Dass Wladimir Putin Russlands Präsidentschaftswahl gewinnt, steht schon jetzt fest. Die Kandidatur eines Liberalen wird aber plötzlich zu einem Signal des Protests der Kriegsgegner.
So eine freudige Erregtheit gab es unter russischen Oppositionellen im Exil und unter heimlichen Kriegsgegnern in Russland lange nicht mehr. Die Präsidentschaftswahl Mitte März, von vielen abgetan als Plebiszit mit bereits festgelegtem Ausgang, hat sich in den vergangenen Tagen in eine Gelegenheit verwandelt, zu zeigen: Die russische Gesellschaft ist nicht so monolithisch, wie es die Propaganda weismachen will.
Boris Nadeschdin heisst der Mann, der das geschafft hat. Er will russischer Präsident werden. Ins Rennen geschickt wird er von der rechtsliberalen Partei Bürgerliche Initiative, die bei der Präsidentschaftswahl 2018 mit der skandalumwitterten Showgrösse Xenia Sobtschak viele Oppositionelle brüskiert und ein miserables Ergebnis erzielt hatte.
Auch Nadeschdin wurde zunächst belächelt, als Feigenblatt des Kremls, als unglaubwürdiger Politiker mit Grössenwahn. Diese Skepsis ist nicht verschwunden, obwohl er in seinem Programm die zentralen Forderungen der Regimegegner nennt. Aber weil er geradeheraus sagte, er wolle Putin beerben und sei für die sofortige Beendigung der «militärischen Spezialoperation» in der Ukraine, wurde er zum Kristallisationspunkt derjenigen, die ein legales Zeichen gegen den Kreml setzen wollen.
Bürger stehen Schlange für Unterschriftensammlung
Als Kandidat einer nicht in der Duma vertretenen Partei hatte Nadeschdin für die Zulassung zur Wahl binnen vier Wochen 100 000 Unterschriften zu sammeln, die aus mindestens vierzig Provinzen stammen müssen. Das ist eine herkulische Aufgabe, wenn die Infrastruktur dafür in kürzester Zeit aus dem Boden gestampft werden muss und in der Gesellschaft ein Klima der Angst herrscht. Plötzlich bildeten sich aber in Moskau, St. Petersburg und anderen Städten Schlangen vor den Büros, in denen für Nadeschdin unterschrieben werden kann. Auch aus den Regionen meldeten erstaunte Helfer steten Zulauf.
Am Wochenende riefen exilierte russische Oppositionspolitiker – von den Mitstreitern Alexei Nawalnys bis zum früheren Erdölmagnaten Michail Chodorkowski – dazu auf, für Nadeschdin zu unterschreiben, obwohl sie meist untereinander zerstritten sind. Fast alle taten dies mit dem Hinweis darauf, dass ihnen der Politiker Nadeschdin nicht wirklich behage. Das Ziel ist ein anderes: Kriegsgegner verwandeln so Nadeschdins Kampagne in einen legalen Protest gegen Putins Russland – in Zeiten, in denen jeder öffentlich sichtbare Unmut hart unterdrückt wird.
Jahrelang der Buhmann im Fernsehen
Es ist eine unerwartete Rolle für Nadeschdin, vermutlich hat er sie gar nicht gesucht. Geboren 1963 in Taschkent in der damaligen Sowjetrepublik Usbekistan in eine russische Musiker- und Wissenschafterfamilie, ist er ein altes Schlachtross unter den russischen liberalen Politikern. Der Physiker, Jurist und zeitweilige Unternehmer ist zwar seit über dreissig Jahren politisch tätig, schaffte es aber nie in herausragende Positionen.
Derzeit ist er Abgeordneter in der an Moskau angrenzenden Stadt Dolgoprudny, wo er seit seiner Kindheit lebt. Von 1999 bis 2003 war er für die liberale Partei Union der rechten Kräfte stellvertretender Fraktionsvorsitzender in der Staatsduma. Davor hatte er eng mit dem 2015 ermordeten liberalen Politiker Boris Nemzow und mit Sergei Kirijenko, dem heutigen Chef der russischen Innenpolitik im Kreml, zusammengearbeitet, als dieser kurzzeitig Ministerpräsident war.
Einem breiteren Publikum bekannt wurde Nadeschdin aber dadurch, dass er sich jahrelang nicht zu schade dafür war, in den Talkshows der staatlich kontrollierten Fernsehsender als eine Art Hofnarr aufzutreten. Dort versuchte er den Propagandisten Paroli zu bieten. Warum er das auf sich nahm, im Wissen darum, dass er ohnehin niedergeschrien würde, wurde nie ganz klar. Viele Gegner des Kreml nahmen ihm das übel: Seine Auftritte suggerierten einen Pluralismus im Fernsehen, den es nicht gebe, und damit trage er das System mit. Die Geduld seiner Gastgeber endete offenbar, als er live im Fernsehen sagte, Russland brauche einen anderen Präsidenten, es müsse den Krieg gegen die Ukraine beenden und die Beziehungen zum Westen wiederherstellen.
Keinen Bogen um heisse Themen
Nun ist Nadeschdin in ganz anderen Sendungen präsent – in den vielen Youtube-Kanälen exilierter russischer Journalisten und Aktivisten. Man merkt diesen das ungläubige Staunen über die grossspurigen Aussagen des Sechzigjährigen an. Auf die Frage der populären Politologin Jekaterina Schulmann, ob er denn nicht um seine Sicherheit fürchte, meinte Nadeschdin, die süsseste Phase seines Lebens liege hinter ihm. «Ich fürchte nichts, ich bin zu allem bereit.» Gott habe ihn in diese Rolle gesetzt; das Schicksal sei nicht mehr in seinen Händen. Immer wieder betont er seine politische Erfahrung und macht sich wichtiger, als er jemals war.
Geschickt greift Nadeschdin aber auch Themen auf, die kein anderer Politiker anfasst, etwa den Protest der Angehörigen von mobilisierten Soldaten. Während Putin und auch alle anderen Präsidentschaftsbewerber zur Forderung der Rückkehr der Soldaten von der Front schweigen und stattdessen die Sicherheitsorgane die Frauen einzuschüchtern versuchen, stellt sich Nadeschdin ihren Anliegen.
Das Thema bewegt ihn, es zeigt aber auch, auf welch schmalem Grat er geht: Er verurteilt die «Spezialoperation» als schweren Fehler und sagt zugleich, die Mobilisierten erfüllten nur ihre Pflicht gegenüber der Heimat. Auch naheliegende Zusammenhänge, die viele Russen nicht wahrhaben wollen, spricht er offen aus: dass wegen der enormen Rüstungsausgaben das Geld für die Instandhaltung der Infrastruktur fehle und deshalb in diesem Winter so viele mit Stromausfällen und kaputten Heizsystemen zu kämpfen hätten. Putins Militarismus führe Russland in die Katastrophe.
Zulassung ist noch nicht entschieden
Die wenigsten Beobachter rechnen damit, dass Nadeschdin tatsächlich zur Wahl zugelassen wird. Die Prüfung der Unterschriften ist stets eine Hürde voller Willkür. Dass er gewählt würde, ist ohnehin unvorstellbar. Manche vermuten, der Kreml habe der Kandidatur ursprünglich zugestimmt, sei aber inzwischen davon abgerückt. Nadeschdin selbst streitet jegliche Absprache ab. Noch schneller war es für Jekaterina Dunzowa zu Ende gegangen, eine Journalistin aus der Region Twer, die aus dem Nichts ihre Bewerbung lanciert hatte, der aber die Zentrale Wahlkommission nicht einmal das Sammeln von Unterschriften erlaubte.
Nadeschdin ist kein echter Sympathieträger. Er ist auch kein Populist wie Nawalny oder der kommunistische Kandidat von 2018, der Agrarunternehmer Pawel Grudinin. Der liberale politische Kommentator Andrei Kolesnikow nennt ihn ausserordentlich mutig. Was immer aus der Bewerbung wird – Nadeschdin hat unerwartet Kräfte freigesetzt und Menschen mit etwas Zuversicht erfüllt, die selbst den Traum von Veränderungen zum Positiven in Russland schon abgeschrieben hatten.