelt wird, werden in der Schweiz sozusagen neutralisiert. Im helvetischen Paradies scheint sich alles Negative wie von Zauberhand in Glück und Freude zu verwandeln. So jedenfalls sieht das Guerreiro do Divino Amor in seiner Videoinstallation «Das Wunder der Helvetia».
Guerreiro do Divino Amor: «Das Wunder der Helvetia», Details aus der mehrteiligen Multimediainstallation.
Suisse miniature
Der schweizerisch-brasilianische Künstler mit dem auffälligen Nom de Plume, der auf Deutsch so viel wie «Krieger der göttlichen Liebe» bedeutet, hat an der letzten Biennale von Venedig den Schweizer Pavillon bespielt. Er ist in Genf geboren und in Brasilien aufgewachsen. Damit hat er einen speziellen Zugang zur Schweiz – und liebt es, mit Klischees zu spielen: Er sieht ein Land von Gold, Uhren, Käse und Schokolade, von SBB und Banken, Heidi und Sennenhunden.
Im Zentrum seiner opulenten, mit Film und architektonischen Versatzstücken operierenden Installation steht die Mutter der eidgenössischen Heimat: die allegorische Figur der Helvetia. Die Büste ist allerdings janusköpfig, das eine Gesicht scheint alles mit stechendem Röntgenblick zu kontrollieren, das andere hingegen scheint blind zu sein oder verschliesst ganz einfach die Augen vor allem, was nicht ins schöne Bild passt.
Guerreiro zeigt die Schweiz als eine Fantasy-Welt: ein fiktives Ideal von Schönheit, Reichtum und Vollkommenheit im Zeichen von heiligen Werten wie eben der Neutralität. Da geht es um die Sichtbarmachung von Mythenbildung mit den künstlerischen Mitteln massloser Überzeichnung von vermeintlich typisch Schweizerischem. Damit will uns der Künstler zeigen, dass das helvetische Konstrukt vor allem in den Köpfen existiert: die Schweiz als das, was wir uns unter ihr vorstellen. Das kann eigentlich fast alles sein. Nur neutral ist das gewiss in den selteneren Fällen.
Etwas weniger utopisch nimmt sich die Schweizer Insel der Glückseligen beim Enfant terrible unter den Schweizer Kunstschaffenden, Thomas Hirschhorn, aus: «Ich will diese ganze Scheisse aufzeigen, diese Verknüpfungen zwischen Schlittelbahn, Hockey-Club Davos, Bill Gates und dem Heimatmuseum . . . » Damit meint er die Insel in der Insel: den Hochsicherheitstrakt Davos während des Weltwirtschaftsforums (WEF).
Hirschhorn stellt die Alpenstadt und Gastgeberin des WEF als Suisse miniature dar. Seine vielteilige Rauminstallation «Wirtschaftslandschaft Davos» von 2001, die fast die gesamten 400 Quadratmeter des Neubaus des Aargauer Kunsthauses in Anspruch nimmt, zeigt eine Nachbildung des Davoser Bergtals aus Schaumstoff, mit Modelleisenbahn, Miniaturpolizisten, Militär, Panzern und viel Stacheldraht. Mit seinem plastischen Wimmelbild nimmt der Künstler die Romantisierung der kleinen Schweiz als neutrale Vermittlungsplattform der Weltpolitik und in dieser Rolle als erfolgreichen Global Player ins Visier.
«Ich will Kunst politisch machen – ich will keine politische Kunst machen», sagt der mitnichten neutrale Künstler, der für seine vernichtende Schweiz-Kritik bekannt ist. Man erinnert sich an den Skandal, als er 2004 in seiner Pariser Ausstellung «Swiss-Swiss Democracy» pantomimisch auf ein Bild des damaligen Bundesrats Christoph Blocher pinkelte. Weil das Aargauer Kunsthaus ein zumindest gegenüber der Kunst neutraler Ort ist, hat es 2010 Hirschhorns riesige Davoser Installation für seine Sammlung angekauft.
«Modell Neutralität», Aargauer Kunsthaus, bis 11. Mai.