Hat der Kanton Zürich Grundrechte verletzt? Ein Rechtsprofessor hat da einen Verdacht.
Jeden Montag, wenn das Zürcher Kantonsparlament tagt, nimmt in den Reihen der FDP-Fraktion eine Parlamentarierin Platz, die dort vielleicht nicht sitzen dürfte.
Isabel Garcia wurde im Februar 2023 für die GLP gewählt. Nur wenige Tage später wechselte sie die Partei. Damit löste sie viel Entrüstung aus. Und ein Gerichtsverfahren, das in einem spektakulären Bundesgerichtsentscheid mündete.
Eine bunte Truppe aus einem Jus-Studenten und Politikern von links bis rechts fühlte sich durch Garcias Entscheid nämlich in ihren politischen Rechten verletzt. Grünliberal wählen, wenn freisinnig drinsteckt? Ein Etikettenschwindel, fanden die Kläger.
Sie strengten ein Verfahren vor dem höchsten Gericht des Landes an und wurden dafür zunächst vor allem belächelt. Aussichtslos: Das war angesichts früherer Entscheide das Verdikt von Experten und Politikern. Bis der 22. Mai vergangenen Jahres kam. Vor vollen Zuschauerrängen berieten an jenem Tag fünf Bundesrichter über den Fall. Öffentlich, höchst kontrovers und auf einer imposanten Empore sitzend.
Ein Hauch von Supreme-Court-Stimmung fegte durch die Schweizer Politik – und Isabel Garcia fast von ihrem Parlamentssitz.
Denn entgegen allen Prognosen beschloss eine 3:2-Mehrheit der höchsten Richter: Fasst eine Parlamentarierin schon vor ihrer Wahl den Entschluss, danach die Partei zu wechseln, dann ist das eine schwerwiegende Täuschung, die mit dem Verlust des Mandats einhergehen muss.
Ob das bei Isabel Garcia so war? Das muss nun das Zürcher Verwaltungsgericht entscheiden. Zwei Jahre nach der Bestätigung von Garcias Wahl ist das Verfahren allerdings noch immer nicht abgeschlossen. Sie sitzt noch immer im Parlament – ohne dass Klarheit darüber besteht, ob ihre Wahl gültig war.
Warum dauert das so lange? Und warum erst das Justiz-Theater vor Bundesgericht, wenn nun wieder ein kantonales Gericht die Sache klären soll?
Darauf liefert der Jurist Andreas Glaser in einem jüngst erschienenen Fachartikel eine Antwort – und zwar eine, die für die Zürcher Behörden ziemlich ungemütlich werden könnte.
«Eklatante Verletzung» von Grundrechten
Glaser ist Professor an der Universität Zürich und sitzt im Direktorium des Zentrums für Demokratie in Aarau. Er ist ein ruhiger Mann, der seine Formulierungen präzise wählt. In seiner Analyse des Falls Garcia wird er aber – zumindest für juristische Verhältnisse – ziemlich deutlich.
Glaser schreibt von einer «eklatanten Verletzung» von Grundrechten. Von kantonalen Gesetzesbestimmungen, die «bundesrechtswidrig» seien. Der Kanton Zürich missachte die in der Verfassung festgeschriebene Rechtsweggarantie – das Prinzip also, dass man im Streitfall ein klar bezeichnetes zuständiges Gericht anrufen kann.
«Der Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf einen transparenten Rechtsweg wird im Bereich der politischen Rechte nicht annähernd erfüllt», kritisiert der Professor.
Gegenüber der NZZ erklärt er, was er damit meint. So liegt das Problem in der Art und Weise, wie Wählerinnen und Wähler gegen Entscheide von Wahlbehörden klagen können. «Das Ganze ist komplett unübersichtlich», sagt Glaser. «Wie man korrekt vorgehen muss, ist für Normalbürger nicht ansatzweise erkennbar.»
Zum einen ist laut dem Professor nicht klar genug festgelegt, was genau man in einem Fall wie jenem von Garcia überhaupt anfechten muss: das vom Regierungsrat im Amtsblatt publizierte Wahlergebnis oder die Bestätigung dieses Ergebnisses durch eine Abstimmung im Parlament.
Zum anderen bestehen widersprüchliche Angaben dazu, wo man gegen die Verletzung seiner politischen Rechte klagen kann. Laut dem Bundesgericht und der nationalen Gesetzgebung ist der Fall klar: Es muss – ausser in wenigen Ausnahmen – zuerst ein kantonales Gericht über Stimm- oder Wahlrechtsbeschwerden befinden.
In Zürich kommt dafür einzig das Verwaltungsgericht infrage, das bereits entsprechende Beschwerden aus den Gemeinden behandelt. Im kantonalen Gesetz heisst es aber: Beschwerden an das Verwaltungsgericht sind ausgeschlossen.
Das Resultat: Es ist laut Glaser unklar, was man wo anfechten muss. Tut man es trotzdem, dauert es Monate, bis die Zuständigkeiten geklärt sind. Und: Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass eine Formalie die Beschwerde zu Fall bringt.
Formalismus – mit handfesten Folgen
Genau so wäre es auch im Fall Garcia fast gekommen: Dort wandten sich die Kläger mangels Alternativen direkt ans Bundesgericht. Nur um dort zu erfahren, dass sie den falschen Beschluss am falschen Ort angefochten hatten. Doch weil auch die obersten Richter anerkannten, wie widersprüchlich die Rechtslage in Zürich ist, drückten sie ein Auge zu und liessen die Beschwerde «ausnahmsweise» zu.
Nicht verhindern konnten sie jedoch eine sinnlose – und teure – gerichtliche Extrarunde. Die Bundesrichter befanden nämlich, dass der richtige Weg jener ans Verwaltungsgericht gewesen wäre. Der Weg also, der im kantonalen Gesetz explizit ausgeschlossen ist.
Deshalb entschieden die Bundesrichter den Fall nicht selbst, sondern reichten ihn zurück nach Zürich. Deshalb bleibt er auch zwei Jahre nach der Wahl ungeklärt.
Was nach juristischem Formalismus tönt, hat also handfeste Folgen für die Politik eines Kantonsparlaments, in dem die Mehrheiten oftmals knapp sind. «Isabel Garcia wird ihr Mandat wohl die ganzen vier Jahre lang ausüben können, ohne dass der Fall geklärt wird», sagt Glaser. «Und zwar, weil der Rechtsweg so unklar und damit langwierig ist.»
Verzögerte Verfahren, juristischer Leerlauf und Passagen im kantonalen Gesetz, die dort so gar nicht stehen dürften: Dieses «Chaos», wie Glaser es nennt, führe dazu, dass die Stimmbürger ihre Rechte nur mit grossem Aufwand wahrnehmen könnten. Und auch dann seien sie darauf angewiesen, dass ein Gericht gnädig über die unweigerlichen Formfehler hinwegschaue.
Das Problem betreffe zudem nicht nur Beschwerden gegen die Wahl von Parlamentarierinnen wie Garcia, sondern sämtliche Stimm- und Wahlrechtsbeschwerden. Also auch solche gegen die Organisation von Urnengängen, Wahlempfehlungen durch amtierende Magistraten oder Inhalte von Abstimmungsunterlagen.
Ein Fehler im juristischen Räderwerk der Demokratie also, der nun dank dem Fall Garcia erstmals spürbare Folgen hat. Folgen, die laut Glaser vermeidbar gewesen wären. «Das Problem ist schon lange bekannt, schon 2008 hat das Bundesgericht in einem Urteil auf die Widersprüche und Unklarheiten hingewiesen. Doch passiert ist nichts.»
Angesichts dessen könne man sich schon fragen, ob das Ganze noch ein Versehen sei. Die siebzehn Jahre dauernde Untätigkeit nähre jedenfalls den Verdacht, «dass der kantonalen Politik diese rechtliche Unklarheit ganz recht ist, weil sie sich so gegen zu viel Kontrolle absichern kann».
Eine unmögliche Aufgabe
Auf Anfrage der NZZ will sich der Kanton nicht inhaltlich zu Glasers Kritik äussern. Der Regierungssprecher Andreas Melchior verweist auf das Kantonsparlament; dieses sei für eine allfällige Gesetzesänderung zuständig. Eine solche ist gemäss der Geschäftsliste des Parlaments jedoch keine geplant.
Kurz: Niemand scheint die Absicht zu haben, etwas am juristischen Chaos zu ändern. Alles bleibt beim Alten.
Wie es im Verfahren gegen Garcias Wahl weitergeht, ist derweil ebenfalls völlig offen. Wie das Verwaltungsgericht der NZZ schreibt, ist die Untersuchung nämlich schon wieder blockiert. Und zwar, weil die Richter Einsicht in das Protokoll einer Geschäftsleitungssitzung des Kantonsparlaments nehmen wollten – wogegen sich das Parlament prompt wehrte. Mit einer weiteren Beschwerde vor Bundesgericht.
Selbst wenn diese dereinst behandelt und das Zürcher Verfahren wiederaufgenommen wird, stehen die Verwaltungsrichter vor einer fast unmöglichen Aufgabe: Sie müssen herausfinden, ob Isabel Garcia schon vor ihrer Wahl die Absicht hatte, die Partei zu wechseln. Etwas, das kaum zu eruieren und leicht zu verbergen sei, kritisiert der Rechtsprofessor Glaser. «Das Bundesgericht hat hier eine Regel kreiert, die schlicht nicht praxistauglich ist.»
Und sogar wenn der Beweis gelänge, könnte Garcia das Urteil des Verwaltungsgerichts immer noch ein zweites Mal ans Bundesgericht weiterziehen, für die nächste juristische Extrarunde.
Bis dahin bleibt im Zürcher Kantonsparlament alles beim Alten. Isabel Garcia bleibt im Amt – eine FDP-Parlamentarierin, von der niemand weiss, ob sie eine sein darf. Niemand ausser sie selbst.