Bisher wurden die Anlagen in der Türkei als die ältesten Tempel der Menschheit gedeutet – entstanden im Übergang zur sesshaften Landwirtschaft. Neue Funde stellten alte Theorien infrage, sagt der Grabungsleiter Lee Clare.
Vor 11 000 Jahren fand im östlichen Mittelmeerraum ein fundamentaler Wandel statt: Aus den nomadischen Jägern und Sammlern der Mittelsteinzeit wurden die sesshaften Bauern der Jungsteinzeit, des Neolithikums. In dieser Zeit des Übergangs errichteten die Menschen an einem Ort in der heutigen Südosttürkei mehrere kreisförmige Anlagen mit bis zu 30 Metern Durchmesser, in denen T-förmige Stelen mit Tierdarstellungen stehen. Göbekli Tepe, zu Deutsch «bauchiger Hügel», heisst dieser Ort unweit der Stadt Sanliurfa, und er gilt als älteste Monumentalanlage der Welt. Welchen Zweck diese hatte, ist aber auch sechzig Jahre nach ihrer Entdeckung und nach fast dreissig Jahren Ausgrabung nicht endgültig geklärt. Lee Clare leitet seit 2015 die Forschungen des Deutschen Archäologischen Instituts in Göbekli Tepe – und hat eine neue Theorie.
Herr Clare, bislang ging man davon aus, dass die Steinkreise in Göbekli Tepe ausschliesslich kultischen Zwecken dienten. Ihr Vorgänger, Klaus Schmidt, hat sie die ersten «Tempel» der Menschheit genannt. Bei den neuesten Ausgrabungen wurden jedoch Wohngebäude gefunden. Wie wurden diese Häuser entdeckt? Und wie sehen sie aus?
Im Rahmen der Verankerung neuer Schutzdächer haben wir bei Erkundungen in grosser Tiefe Mauerreste aus den frühesten Schichten gefunden. Wir haben sie auf die Zeit ab der zweiten Hälfte des 10. Jahrtausends vor Christus datiert. Das sind für diese Periode typische Rundbauten von zwei bis drei Metern Durchmesser.
Woher weiss man, dass das Wohngebäude waren?
Wir haben dort Feuerstellen und Abfallgruben entdeckt, was auf häusliches Leben hinweist. Zudem konnten wir auch die freigelegten Rechteckbauten aus dem frühen 9. Jahrtausend, die zuvor dem Kultbereich zugeordnet wurden, als Wohngebäude identifizieren. In ihnen wurden unter anderem Mahlsteine für Wildgetreide gefunden sowie Werkzeuge aus Feuerstein, das typische Wohninventar der damaligen Zeit. Unter diesen Häusern haben wir auch Bestattungen entdeckt.
Dass Tote unter Wohnhäusern begraben wurden, war zu dieser Zeit und in dieser Region üblich. Was kann man über die Gräber und die Menschen darin sagen?
Wir haben zwei Gräber mit vier Skeletten gefunden. In einem Grab war nur eine Person bestattet. In dem anderen Grab lagen die sterblichen Überreste von drei Menschen. Dabei konnten wir zwei Skelette als weiblich identifizieren. Das Geschlecht der beiden anderen ist unbekannt. Ich hoffe, dass wir in Zukunft unter den Wohnbauten noch mehr Bestattungen mit gut erhaltenen Knochen finden.
Angesichts dieser neuen Funde: Ist Göbekli Tepe am Ende nur eine typische Siedlung aus der Zeit, als die Menschen sesshafte Bauern wurden – nur eben mit ein paar Monumentalbauten?
So kann man das nicht sagen. Wir wissen noch nicht, ob in den Anfangszeiten Menschen dauerhaft dort gelebt haben. Was wir aber wissen, ist, dass die Sesshaftigkeit im Laufe der 1500 Jahre Belegungsdauer der Siedlung zugenommen hat. Ausserdem haben wir bisher auch keine Belege für domestizierte Tiere und Pflanzen gefunden. Den Übergang zur bäuerlichen Lebensweise hatten die Bewohner offenbar noch nicht vollzogen.
Klaus Schmidt sah in Göbekli Tepe nicht nur einen Tempel, sondern den Grund für einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel. Die Menschen in der Region seien sesshaft geworden und hätten mit Ackerbau und Viehzucht begonnen, um diejenigen mit Nahrung versorgen zu können, die die Anlage in Göbekli Tepe errichtet hätten. Ist denn diese These angesichts der neuen Befunde noch haltbar?
Vieles, was wir vorher gewusst oder geglaubt haben, müssen wir jetzt überarbeiten. Generell sollten wir uns von dem Gedanken verabschieden, dass es den Steinzeitmenschen hauptsächlich um das Überleben ging. Es gab in Göbekli Tepe keinen Versorgungsengpass, im Gegenteil. Die Landschaft war damals feuchter als heute. Es hat mehr geregnet, es gab Grasland, Wälder und Flüsse. Dadurch hatten die Wildbeuter Nahrung im Überfluss. Ein zusätzlicher Anbau von Getreide oder die Domestizierung von Tieren waren für den Bau überhaupt nicht nötig. Daher ist auch die These, dass die Neolithisierung von Göbekli Tepe ausging, falsch.
Was hat die Menschen dann dazu veranlasst, sesshafte Bauern zu werden?
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass das keine einheitliche Entwicklung war. Ich habe mir alle Radiokarbondaten der Siedlungen in der Region aus der Zeit der Errichtung von Göbekli Tepe, dem allerfrühesten Neolithikum, angeschaut. Dabei gab es zur selben Zeit Dörfer, in denen schon Tiere domestiziert wurden, und andere, wo das nicht der Fall war. Die Frage ist, warum?
Wie erklären Sie sich das?
Ich glaube, dass das so gewollt war. Mit der Sesshaftigkeit ging auch eine Zunahme der Bevölkerung einher und damit auch ein steigender Bedarf an Ressourcen. Damit stellte sich die Frage: Wer hat Zugang zu den Ressourcen und wer nicht? Wahrscheinlich haben sich zum ersten Mal soziale Hierarchien gebildet. Das hat sicher auch zu Konflikten geführt. Es gab Siedlungen, wo die Menschen sich gegen die Einführung von Ackerbau und Viehzucht entschieden und ihre gewohnte Lebensweise beibehalten wollten. Ich denke, zu diesen Siedlungen hat auch Göbekli Tepe gehört. Dabei spielten die Monumentalbauten eine wichtige Rolle. Die Reliefs auf den Stelen sollten an die uralten Mythen der Jäger und Sammler erinnern und so die Gruppe gegen die Neuerungen immunisieren. Im Moment ist das allerdings lediglich eine Arbeitshypothese, die ich noch ausarbeiten muss.
Eine der Annahmen über Göbekli Tepe war, dass die Jäger-Sammler-Gruppen der Region dort rauschende Feste feierten, die die Belohnung für ihre Mitarbeit am Bau des Monuments waren. Als Beweis dienten Unmengen an Tierknochen, die man in den T-Pfeiler-Anlagen fand. Auch diese These wird durch neue Forschungsergebnisse infrage gestellt.
Bislang ging man davon aus, dass die Steinkreise von ihren Nutzern rituell beerdigt wurden. Man nahm an, dass die Tierknochen bei diesem Anlass mitbestattet wurden. Wir haben nun die Radiokarbondaten der organischen Überreste in den Kreisanlagen analysiert. Dabei zeigte sich, dass sie aus ganz unterschiedlichen Zeiten stammen. Das lässt sich schwer damit vereinbaren, dass die Steinkreise in einmaligen rituellen Akten mit Erde bedeckt worden sein sollen. Wir gehen jetzt davon aus, dass Erdbeben, kombiniert mit Starkregen, dazu führten, dass die höher gelegenen Wohnbauten an den Hängen herunterrutschten. Dadurch wurden die T-Pfeiler-Kreise bedeckt. Dabei sind wahrscheinlich Knochenreste aus Abfallgruben mit hineingerutscht.
Also keine Feste? Was ist mit den Hinweisen auf Bierkonsum, die ebenfalls entdeckt wurden? Müssen wir uns auch von der Idee verabschieden, dass in Göbekli Tepe die ersten Biergelage der Menschheit stattfanden?
Nein, Bier könnte durchaus bei den Versammlungen auf dem «bauchigen Hügel» eine Rolle gespielt haben. Im Gegensatz zu den Tierknochen wurde es in fest im Boden verankerten Bottichen gelagert. Darauf deuten jedenfalls Laborproben hin.
Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Erwarten Sie, dass noch weitere Wohngebäude gefunden werden?
Davon bin ich überzeugt. Bisher haben wir nur einen Bruchteil des Platzes ausgegraben. Generell gilt: Egal, wo man auf dem Gelände ein Loch gräbt, meistens kommt etwas Tolles dabei raus.