Der Bund plant höhere Steuern auf dem Kapitalbezug. Schon heute aber zahlen die Rentner dem Fiskus viel Geld. Für ein Ehepaar erreicht die Steuerbelastung im Schnitt fast 20 000 Franken.
Wird der Bezug des Vorsorgevermögens bald mit einer höheren Steuer belastet? Der Bundesrat hat mit diesem Plan in ein Wespennest gestochen. Davon zeugen die emotionalen Kommentare auf News-Seiten: «Geht es ums eigene Volk, so wird dieses ausgepresst wie eine Zitrone», steht da geschrieben. Ein anderer warnt, die geplante Steuererhöhung sei ein «Angriff auf den Mittelstand»: «Passt auf, Schweizer: Wir werden gerade gewaltig über den Tisch gezogen.» Und ein Dritter erklärt, die Dummen seien wie immer diejenigen, die ein Leben lang hart gearbeitet hätten.
Um die Empörungswelle zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Steuerlast der Rentnerinnen und Rentner. Diese ist in weiten Teilen der Schweiz sehr hoch – und zwar bereits für den unteren Mittelstand. Nehmen wir ein Rentnerpaar mit einem Einkommen von 70 000 Franken. In Bern bezahlt dieses eine Einkommenssteuer von 8300 Franken. Weder die Vermögens- noch die Kirchensteuer sind in dieser Summe berücksichtigt.
Die Belastung steigt dann weiter steil an. Bei einem Einkommen von 100 000 Franken muss das Berner Rentnerpaar schon 15 100 Franken an den Fiskus abliefern, und bei 125 000 Franken sind es gar 21 900 Franken. Das summiert sich bei einem Ruhestand von 20 Jahren rasch auf über 400 000 Franken, die für den Staat weggehen.
Dass diese enormen Summen für viele Senioren realistisch sind, verdeutlicht auch die Haushaltsstatistik des Bundes: Demnach bezahlen Rentnerpaare im Durchschnitt 19 000 Franken Steuern pro Jahr, bei den alleinstehenden Pensionären sind es immerhin 10 000 Franken.
«In meinen Beratungen erlebe ich regelmässig, dass die Leute ihre Ausgaben im Ruhestand unterschätzen», erklärt Karl Flubacher vom VZ Vermögenszentrum. «Sie erwarten eigentlich, dass sie nach 65 mit weniger Geld auskommen, und erschrecken dann umso mehr darüber, dass sie meist erheblich mehr Steuern zahlen als budgetiert.» Erschwerend komme hinzu, dass die Renten aus der zweiten Säule deutlich gesunken seien, so Flubacher. «Zusammen mit den teureren Prämien für die Krankenkasse bilden die Steuern einen Fixkostenblock, der auch für den Mittelstand oft schwierig zu stemmen ist.»
Entscheidend sind die Abzüge
Doch weshalb kommen Rentner nicht günstiger weg beim Fiskus, obwohl sie doch viel weniger verdienen als zuvor im Berufsleben? Der Grund liegt im Schweizer Steuersystem, welches stark auf Abzüge ausgerichtet ist. Und diese wiederum hängen direkt von der Erwerbstätigkeit ab. Dazu gehören etwa der Zweitverdienerabzug, die Berufsauslagen oder die Einzahlungen in die Säule 3a.
Die meisten Kantone haben diese Abzüge in den letzten Jahren ausgebaut und erweitert, beispielsweise für die Fremdbetreuung der Kinder. Dies hat zur Folge, dass namentlich Familien steuerlich entlastet wurden, während die Pensionierten vielerorts mehr an den Fiskus abliefern müssen. Ein kostspieliges Ärgernis für zahlreiche Rentner ist zudem der Eigenmietwert von Wohneigentum: Die Banken verlangen von älteren Personen, dass sie ihre Hypothek abzahlen. Damit allerdings schrumpfen auch die Steuerabzüge.
Typisch schweizerisch ist ebenso der Steuerföderalismus: Dieser hat zur Folge, dass Rentner in Bern und der Romandie rund viermal so viel Steuern zahlen wie im Kanton Zug. Im folgenden interaktiven Tool können Sie herausfinden, wie hoch die Belastung in Ihrer Gemeinde konkret ausfällt.
Den Steuerwettbewerb sehe er nicht per se negativ, sagt Flubacher. Doch angesichts der immensen regionalen Unterschiede werde es zur Lotterie, ob man an einem teuren oder einem günstigen Ort lebe: «Gerade im Alter sind die Leute stark mit dem Wohnsitz verankert, viele besitzen dort Wohneigentum. Deshalb zielt das Argument, wonach Pensionäre zur Steueroptimierung umziehen würden, in den meisten Fällen ins Leere.» Dies treffe höchstens auf eine kleine Minderheit von Grossverdienern zu.
Was bedeutet nun die Ankündigung des Bundesrats, dass er Kapitalbezüge aus der Pensionskasse sowie der freiwilligen Vorsorge in der Säule 3a stärker besteuern will? Die Begründung lautet, jene Versicherten, die sich ihr PK-Guthaben auszahlen liessen, würden steuerlich besser wegkommen als die Rentenbezüger. Das «Steuerschlupfloch» habe zu einer starken Zunahme der Kapitalbezüge geführt.
Diese Begründung hält der Vorsorgespezialist Flubacher für irreführend, denn verantwortlich für den Trend seien in erster Linie die gesunkenen Renten. «Früher erhielt man pro 100 000 Franken an gespartem Vermögen eine Rente von 7200 Franken im Jahr. Inzwischen sind es bei vielen Kassen nur noch rund 5000 Franken. Dass eine so deutliche Abnahme das Verhalten der Versicherten beeinflusst, kann niemanden überraschen.»
Die Lebenserwartung macht den Unterschied
Flubacher bestreitet ebenso, dass der Kapitalbezug automatisch zu einer Steueroptimierung führe. «Wer sich dafür entscheidet, nimmt zunächst eine grosse Einbusse in Kauf. Anschliessend muss man viele Jahre warten, bis man gegenüber der Rentenlösung einen Vorteil erzielt. Die meisten sind bis dann weit über 80 Jahre alt.»
Der VZ-Experte illustriert den Zusammenhang anhand eines Kapitalbezugs von 800 000 Franken – also einer grossen Summe, welche gemäss der Lesart des Bundes einen erheblichen Steuervorteil ermöglichen sollte. In Zürich muss ein Alleinstehender dafür eine Kapitalauszahlungssteuer von 79 000 Franken bezahlen. Mit der geplanten Steuererhöhung steigt dieser Betrag auf 93 000 Franken. In den Folgejahren kann der Rentner umgekehrt gut 4000 Franken pro Jahr an Steuern einsparen. Dass dieser Vorteil nicht grösser ausfällt, liegt an der Vermögenssteuer und den Steuern auf dem Kapitalertrag, welche nach dem Kapitalbezug fällig werden.
In diesem Beispiel musste der Rentner bis anhin 83 Jahre alt werden, um durch die Kapitalauszahlung Steuern zu sparen. Künftig müsste er gar bis 85 warten. «Angesichts dieser langen Zeitdauer von einem Steuerschlupfloch zu sprechen, scheint mir übertrieben», betont Flubacher. Zwar erreiche man in einer Hochsteuergemeinde wie Bern den Break-even des Kapitalbezugs bereits etwas früher. «Doch wenn die Steueroptimierung eine so grosse Rolle spielt, dann müssten die Rentner in Bern viel häufiger das Kapital bevorzugen. Tatsächlich aber beobachten wir nicht, dass es systematisch zu grossen regionalen Unterschieden kommt.»
Dass das Steuerargument keine dominante Rolle spielt, belegt auch eine Erhebung des Bundes. Der meistgenannte Grund für den Kapitalbezug ist demnach der Wunsch, eigenständig über das Vorsorgevermögen bestimmen zu können. Auch die eigene Gesundheit hat einen wichtigen Einfluss auf die Entscheidung. Das deckt sich mit den Erfahrungen von Karl Flubacher aus der Praxis. «Mit dem Übertritt in den Ruhestand wollen oder müssen viele Leute ihre Hypothek abzahlen. Dazu verwenden sie häufig einen Teil der Ersparnisse aus der PK.»
Auch die eigene Lebenserwartung sei ein wichtiger Faktor, so Flubacher: «Wer ein hohes Risiko hat, bald zu sterben, neigt eher zu einem Kapitalbezug. Das hat den Vorteil, dass man seine Nachkommen bei einem frühen Tod besser begünstigen kann.» Ob man in diesen Fällen künftig mehr Steuern zu bezahlen hat, muss nun das Parlament entscheiden. Doch selbst wenn der Bundesrat mit seinem Plan scheitern sollte: Das ändert nichts an der Tatsache, dass die meisten Rentner schon heute hohe Steuerrechnungen zu begleichen haben.
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