Der Angeklagte Luis Rubiales bleibt bei seinen abstrusen Rechtfertigungen für den Kuss auf den Mund der Kickerin Jenni Hermoso. Schon vor dem Urteil steht fest: Rubiales ist sich keinerlei Schuld bewusst.
Der sechste Prozesstag an Spaniens Nationalem Gerichtshof begann am Dienstag ungewohnt: Ein taubstummer Lippenleser wurde als Sachverständiger vernommen. Und der zeigte sich via seine Übersetzerin «ohne jeden Zweifel» davon überzeugt, dass Luis Rubiales vor seinem berüchtigten Kuss die spanische Fussball-Nationalspielerin Jenni Hermoso um Einverständnis gefragt habe: «Darf ich dir ein ‹besito› geben?» Das seien Rubiales’ Worte gewesen.
Dem früheren Funktionär drohen zweieinhalb Jahre Haft
Die Frage der Zustimmung steht im Zentrum des Verfahrens, in dem sich Rubiales für sein Gebaren am 20. August 2023 verantworten muss. Wird das Gericht das Vorliegen eines Einverständnisses verneinen, könnte der damalige Präsident des spanischen Fussballverbandes auf dem Siegerpodest nach dem WM-Final eine sexuelle Aggression begangen haben. Und sich im Nachgang der Nötigung schuldig gemacht haben. Die Anklage fordert zweieinhalb Jahre Haft. Für den Dienstag war die Aussage von Rubiales anberaumt.
Doch fürs Erste nahm die Staatsanwältin routiniert den Lippenleser auseinander – den «Sachverständigen», wie sie selbst mit der Fingerbewegung von Anführungszeichen ironisierte. Ihr Verhör förderte zutage, dass er aus der gleichen Gegend wie Rubiales stammt, keine offizielle Zertifizierung für seine Tätigkeit besitzt, im August 2023 eiligst von einem Vertrauten Rubiales’ beauftragt wurde und nur das Material prüfte, das ihm dieser zur Verfügung gestellt hatte. Hermoso ist auf diesem Video nur mit dem Rücken zu sehen. Was sie erwidert habe? Das habe er nicht untersucht, musste der Lippenleser zugeben.
Dann, um 12 Uhr mittags, wurde Rubiales in den Zeugenstand gerufen. Er erhob sich von der Anklagebank, knöpfte dabei sein Jackett zu, ging in die Mitte des Saales, setzte sich und knöpfte das Jackett wieder auf. Der 47-Jährige hat es im Zuge der weltweit beachteten Affäre zu ebenso ungewöhnlichem wie unfreiwilligem Ruhm gebracht. Ursprünglich war er nicht nur Fussballprofi, sondern auch studierter Anwalt. Sein Sendungsbewusstsein ist denn auch notorisch. Schon bald musste ihn der Richter darauf hinweisen, dass er eine Verteidigerin habe – nur allzu gerne hätte Rubiales jede Frage zum Plädoyer in eigener Sache genutzt.
Im Wesentlichen beharrte er auf der Version, die er bereits 2023 in seiner berüchtigten Rede fünf Tage nach dem Kuss dargelegt hatte. Damals verortete er – entgegen aller Evidenz der Bilder von jenem Finaltag in Sydney – die Initiative für den Zwischenfall bei Hermoso und gab einem «falschen Feminismus» die Schuld für den ganzen Aufruhr. Auch unter Eid vor Gericht sagte er nun über die inkriminierte Szene: «Sie drückte mich fest an sich und hob mich in die Luft. Ich fragte sie, ob ich ihr ein Küsschen geben dürfe. Sie sagte: ‹Okay.› Nichts anderes ist passiert.»
Auf Nachfrage beharrt Rubiales darauf, dass er sich «absolut sicher» sei, dass Hermoso ihre Zustimmung gegeben habe. Das Ganze sei letztlich nur «wie eine Umarmung» gewesen. Sicher, er habe auf dem Siegerpodest die Grenzen seiner Funktionärsrolle überschritten: «Ich bin ins Fettnäpfchen getreten.» Er habe sich in der Euphorie über Spaniens Titelgewinn «wie ein Spieler verhalten».
Doch einen solchen Kuss auf den Mund, den habe er in ähnlichen Situationen des Jubelns auch schon Männern gegeben, etwa als Fussballprofi nach einem Tor seines Klubs UD Levante in Real Madrids Bernabéu-Stadion. Unbotmässiges Verhalten eines Vorgesetzten? Chef sei er nur für Verbandsmitarbeiter, nicht für Spielerinnen. Ein sexuelles Motiv? «Bei Gott, ich bitte Sie!»
Emotional-manipulative Botschaften sind Rubiales’ Spezialität
Doch die Staatsanwältin und der Vertreter der Nebenklägerin Hermoso mussten nicht gebeten werden: Bisweilen gelang es ihnen, Rubiales in Widersprüche zu verwickeln. Als er behauptete, er sei sich schon direkt nach dem Vorfall über seinen Irrtum bewusst geworden und habe sich ja auch dafür entschuldigt, wiesen sie ihm nach, dass er eben das nicht getan hatte.
In einem Radiointerview kanzelte er Kritiker vielmehr als «Idioten» ab. Rubiales hatte dafür eine typische Rubiales-Erklärung parat: Er sei in jenem Moment davon eingenommen gewesen, dass der Vater der Siegtorschützin Olga Carmona verstorben sei – und die Spielerin es noch gar nicht gewusst habe.
Emotional-manipulative Botschaften können als Spezialität des Angeklagten gelten. Die tragische Nachricht jenes Tages führte Rubiales während seiner Aussage öfter an. Sie habe ihn in den Stunden nach dem Kuss viel mehr beschäftigt als die schnell wachsende Empörung. Dieser sei er sich erst gewahr geworden, nachdem er im Flugzeug auf der Rückreise einige Stunden geschlafen habe und ihn seine Töchter über die «mediale Krise» informiert hätten.
Warum der Verband dann schon viel früher – noch während der Fahrt zum Flughafen nämlich – ein Communiqué aufsetzen liess, das Hermoso entlastende Worte in den Mund legte? «Das war meine Idee», räumte Rubiales zwar ein. Doch an der Formulierung dieser Mitteilung habe er nicht mitgewirkt, seine Gedanken seien ja bei Carmona und ihrem toten Vater gewesen sowie bei der Tochter des Nationaltrainers Jorge Vilda. Wegen einer Erkrankung sei nicht klar gewesen, ob sie mit zurückfliegen könne.
Trotz dieser Sorge soll Rubiales auf dem Rückflug denselben Vilda dazu angestiftet haben, bei Hermosos Bruder für ein öffentliches Statement seiner Schwester zu antichambrieren. So haben es Zeugen wie der Verbandsdirektor der Frauenabteilung vor Gericht bestätigt – auch darauf stützt die Staatsanwaltschaft nun den Nötigungsvorwurf.
Rubiales freilich bestritt, Vilda losgeschickt zu haben. Der frühere spanische Nationalcoach wird am Mittwoch aussagen, er ist mitangeklagt, wie auch die damaligen Führungskräfte Albert Luque (Sportdirektor der Männer) und Rubén Rivera (Marketingdirektor), die Hermoso in den folgenden Tagen bedrängt haben sollen. Aus selbständigem Gehorsam? Rubiales verneinte auch in ihren Fällen jeden Auftrag zur Einflussnahme.
Das Urteil wird in den nächsten vier Wochen erwartet. Doch schon jetzt scheint klar, dass es eines auch in diesem Prozess nicht geben wird: eine persönliche Bitte um Entschuldigung von Rubiales an Hermoso. Warum hätte er das tun sollen, fragte der frühere Funktionär. Sie sei doch mit allem einverstanden gewesen.