Deutschland droht junge Menschen zu verlieren, weil das «Preis-Leistungs-Verhältnis» des Standorts nicht mehr stimmt und Dynamik fehlt. Eine Studie schlägt Massnahmen zum wirtschaftspolitischen Gegensteuern vor.
Ohne Gegensteuern läuft Deutschland zunehmend Gefahr, junge Leistungsträger durch Abwanderung ins Ausland oder «innere Emigration» zu verlieren. Das legt eine am Dienstag veröffentlichte repräsentative Online-Umfrage nahe, die das Meinungsforschungsinstitut Insa im Auftrag des Verbands «Die Familienunternehmer» im Dezember bei 1000 Bürgern im Alter zwischen 18 und 25 Jahren durchgeführt hat.
Aufstiegsversprechen wackelt
Gemäss der Umfrage hegt etwa die Hälfte der Befragten Unbehagen am Standort Deutschland. So empfanden 55 Prozent der Teilnehmer die Aussage als «absolut» oder «eher» zutreffend, dass der Generationenvertrag, nach welchem die Jüngeren die Renten der Älteren erwirtschaften, inzwischen zuungunsten der jungen Generation gehe. Auch am Aufstiegsversprechen zweifeln die Jungen: Weniger als die Hälfte der Befragten gab sich davon überzeugt, dass sie es durch Fleiss und Arbeit in Deutschland einmal besser haben würden als ihre Eltern.
Eine relative Mehrheit von 46 Prozent der Befragten hat schon einmal in Erwägung gezogen, Deutschland aus wirtschaftlichen Gründen zu verlassen (17 Prozent «absolut», 29 Prozent «eher»). 54 Prozent der Befragten können sich vorstellen, eine berufliche Zukunft im Ausland aufzubauen. Die meistgenannten Gründe dafür sind geringere Steuern und Abgaben, Lebenshaltungskosten und finanzielle Aufstiegschancen.
Nur 11 Prozent der Teilnehmer stimmten der Aussage «absolut» zu, dass die deutsche Politik die wirtschaftlichen Interessen ihrer Generation fair berücksichtige. Weitere 23 Prozent stimmten «eher» zu, 56 Prozent hielten die Aussage für nicht zutreffend.
Aus- contra Einwanderung
In einem parallel veröffentlichten Gutachten zum Thema, ebenfalls im Auftrag der Familienunternehmer, wirbt der liberale Ökonom Stefan Kolev (Ludwig-Erhard-Forum) unter dem Titel «Wohlstand für Junge» für einen ordnungspolitischen Neustart.
Kolev betont den Zusammenhang von Aus- und Einwanderung. Oft heisse es, dass Deutschland 400 000 Einwanderer pro Jahr für den Arbeitsmarkt benötige, um das demografische Defizit und die Schrumpfung der erwerbstätigen Bevölkerung auszugleichen. Diese Zahl meine aber die Nettozuwanderung. 2021 habe man sie ungefähr erreicht, da 1,4 Millionen Menschen zu- und 1 Million ausgewandert seien. Würden weniger Menschen Deutschland verlassen, brauche man weniger Bruttozuwanderung. Das sei deshalb wesentlich, weil jeder brutto Zugewanderte von der Gesellschaft integriert werden müsse.
Das Gutachten zitiert Daten des Statistischen Bundesamts, wonach sich die Zahl der auswandernden deutschen Staatsbürger von 148 000 im Jahr 2014 auf 265 000 im Jahr 2023 fast verdoppelt hat. Höher, aber weniger stark gestiegen ist die Anzahl der Deutschland verlassenden Ausländer. Dass zudem die Nettozuwanderung aus Polen, Rumänien und Bulgarien in den letzten Jahren deutlich geschrumpft ist, zeigt laut Kolev, dass die relative Attraktivität Deutschlands für Migranten im Vergleich zu diesen drei Herkunftsländern deutlich nachgelassen habe.
Trabi zum Daimler-Preis
Die junge Generation steht laut Kolev unter erheblichem Druck. Die Pandemie habe bei ihr Zweifel geweckt, ob die politische Mitte immer in ihrem Sinne denke und handle, und die wirtschaftlichen Perspektiven hätten sich in den letzten drei Jahren massiv verdüstert. Bei mobilen Menschen steigere das die Wahrscheinlichkeit, eine berufliche Zukunft im Ausland zu suchen. Weniger Mobile könne man durch «innere Emigration», durch Resignation, Radikalisierung und den Rückzug aus der aktiven Teilhabe an Wirtschaft und Gesellschaft verlieren.
Als Hauptursachen für diese Entwicklung nennt das Gutachten zum einen das erodierte Vertrauen in die staatliche Ordnung und deren Preis-Leistungs-Verhältnis, zum anderen die mangelnde wirtschaftliche Dynamik. Junge Menschen empfänden die Kosten des Standorts als zu hoch und die Aufstiegschancen als zu gering. Ersteres illustrierte Kolev vor Journalisten mit einer Metapher: In Deutschland bezahle man für das Gesundheitswesen den Preis eines Daimlers, bekomme aber die Leistung eines Trabis. Als Stichwort nannte er endloses Warten von gesetzlich Versicherten auf einen Facharzt-Termin.
Will die Politik die Abwanderung junger Menschen reduzieren, muss sie folgerichtig das Verhältnis zwischen dem Preis in Form von Steuern, Abgaben und Bürokratiekosten und den staatlichen Leistungen wie Bildung und Infrastruktur verbessern, und sie muss die Wirtschaft dynamisieren.
Für beides nennt Kolev eine Vielzahl konkreter Empfehlungen, darunter zum Beispiel die Senkung direkter Steuern vor allem im «Mittelstandsbauch», steuerliche Anreize für Menschen, die freiwillig über das Rentenalter hinaus arbeiten, und die Ergänzung des Umlageverfahrens bei der Rente durch Elemente der Kapitaldeckung über die Börse. Im Kern ist es eine langfristige, angebotsorientierte Agenda mit dem Schwergewicht auf Arbeit, Kapital und Innovation.
Ruf nach «Ruck-Rede»
«Wohlstand für Junge» bedeute kein Ausspielen von Jung gegen Alt, das ist Kolev wichtig: Ältere Mitbürger hätten ein existenzielles Interesse daran, dass die Jungen nicht auswandern würden. Denn sonst verliere das umlagefinanzierte Rentensystem Beitragszahler und jede Aussicht auf Rentenerhöhungen. Zudem würden viele Ältere nicht in einem Land leben wollen, aus dem ihre Kinder und Enkel verschwänden.
Dem nächsten Bundeskanzler empfiehlt Kolev eine «Ruck-Rede», wie sie der damalige Bundespräsident Roman Herzog 1997 gehalten habe und die genial gewesen sei. Er dürfe diese nicht nur über Zeitungen und den öffentlichen Rundfunk verbreiten, sondern müsse über soziale Netzwerke auch die Jungen erreichen.
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