Wo die Maoisten Pathos forderten, kennt der mutige chinesische Schriftsteller Wang Xiaobo in seinem deftig-burlesken Roman über die Kulturrevolution nur Sarkasmus und Spott. Nach über dreissig Jahren liegt das Buch jetzt endlich auf Deutsch vor.
Der Schriftsteller Wang Xiaobo, Jahrgang 1952, erlebte nur fünf kurze Jahre des Ruhms. Nachdem sein Debütroman, «Das Goldene Zeitalter», 1992 in Taiwan überraschend zum Bestseller geworden war, veröffentlichte der Pekinger in schneller Folge drei weitere grosse Romane sowie einige Novellen und Essays. 1997 starb Wang mit 44 Jahren. Erst nach seinem Tod konnten seine Werke in China erscheinen. Heute werden sie dort millionenfach gelesen.
Inhalt und Stil von «Das Goldene Zeitalter» stehen in krassem Widerspruch zum offiziellen chinesischen Geschichtsbild. Wang Er, der Ich-Erzähler, verfügt nämlich über ein extrem loses Mundwerk. Freizügig plaudert er über seine Jugend, ein behauptetes «goldenes Zeitalter», das zeitlich mit der glorreichen chinesischen Kulturrevolution (1966–1976) zusammenfällt.
Für den Kommunismus hat Wang Er jedoch wenig übrig. Viel interessanter ist sein «kleiner Mönch», der zuverlässig «wie ein Pfeil gen Himmel zeigt». Der Rektor an der Bergbauuniversität findet sein Auftreten «bedenklich»: «Der Genosse Wang Er fällt durch Missverhalten auf. Seine politische Haltung ist reaktionär, bei der Arbeit ist er chaotisch und nachlässig.»
Das Private ist politisch
Doch im Kern ist der respektlose junge Mann ein Idealist. Als Schüler muss er mit ansehen, wie ein von den Roten Garden terrorisierter Professor aus dem Fenster springt und in einer letzten Entwürdigung von der Polizei an Ort und Stelle entkleidet wird. Bekanntlich wurden während der Kulturrevolution Tausende «reaktionäre Akademiker» – Ärzte, Lehrer, Professoren – liquidiert oder in den Selbstmord getrieben. Eine berührende Szene in diesem an Empathie nicht eben reichen Roman handelt davon, wie die Angehörigen des Toten im Schutz der Nacht kleine Kerzen anzünden. Für Wang Er ist und bleibt der Verstorbene ein «Märtyrer».
Wie Millionen junge Städter wird auch Wang Er zum Arbeitseinsatz aufs Land abkommandiert. Dort lässt sich der sexuell Ausgehungerte mit einer Ärztin ein, die in die Provinz versetzt wurde, weil sie die Annäherungsversuche eines Militärs abgelehnt hatte. Wang zieht seine Geliebte gern damit auf, dass sie wegen ihrer angeblich zahlreichen Liebhaber den Spitznamen «ausgelatschter Schuh» trägt, die Folge einer offensichtlichen Rufmordkampagne. Und weil das Private ja politisch ist, zwingen maoistische Funktionäre die beiden bald, über jedes Detail ihrer Sexualität öffentlich Auskunft zu geben.
Doch Wang Er ist ein Mann der Widersprüche: Fast schon lustvoll beteiligt sich der von den Bauern ausgebeutete Student an Grausamkeiten gegen Tiere. Der hilflosen Hündin des verhassten Brigadeleiters schiesst er das verbliebene Auge aus. Beim Kastrieren von Bullen hält er, wie sein Vorgesetzter, fleissig mit dem Hammer drauf – bis er begreift, dass es auch ihm an den Kragen gehen wird. Seine rustikale Erkenntnis: «Leben heisst, dass man in einem langen, qualvollen Prozess die Eier mit dem Hammer zertrümmert kriegt.»
Dokument des Muts
Im Lauf des Romans entwickelt sich Wang Er jedoch vom instinktiv Handelnden zum reflektierenden Beobachter. Über Jahre verfolgt er als älter werdender, verheirateter und wieder geschiedener Universitätsangestellter das Schicksal von Professor Li, der den Kampf gegen das System aufnimmt, weil er sich mit einer Ungerechtigkeit nicht abfinden will.
«Eichelhämatom», wie der Professor nach einer Misshandlung absurderweise genannt wird, hält durch, obwohl das Regime den «enttarnten Trotzkisten» durch Arbeit zu vernichten sucht. Der tapfere Mann muss Brunnen ausheben, Kloaken leeren und schliesslich in der Provinz Henan im Kohlebergbau arbeiten. Wie im Märchen bekommt er dort plötzlich Besuch von seiner schönen, loyalen und wunderbar gebildeten Freundin – und weil Wang Xiaobo schrille Szenarien liebt, treibt es der zähe Professor schliesslich ausgerechnet auf dem Altar eines verlassenen Tempels für den daoistischen Hauptgott, den Jadekaiser.
Wang Xiaobo ist ein Meister darin, die grössten Ungeheuerlichkeiten in locker-sarkastischem Ton abzuhandeln. Die sexuelle Obsession erscheint heute allerdings etwas aus der Zeit gefallen. Die Protagonistinnen des Romans sind allerhöchstens Projektionsflächen – mit stets vollen Brüsten, schmaler Taille und wohlgeformten Hintern. Auch der weitgehend burleske Ton – im Grunde Bauerntheater – dürfte nicht jedermanns Sache sein.
Dennoch ist dieses Buch ein beeindruckendes Dokument des Muts und des Widerstands. Überraschenderweise mündet es gegen Ende in offene Gedanken zur europäischen Geschichte, beruft sich auf Persönlichkeiten – Märtyrer, muss man wohl sagen – wie die «Ketzer» Giordano Bruno und Johanna von Orléans. Natürlich mit kräftigen Details gewürzt, wenn es etwa um den geräderten Körper Brunos geht, der «von einem Meter sechzig auf drei Meter siebzig angewachsen war», bevor man ihn auf dem Schafott verbrannte.
Gefoltert fühlt sich auch Wang Er knapp 370 Jahre später in China: «Das Leben kam mir (. . .) vor wie eine dieser tibetischen Foltermethoden. Man wickelt einen Menschen in eine nasse Rinderhaut, dann legt man ihn in die Sonne, bis die Haut trocknet und sich so eng zusammenzieht, dass sie platzt.» Die Kulturrevolution, das «goldene Zeitalter» Chinas, das zeigt dieser Roman, war vor allem eine schreckliche Barbarei.
Wang Xiaobo: Das Goldene Zeitalter. Roman. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024. 286 S., Fr. 37.90.